Verwaltungsrecht

Entziehung der Fahrerlaubnis, Fahreignungs-Bewertungssystem, Beseitigung der Rechtskraft eines Bußgeldbescheids durch Wiederaufnahmeanordnung und Freispruch im Ordnungswidrigkeitenverfahren, Folgen für die an den Bußgeldbescheid anknüpfenden Maßnahmen nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem, Offene Erfolgsaussichten (Reine) Interessenabwägung

Aktenzeichen  11 CS 21.1527

Datum:
29.7.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 25938
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 7
StVG § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 3, S. 4, 29 Abs. 3 Nr. 1
StPO § 370 Abs. 2

 

Leitsatz

Verfahrensgang

AN 10 S 21.448 2021-04-28 Bes VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Unter Abänderung der Nummer 1 des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 13. August 2020 (AN 10 S 20.1283) und der Nummer 1 des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 9. Dezember 2020 (11 CS 20.2039) sowie unter Aufhebung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 28. April 2021 (AN 10 S 21.448) wird die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Nummern 1 und 2 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 3. Juni 2020 angeordnet bzw. wiederhergestellt. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Änderungsverfahrens sowie des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich im Rahmen eines Verfahrens nach § 80 Abs. 7 VwGO gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem.
Aufgrund einer Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamts vom 6. August 2019, wonach der Antragsteller durch mehrere Ordnungswidrigkeiten insgesamt fünf Punkte nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem erreicht habe, ermahnte ihn die Antragsgegnerin mit Schreiben vom selben Tage. Der Ermahnung lag u.a. eine Geschwindigkeitsüberschreitung am 13. Mai 2019 zugrunde, die mit rechtskräftigem Bußgeldbescheid des Zweckverbands kommunale Verkehrsüberwachung im Großraum Nürnberg vom 4. Juli 2019 geahndet und mit zwei Punkten bewertet worden war.
Mit Schreiben vom 24. September 2019 verwarnte die Antragsgegnerin den Antragsteller unter Verweis auf einen Stand von sechs Punkten.
Mit Bescheid vom 3. Juni 2020 entzog die Antragsgegnerin dem Antragsteller wegen Erreichens von acht Punkten (bei einem Stand von neun Punkten) die Fahrerlaubnis und verpflichtete ihn unter Anordnung des Sofortvollzugs zur Ablieferung des Führerscheins.
Am 6. Juli 2020 ließ der Antragsteller beim Verwaltungsgericht Ansbach Klage (Az. AN 10 K 20.1284) gegen den Bescheid erheben, über die das Gericht noch nicht entschieden hat.
Zugleich stellte er einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis und auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Verpflichtung zur Ablieferung des Führerscheins. Der Bußgeldbescheid vom 4. Juli 2019 sei evident unrichtig und entfalte damit keine Bindungswirkung für die Antragsgegnerin, denn Führer des Pkw sei damals der Bruder des Antragstellers gewesen. Mit Beschluss vom 13. August 2020 lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag ab. Die dagegen erhobene Beschwerde wies der Bayerische Verwaltungsgerichtshof am 9. Dezember 2020 zurück (11 CS 20.2039).
Am 15. März 2021 beantragte der Antragsteller beim Verwaltungsgericht, den Beschluss vom 13. August 2020 abzuändern, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen bzw. wiederherzustellen und der Antragsgegnerin aufzugeben, den abgegebenen Führerschein unverzüglich wieder an den Antragsteller zurückzugeben oder ihm für den Fall der Unbrauchbarmachung eine neue Ausfertigung kostenfrei zuzustellen. Das Amtsgericht Fürth habe mit Beschluss vom 17. Dezember 2020 die Wiederaufnahme des durch den Bußgeldbescheid des Zweckverbands kommunale Verkehrsüberwachung im Großraum Nürnberg vom 4. Juli 2019 abgeschlossenen Verfahrens angeordnet und den Antragsteller freigesprochen.
Mit Beschluss vom 28. April 2021 lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag ab. Ob die Aufhebung eines Bußgeldbescheids im Wiederaufnahmeverfahren Auswirkungen auf die daran anknüpfenden Entscheidungen der Fahrerlaubnisbehörde einschließlich der Fahrerlaubnisentziehung habe, sei bislang nicht hinreichend geklärt und müsse der Entscheidung im Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Die danach gebotene, von den Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs losgelöste Interessenabwägung falle zu Ungunsten des Antragstellers aus. Dieser erreiche auch aktuell einen Stand von acht Punkten nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem, weil gegen ihn am 26. Juni 2020 ein weiterer rechtskräftiger Bußgeldbescheid wegen Überschreitung des Termins zur Hauptuntersuchung am 30. Mai 2020 (bewertet mit einem Punkt) erlassen worden sei.
Zur Begründung der dagegen erhobenen Beschwerde lässt der Antragsteller vortragen, mit der Wiederaufnahmeanordnung und dem Freispruch des Antragstellers sei die Rechtskraft des Bußgeldbescheids vom 4. Juli 2019 rückwirkend beseitigt worden. Damit sei der Antragsteller so zu behandeln, als seien ihm die beiden Punkte aus der Tat vom 13. Mai 2019 nie zur Last gefallen. Er habe demnach zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entziehung der Fahrerlaubnis keine acht Punkte erreicht. Weitere Ordnungswidrigkeiten, die nach diesem Zeitpunkt rechtskräftig geahndet und mit Punkten bewertet worden seien, hätten insoweit außer Betracht zu bleiben. Im Übrigen schlage der Fehler bereits auf die Stufe der Ermahnung durch, bei der die Tat vom 13. Mai 2019 verwertet worden sei. Der Bußgeldbescheid vom 26. Juni 2020, den die Antragsgegnerin dem Antragsteller nunmehr vorhalte, sei nichtig.
Die Antragsgegnerin tritt der Beschwerde entgegen. Das erfolgreiche Wiederaufnahmeverfahren führe dazu, dass die Tat vom 13. Mai 2019 gemäß § 29 Abs. 3 Nr. 1 StVG getilgt und nach § 29 Abs. 6 StVG gelöscht worden sei. Ein Verwertungsverbot nach § 29 Abs. 7 StVG folge daraus aber nur für die Zukunft. Wegen des Tattagprinzips komme es darauf an, ob die Eintragung bereits zu diesem Zeitpunkt getilgt oder jedenfalls tilgungsreif gewesen sei. Dies werde durch § 4 Abs. 5 Satz 7 StVG bestätigt. Eine abweichende Regelung zu § 4 Abs. 5 Satz 7 StVG habe das Gesetz auch für den Fall der erfolgreichen Wiederaufnahme nicht getroffen, obwohl es diese in § 29 Abs. 3 Nr. 1 StVG bedacht habe. Dies zeige, dass der Gesetzgeber insoweit dem Aspekt der Rechtssicherheit Vorrang eingeräumt habe. Darin liege auch ein wesentlicher Unterschied zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, so dass die dazu ergangene Rechtsprechung auf die Wiederaufnahme nicht übertragen werden könne. Im Übrigen wäre, sollte es auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ankommen, auch die weitere Tat vom 30. Mai 2020 einzubeziehen und erreichte der Antragsteller damit insgesamt acht Punkten.
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
Die Beschwerde ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO) ergibt sich, dass dem Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes hinsichtlich der Entziehung der Fahrerlaubnis sowie der Verpflichtung zur Ablieferung des Führerscheins zu entsprechen ist. In der Wiederaufnahme des durch rechtskräftigen Bußgeldbescheid vom 4. Juli 2019 abgeschlossenen Ordnungswidrigkeitenverfahrens und dem Freispruch unter Aufhebung dieses Bußgeldbescheids liegt ein Umstand, der eine Änderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 13. August 2020 gemäß § 80 Abs. 7 VwGO rechtfertigt. Die Erfolgsaussichten der anhängigen Klage gegen die vorgenannten Verfügungen sind nunmehr als offen anzusehen. Die somit gebotene reine Interessenabwägung fällt zu Gunsten des Antragstellers aus. Soweit das Verwaltungsgericht es abgelehnt hat, der Antragsgegnerin aufzugeben, den abgegebenen Führerschein unverzüglich wieder an den Antragsteller zurückzugeben oder ihm für den Fall der Unbrauchbarmachung eine neue Ausfertigung kostenfrei zuzustellen, bleibt die Beschwerde hingegen ohne Erfolg.
1. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass die Frage, ob eine zeitlich nach einer Fahrerlaubnisentziehung gemäß dem Fahreignungs-Bewertungssystem erfolgte Wiederaufnahmeanordnung und ein Freispruch in einem Bußgeldverfahren, an das die Fahrerlaubnisbehörde anknüpft, auf den nicht bestandskräftigen Bescheid durchschlagen und in einer dagegen anhängigen Klage zu berücksichtigen sind, bislang nicht hinreichend geklärt erscheint und dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben muss.
a) Eine ausdrückliche Regelung dazu findet sich weder in § 4 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. März 2003 (BGBl I S. 310, 919), vor Erlass des Bescheids vom 3. Juni 2020 zuletzt geändert durch das zum Teil zum 1. Juni 2020 in Kraft getretene Gesetz vom 5. Dezember 2019 (BGBl I S. 2008), noch in § 29 Abs. 3 Nr. 1 StVG, der allein registerrechtliche Folgen der Aufhebung eines Bußgeldbescheids im Wiederaufnahmeverfahren regeln dürfte.
b) Nach strafrechtlichem Verständnis bewirkt die rechtskräftige Wiederaufnahmeanordnung – hier nach § 85 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 370 Abs. 2 StPO – die Zurückversetzung des Verfahrens in den Zustand der Rechtshängigkeit (vgl. Schmidt in Karlsruher Kommentar zur StPO, 8. Aufl. 2019, § 370 Rn. 13). Unterschiedlich beurteilt wird zwar, ob bereits die rechtskräftige Wiederaufnahmeanordnung Rückwirkung entfaltet (vgl. Engländer/Zimmermann, Münchner Kommentar zur StPO, 1. Aufl. 2019, § 370 Rn. 24). Dass ein rechtskräftiger Freispruch im Wiederaufnahmeverfahren, wie er hier erfolgt ist, Rückwirkung hat, scheint jedoch im Ansatz allgemein anerkannt (vgl. Engänder/Zimmermann, a.a.O.; BayObLG, B.v. 16.7.1991 – RReg. 2 St 133/91 – NJW 1992, 1120; Mitsch, NZV 2012, 512/515). Umstritten scheint insoweit allein, ob damit auch die materiell-strafrechtliche Lage rückwirkend umgestaltet wird, was insbesondere mit Blick auf den Straftatbestand des Fahrens ohne Fahrerlaubnis (§ 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG) von Bedeutung ist (bejahend BayObLG, B.v. 16.7.1991, a.a.O., sowie Schmidt, a.a.O. Rn. 18 und Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. 2021, § 370 Rn. 11; a.A. Mitsch, NZV 2012, 512/515).
c) Da das Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht, an das die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG anknüpft, demnach jedenfalls im Falle des Freispruchs im Wege des Wiederaufnahmeverfahrens der materiellen Wahrheit Vorrang vor der Rechtssicherheit einräumt, spricht vieles dafür, dass der Freispruch in der Regel Folgen auch für die Fahrerlaubnisentziehung haben muss.
aa) Denkbar erscheint, dass der Freispruch zu einer rückwirkenden Korrektur des Punktestands des Betroffenen führt, die in einem Rechtsbehelf gegen einen noch nicht bestandskräftigen Entziehungsbescheid – wie er hier vorliegt – ohne Weiteres zu berücksichtigen ist. Im Falle der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 44 StPO, die ähnlich gelagerte Fragen aufwirft, wird ein solches Durchschlagen auf die Fahrerlaubnisentziehung in der obergerichtlichen Rechtsprechung bejaht (vgl. OVG NW, B.v. 24.1.2008 – 16 B 1269/07 – DAR 2008, 540 = juris Rn. 4; B.v. 25.7.2017 – 16 B 432/17 – VerkMitt 2018, Nr. 11 = juris Rn. 10 ff.; OVG SH, B.v. 27.1.2017 – 4 MB 3/17 – ZfSch 2017, 238 = juris Rn. 9 ff.; NdsOVG, U.v. 10.8.2020 – 12 LB 64/20 – DAR 2021, 164 = juris Rn. 32 ff.).
Dies zu Grunde gelegt wäre der Antragsteller im Klageverfahren so zu behandeln, als wäre der Bußgeldbescheid vom 4. Juli 2019 nie erlassen worden, und dürften die beiden Punkte, mit denen die damit geahndete Geschwindigkeitsüberschreitung vom 13. Mai 2019 bewertet worden war, dort nicht berücksichtigt werden. Somit hätte der Antragsteller, bei dem sich ohne diese Korrektur zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten zur Fahrerlaubnisentziehung führenden Tat (§ 4 Abs. 5 Satz 5 StVG), dem 10. Februar 2020, neun Punkte ergaben, in Wahrheit nur sieben Punkte erreicht. Der Bußgeldbescheid vom 26. August 2020, mit dem die von der Antragsgegnerin nunmehr ins Feld geführte, mit einem Punkt bewertete Tat vom 30. Mai 2020 geahndet wurde, erlangte erst am 15. Juli 2020 Rechtskraft, also nach dem maßgeblichen Tattag. Der Verstoß dürfte somit ungeeignet sein, den angegriffenen Bescheid zu stützen (vgl. OVG NW, B.v. 25.7.2017, a.a.O. Rn. 14; NdsOVG, U.v. 10.8.2010, a.a.O. Rn. 45). Damit wäre der angegriffene Bescheid aufzuheben und die Antragsgegnerin darauf verwiesen, mit Blick auf das nunmehrige Erreichen von acht Punkten eine erneute Entziehung der Fahrerlaubnis zu prüfen. Dabei hätte sie auch zu erwägen, ob die rückwirkende Korrektur des Punktestands nicht schon auf die der Fahrerlaubnisentziehung vorgelagerten Stufen der Ermahnung und Verwarnung durchschlägt und diese nach § 4 Abs. 6 Satz 1 StVG vor einer Entziehung erneut durchlaufen werden müssten.
bb) Gegen eine rückwirkende Korrektur des Punktestands könnte allerdings sprechen, dass die Entziehung der Fahrerlaubnis sich nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung richtet (vgl. BVerwG, U.v. 26.1.2017 – 3 C 21.15 – BVerwGE 157, 235 Rn. 11). Zudem sieht 4 Abs. 5 Satz 4 StVG eine Bindung der Fahrerlaubnisbehörde an rechtskräftige Entscheidungen über die Straftat oder Ordnungswidrigkeit vor und hat die Behörde nach § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG, wie bereits erwähnt, auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat. Diese zeitliche Fixierung könnte einer rückwirkenden Beurteilung von Maßnahmen nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem entgegenstehen. Ein solches Verständnis liegt der Entscheidung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 26. Januar 2009 (12 ME 316/08 – NJW 2009, 1160 = juris Rn. 8) sowie des Verwaltungsgerichts Göttingen vom 14. September 2016 (1 B 149/16 – juris) zu Grunde.
Auch bei dieser Sichtweise könnte der Freispruch freilich zur Neubewertung der Fahrerlaubnisentziehung führen, wenn auch nur im Wege der Aufhebung des ursprünglich rechtmäßigen Bescheids (Art. 43 Abs. 2 BayVwVfG) und möglicherweise erst in einem neuen, vom anhängigen Klageverfahren unabhängigen Verwaltungs- bzw. Gerichtsverfahren. In Betracht käme dabei in erster Linie wohl ein Widerruf gemäß Art. 49 Abs. 1 BayVwVfG. Danach steht der Widerruf zwar im Ermessen der Behörde, das sich angesichts der belastenden Folgen der Fahrerlaubnisentziehung jedoch auf Null reduzieren könnte (vgl. dazu auch Zwerger, zfs 2009, 128/129; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl. 2021, § 4 StVG Rn. 79a).
Ausgeschlossen ist der Widerruf nach Art. 49 Abs. 1 BayVwVfG allerdings, wenn ein Verwaltungsakt gleichen Inhalts erneut erlassen werden müsste. Dem Widerruf könnte somit entgegenstehen, dass der Antragsteller mit der rechtskräftig geahndeten weiteren Tat vom 30. Mai 2020 acht Punkte erreicht hat. Damit wäre ihm die Fahrerlaubnis nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG erneut zu entziehen, es sei denn, der vorgenannte Freispruch schlüge auf die vorgelagerten Stufen des Maßnahmensystems durch.
d) Kann demnach keine zuverlässige Prognose über den Verfahrensausgang getroffen werden, sind die Vollzugsinteressen gegen die schutzwürdigen Interessen des Betroffenen abzuwägen. Diese reine Interessenabwägung fällt hier zugunsten des Antragstellers aus.
Angesichts der besonderen Gefahren, die durch die Teilnahme ungeeigneter Kraftfahrer am Straßenverkehr drohen, begegnet es grundsätzlich zwar keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn einem Fahrerlaubnisinhaber zur Gefahrenabwehr Nachteile in beruflicher oder in privater Hinsicht entstehen (BVerfG, B.v. 5.3.2007 – 1 BvR 305/07 – Blutalkohol 45, 73 = juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 1.4.2008 – 11 CS 07.2281 – juris Rn. 13). Vorliegend führt die Interessenabwägung gleichwohl dazu, dass die privaten Belange des Antragstellers das öffentliche Interesse an einem Sofortvollzug überwiegen. Der Antragsteller hat nachvollziehbar vorgebracht, dass er seine Fahrerlaubnis für die Ausübung seiner selbständigen Erwerbstätigkeit als Inhaber einer Reinigungsfirma benötigt. Somit droht die Gefahr, dass er infolge der sofort vollziehbaren Entziehung der Fahrerlaubnis seine berufliche Existenz verliert. Ferner ist nach den Umständen des Einzelfalls aktuell nicht hinreichend greifbar, dass von dem Antragsteller während der Dauer des Rechtsstreits ein Sicherheitsrisiko ausgeht, das deutlich über demjenigen liegt, das allgemein mit der Zulassung von Personen zum Führen von Kraftfahrzeugen im öffentlichen Straßenverkehr verbunden ist (vgl. dazu BVerfG, B.v. 20.6.2002 – 1 BvR 2062/96 – NJW 2002, 2378 = juris Rn. 51). Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Zuwiderhandlungen des Antragstellers mit einer Ausnahme nur mit einem Punkt bewertet waren. Angesichts dessen kann hingenommen werden, dass er einstweilen weiter am Straßenverkehr teilnimmt. Der Senat weist dabei darauf hin, dass dieser Beschluss wiederum nach § 80 Abs. 7 VwGO geändert werden könnte, sollte der Antragsteller während des Hauptsacheverfahrens erneut auffällig werden.
e) Soweit der Antragsteller beantragt, der Antragsgegnerin aufzugeben, ihm den abgegebenen Führerschein wieder zurückzugeben oder ihm für den Fall der Unbrauchbarmachung eine neue Ausfertigung kostenfrei zuzustellen, fehlt es hingegen an einem Rechtsschutzbedürfnis.
Nach § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO kann das Gericht, wenn der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung über den Eilantrag schon vollzogen ist, die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Anordnung erfolgt auf Antrag, der ein entsprechendes rechtlich schutzwürdiges Interesse an der begehrten Aufhebung der Vollziehung voraussetzt. Daran fehlt es regelmäßig, wenn Art und Weise der begehrten Rückabwicklung unproblematisch sind und keine Anhaltspunkte dafür bestehen, die Behörde werde nicht die gebotenen Folgen aus der Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ziehen (vgl. OVG NRW, B.v. 29.05.2001 – 1 B 46/01 – juris Rn. 40 ff.; BayVGH, B.v. 7.12.2006 – 11 CS 06.2450 – DAR 2007, 223 = juris Rn. 24; VG Bremen, B.v. 17.1.2020 – 5 V 2094/19 – juris Rn. 52; Bostedt in Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 2021, § 80 VwGO Rn. 171; Funke-Kaiser in Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, 7. Aufl. 2018, § 80 Rn. 121).
So liegt es hier. Die Antragsgegnerin hat keinen Anhalt dafür gegeben, dass sie die Herausgabe des Führerscheins verweigern bzw. keinen neuen Führerschein ausstellen werde.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Das Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO dient nicht in der Art eines Rechtsmittelverfahrens der Überprüfung der vorangegangenen Entscheidung (vgl. BVerwG, B.v. 25.8.2008 – 2 VR 1.08 – juris Rn. 5), sondern zielt auf eine Neuregelung für die Zukunft. Eine abweichende Entscheidung im Abänderungsverfahren führt daher nicht zu einer Aufhebung der im Ausgangsverfahren getroffenen Kostenentscheidung. Diese bleibt vielmehr auch bei einer abweichenden Entscheidung im Abänderungsverfahren mit der Folge bestehen, dass für das Ausgangsverfahren und das Abänderungsverfahren unterschiedliche Kostengrundentscheidungen zu beachten sind (vgl. OVG NW, B.v. 13.7.2018 – 13 B 275/18.A – juris Rn. 9; B.v. 12.10.2018 – 11 B 1482/15.A – juris Rn. 4; Rdeker/v. Oertzen, VwGO, 16. Aufl. 2014, § 80 Rn. 68).
3. In erster Instanz war im Änderungsverfahren ein Streitwert angesichts des vorangegangenen Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO (AN 10 S 20.1283) nicht gesondert festzusetzen. Diese beiden Verfahren bilden vielmehr kostenrechtlich eine Einheit, denn gemäß Vorbemerkung 5.2. Abs. 2 Satz 2 der Anlage 1 zum GKG – Kostenverzeichnis – gelten mehrere Verfahren nach § 80 Abs. 5 und 7 VwGO innerhalb eines Rechtszugs als ein Verfahren. Mithin fallen für das Abänderungsverfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO im ersten Rechtszug keine weiteren Gerichtsgebühren an (vgl. BVerwG, B.v. 26.4.2006 – 4 VR 1001.06 – BeckRS 2006, 23042; Külpmann in Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 1195). Somit bedurfte es keiner Streitwertfestsetzung (vgl. Nds. OVG, B.v. 26.11.2019 – 12 OA 198/19 – juris Rn. 1; VG Hannover, B.v. 7.7.2021 – 12 B 358/21 – juris Rn. 26) und war die Nummer 3 des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 28. April 2021 aufzuheben.
4. Für das Beschwerdeverfahren ist eine Streitwertfestsetzung hingegen erforderlich.
Einer kostenrechtlichen Einheit gemäß Vorbemerkung 5.2. Abs. 2 Satz 2 der Anlage 1 zum GKG mit dem Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO vor dem Verwaltungsgericht steht entgegen, dass die Anträge nicht „innerhalb eines Rechtszuges“ gestellt wurden.
Ferner bilden auch die vorliegende Beschwerde und die vorangegangene Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts nach § 80 Abs. 5 VwGO (11 CS 20.2039) keine kostenrechtliche Einheit (in diesem Sinne VGH BW, B.v. 11.3.2015 – 8 S 492/15 – NVwZ-RR 2015, 637 = juris Rn. 25; OVG Lüneburg, B.v. 26.11.2019 – 12 ME 197/19 – NVwZ-RR 2020, 730 = juris Rn. 13; a.A. SächsOVG, B.v. 10.7.2009 – 2 BS 369/07 – juris Rn. 7; B.v. 5.10.2015 – 5 B 248/15 – juris Rn. 15). Wenn die Vorbemerkung 5.2. Abs. 2 Satz 2 der Anlage 1 zum GKG von „mehreren Verfahren nach § 80 Abs. 5 und 7 VwGO“ spricht, erfasst dies bereits dem Wortlaut nach nicht zwingend die jeweiligen Beschwerden gegen die erstinstanzlichen Entscheidungen nach § 80 Abs. 5 und Abs. 7 VwGO (a.A. SächsOVG, B.v. 10.7.2009, a.a.O. Rn. 7; B.v. 5.10.2015, a.a.O. Rn. 15). Gegen eine kostenrechtliche Einheit spricht auch der Blick auf das Gesetz über die Vergütung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte (Rechtsanwaltsvergütungsgesetz – RVG). Dort wird davon ausgegangen, dass erstinstanzliche Aussetzungs- und Abänderungsentscheidungen als „dieselbe Angelegenheit“ (§ 16 Nr. 5 RVG), die jeweiligen Beschwerden gegen diese Entscheidungen hingegen jeweils als „besondere“ und damit gebührenrechtlich selbständige Angelegenheiten (§ 18 Abs. 1 Nr. 3 RVG) behandelt werden, für die der Rechtsanwalt erneut eine Gebühr fordern kann (vgl. OVG NW, B.v. 5.3.2015 – 8 E 124/15 – juris; v. Seltmann in BeckOK RVG, Stand 1.3.2021, § 16 RVG Rn. 10a). Nach dieser Lesart geht der Gesetzgeber bei zeitlich gestaffelten Beschwerden gegen erstinstanzliche Entscheidungen nach § 80 Abs. 5 und 7 VwGO gerade nicht typisierend davon aus, dass der Arbeitsaufwand zumeist schon im vorangegangenen Verfahrensabschnitt entstanden und durch die bereits angefallene Gebühr abgedeckt ist, sondern will den damit verbundenen besonderen Aufwand berücksichtigen (vgl. OVG NW, B.v. 5.3.2015, a.a.O.). Danach kommt der Grundgedanke, der der Zusammenfassung mehrerer Verfahrensabschnitte zu einer gebührenrechtlichen Einheit zu Grunde liegt (vgl. BVerwG, B.v. 23.7.2003 – 7 KSt 6.03 – juris Rn. 3 zu den Rechtsanwaltsgebühren; SächsOVG, B.v. 5.10.2015, a.a.O.) in dieser Konstellation gerade nicht zu tragen. Es liegt nahe, dieses Verständnis auch dem Gerichtskostenrecht zu Grunde zu legen.
Die demnach gebotene Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nrn. 1.5, 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
5. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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