Verwaltungsrecht

Erfolglose Asylklage eines afghanischen Staatsangehörigen

Aktenzeichen  Au 3 K 16.31097

Datum:
23.8.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 24297
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1

 

Leitsatz

1 Volkszugehörige der Hazara unterliegen in Afghanistan keiner durch die Taliban oder anderer nichtstaatlicher Akteure an ihre Volks- oder Religionszugehörigkeit anknüpfenden gruppengerichteten Verfolgung.  (Rn. 21 – 24) (redaktioneller Leitsatz)
2 Kabul ist im Hinblick auf die allgemeine Sicherheitslage grundsätzlich als inländische Fluchtalternative geeignet. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Das Gericht konnte ohne (weitere) mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hierauf übereinstimmend verzichtet haben (§ 101 Abs. 2 VwGO).
I.
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. auf Gewährung subsidiären Schutzes oder auf Feststellung, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegt. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes ist daher rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Zur Begründung wird zunächst Bezug genommen auf die Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
1. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG liegen im Fall des Klägers nicht vor.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine solche Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).
Die Tatsache, dass der Ausländer bereits verfolgt oder von Verfolgung unmittelbar bedroht war, ist dabei ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, wenn nicht stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass er neuerlich von derartiger Verfolgung bedroht ist. Hat der Asylbewerber seine Heimat jedoch unverfolgt verlassen, kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm auf Grund von Nachfluchttatbeständen eine Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Dabei ist es Sache des Ausländers, die Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei genügt für diesen Tatsachenvortrag aufgrund der typischerweise schwierigen Beweislage in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
a) Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens ist davon auszugehen, dass der Kläger sein Heimatland nicht aus begründeter Furcht vor Verfolgung im o.g. Sinne verlassen hat. Eine individuelle Vorverfolgung im Hinblick auf sein Heimatland Afghanistan scheidet vorliegend schon deshalb aus, weil der Kläger im Iran geboren und aufgewachsen ist und nie in Afghanistan gelebt hat.
b) Dem demnach unvorverfolgten Kläger droht auch bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine Verfolgung.
aa) Eine Verfolgung allein wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara hat der Kläger nicht zu befürchten. Volkszugehörige der Hazara einschließlich der Untergruppe der Sayed/Sadat unterliegen in Afghanistan zwar einer gewissen Diskriminierung, sind aber keiner durch die Taliban oder anderer nichtstaatlicher Akteure an ihre Volks- oder Religionszugehörigkeit anknüpfenden gruppengerichteten politischen oder religiösen Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG ausgesetzt, noch besteht für sie eine entsprechende Gefahrendichte im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG.
Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärt (BVerwG, U.v. 18.7.2006 – 1 C 15/05 – BVerwGE 126, 243). Danach setzt die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung voraus, dass eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ vorliegt, die die Vermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (BayVGH, U.v. 3.7.2012 – 13A B 11.30064 – juris Rn. 20). Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinn der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden (BVerwG, U.v. 18.7.2006 – 1 C 15/05 a.a.O.).
Die Hazara sind eine in Untergruppen zerfallende Minderheiten-Volksgruppe in Afghanistan mit Siedlungsschwerpunkt in der Provinz Bamyan; ihre Zahl wird auf rund 1,5 Mio. Menschen in Afghanistan und rund 150.000 Menschen im Iran geschätzt. Hazara unterlägen zwar fortwährender, sozial, rassisch oder religiös motivierter gesellschaftlicher Diskriminierung in Form von Gelderpressungen durch illegale Besteuerung, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Gewalt und Haft; die Zahl der Entführungen sei seit dem Jahr 2015 gestiegen, teils freigelassen bzw. gegen andere Häftlinge ausgetauscht worden (ACCORD, Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation, Aktuelle Situation der Volksgruppe der Hazara, Abfrage vom 26.8.2016, http://www.ecoi.net/local link/325973/465909_de.html:; auch Amnesty International – AI, Auskunft an das VG Wiesbaden vom 5.2.2018, S. 21 f., 69 f. mit Verweis auf Bamyan als arme Region aber mit wenigen Sicherheitsvorfällen; EASO Country of Origin Information Report, Individuals targeted by armed actors in the conflict, Dezember 2017, S. 53, 55 a.E.). Es fehlt aber an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte (vgl. BayVGH, B.v. 24.1.2018 – 13a ZB 17.31611 – Rn. 6 m.w.N.; VGH BW, U.v. 17.1.2018 – A 11 S 241/17 – juris Rn. 68, 76 ff.). Auch unter Berücksichtigung und Würdigung der aktuellen Auskunftslage und der Stellungnahme des UNHCR (Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.4.2016; UNHCR, International Protection Needs of Asylum-Seekers from Afghanistan vom 12.3.2018, S. 12 zu religiösen und ethnischen Minderheiten allgemein) ergibt sich keine abweichende rechtliche Bewertung. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amts hat sich für die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgten Hazara die Lage grundsätzlich verbessert (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 31.5.2018, im Folgenden: Lagebericht, S. 9 f.; EASO Country of Origin Information Report, Individuals targeted by armed actors in the conflict, Dezember 2017, S. 53 f.). Die im Lagebericht geschilderten Überfälle auf schiitische Einrichtungen in Kabul und anderen Städten des Landes zeigen die latenten Spannungen zwischen IS und Hazara, führen aber in ihrer räumlichen und zeitlichen Verteilung nicht zur Annahme einer auch in Kabul so für Hazara gesteigerten Leibes- und Lebensgefahr, die jeden zurückkehrenden Hazara treffen würde (vgl. auch VGH BW, U.v. 11.4.2018 – A 11 S 924/17 – juris Rn. 47 ff.). Eine höhere Gefahr besteht bei schiitischen Versammlungen und politischen Demonstrationen von Hazara (EASO Country of Origin Information Report, Individuals targeted by armed actors in the conflict, Dezember 2017, S. 54). Gleichwohl zeigt eine Auswertung der Überfälle auf Busreisende, dass Hazara weniger wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit als vielmehr wegen ihrer – auch als Beschäftigte der Regierung oder von Nichtregierungsorganisationen – intensiveren Reisetätigkeit im Vergleich zu anderen Volksgruppen häufiger Ziel von Überfällen und Entführungen entlang der Überlandstraßen werden, wobei die Zahl der Vorfälle zwischen 2015 und 2016 abgenommen habe (EASO Country of Origin Information Report, Individuals targeted by armed actors in the conflict, Dezember 2017, S. 54 f.). Eine vorwiegend ethnische Anknüpfung solcher Überfälle ist daher nicht belegt.
Die Situation einer gewissen Diskriminierung gilt auch für die Zugehörigkeit zur Religionsgruppe der Schiiten, da Schiiten zwar nicht in allen Landesteilen gleichermaßen zahlenmäßig vertreten sind, aber doch neben den Sunniten mit etwa 19% die zahlenmäßig nächst große Religionsgruppe bilden (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 31.5.2018, S. 10 f.) und ein entsprechendes Gegengewicht bilden, so dass nicht von einer landesweiten Gruppenverfolgung ausgegangen werden kann. Sowohl im Rat der Religionsgelehrten als auch im Hohen Friedensrat sind auch Schiiten vertreten. Beide Gremien betonen, dass die Glaubensausrichtung keinen Einfluss auf ihre Zusammenarbeit habe (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 31.5.2018 S. 11). Auch wenn sich einzelne lokale oder regionale Angriffe der Taliban gegen Angehörige und Einrichtungen schiitischer Religionszugehörigkeit richten (vgl. AI, Auskunft vom 8.1.2018 an das VG Leipzig, S. 8; Lagebericht S. 11; EASO Country of Origin Information Report, Individuals targeted by armed actors in the conflict, Dezember 2017, S. 53 f.), fehlt es jedenfalls an der für die Annahme einer landesweiten Gruppenverfolgung erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte. Schiiten sind daher keiner an ihre Religionszugehörigkeit anknüpfenden, gruppengerichteten Verfolgung durch die Taliban oder andere nichtstaatliche Akteure ausgesetzt (vgl. VG Augsburg, U.v. 23.10.2017 – Au 6 K 16.32308 – juris Rn. 20 m.w.N.).
bb) Dem Kläger droht auch keine individuelle Verfolgung, weil sein Bruder nach seinen Angaben in den vom Iran aufgestellten Fatemyon-Milizen in Syrien im Bürgerkrieg zwei Jahre auf Seiten der syrischen Regierung gekämpft hat.
Aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismaterial ergeben sich keinerlei Anhaltspunkte, dass Familienangehörige von Mitgliedern der Fatemyon-Milizen, die syrischen Bürgerkrieg gekämpft haben, in Afghanistan besonderer Verfolgung ausgesetzt wären. Nach der dem Gericht vorliegenden, im Verfahren des Bruders des Klägers (Au 3 K 16.30988) eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes sind keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer aufgrund ihrer Mitgliedschaft in fremden Streitkräften staatlich verfolgt oder verurteilt wurden. Wenn schon Mitglieder der Fatemyon-Milizen keiner Verfolgung ausgesetzt sind, muss dies erst recht für Familienangehörige von Kämpfern, die wie der Kläger selbst nicht Angehörige der Fateymon-Milizen sind oder waren, gelten. Auch seitens des Klägers und seines Bevollmächtigten wurde eine solche Verfolgung von Familienangehörigen von Kämpfern der Fatemyon-Milizen lediglich behauptet und in den Raum gestellt, ohne diese Behauptung irgendwie untermauern zu können. Daher war der insoweit in der mündlichen Verhandlung gestellte Beweisantrag als unsubstantiiert abzulehnen. Es handelt sich letztlich um einen als Ausforschungsbeweis zu wertenden „Beweisantrag ins Blaue hinein“. Zu berücksichtigen ist überdies, dass nicht ersichtlich ist; wie die Taliban oder andere sunnitische Extremisten überhaupt vom Engagement des Bruders, der ebenso wie der Kläger seit langen Jahren im Iran gelebt hat, bei den Fatemyon-Milizen erfahren sollten. Wenn aber davon auszugehen ist, dass das Engagement des Bruders bei den Fatemyon-Milizen in Afghanistan schon nicht bekannt ist, ist nicht ersichtlich, weshalb der Kläger deshalb bei einer Rückkehr nach Afghanistan individuell verfolgt werden sollte. Damit ist der Kläger bei einer Rückkehr auch angesichts einer etwaigen Mitgliedschaft des Bruders in den Fatemyon-Milizen keinem höheren Risiko ausgesetzt als andere Hazara (vgl. hierzu oben).
2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG. Der Kläger hat nicht glaubhaft machen können, dass ihm bei einer Rückkehr nach Afghanistan ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht.
Der Kläger hat eine ernsthafte Bedrohung, so sie eine Gefährdungslage i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG begründen würde, nicht glaubhaft gemacht (vgl. oben).
Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen nicht vor. Dem Kläger droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan und insbesondere nach Kabul nach derzeitigem Kenntnisstand des Gerichts keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
a) Die Frage, ob die in Afghanistan oder Teilen von Afghanistan stattfindenden gewalttätigen Auseinandersetzungen nach Intensität und Größenordnung als vereinzelt auftretende Gewalttaten i.S. von Art. 1 Nr. 2 des Zusatzprotokolls vom 8. Juni 1977 zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte (BGBl. 1990 II S. 1637) – ZP II – oder aber als anhaltende Kampfhandlungen bewaffneter Gruppen im Sinne von Art. 1 Nr. 1 ZP II zu qualifizieren sind, kann dahinstehen, weil nach der Überzeugung des Gerichts der Kläger keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt wäre. Denn es fehlt vorliegend an einer Verdichtung allgemeiner Gefahren, die weitere Voraussetzung für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ist.
Das Gericht ist der Überzeugung, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan jedenfalls in Kabul keiner Verfolgung ausgesetzt wäre und Kabul als innerstaatliche Fluchtalternative noch geeignet und zumutbar ist, so dass erwartet werden kann, dass er sich dort vernünftigerweise niederlässt. Grundsätzlich ist Kabul im Hinblick auf die allgemeine Sicherheitslage als Fluchtalternative geeignet. Das Risiko, dort durch Anschläge Schaden an Leib oder Leben zu erleiden, ist weit unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BayVGH, B.v. 23.5.2017 – 13a ZB 17.30314 – Rn. 6 ff.; BayVGH, B.v. 20.2.2018 – 13a ZB 17.31970 – Rn. 6; VGH BW, U.v. 11.4.2018 – A 11 S 924/17 – juris Rn. 365 ff.): Auch aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes, der Lagebeurteilung des Auswärtigen Amtes und weiteren Quellen ergibt sich nicht, dass sich die Sicherheitslage in Kabul trotz gezielter Angriffe auf ausländische und afghanische Einrichtungen (dazu BT-Drs. 19/1120, S. 6 a.E.; UNHCR, International Protection Needs of Asylum-Seekers from Afghanistan vom 12.3.2018, S. 4) im Vergleich zur Einschätzung in den vorangegangenen Lageberichten derart wesentlich verschlechtert hätte (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 31.5.2018, S. 5, mit Verweis auf UNAMA-Daten, S. 18 f. – im Folgenden: Lagebericht). Die Hauptgefährdung der afghanischen Zivilbevölkerung geht demnach landesweit von lokalen Machthabern und Kommandeuren aus, die sich der Kontrolle der Zentralregierung entziehen und häufig ihre Macht missbrauchen. Neben medienwirksamen Anschlägen auf militärische wie zivile internationale Akteure wurden vermehrt Anschläge auf afghanische Sicherheitskräfte verübt mit gestiegenen Opferzahlen insbesondere unter Armeeangehörigen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 31.5.2018, S. 17). Die im Vergleich zum Jahr 2016 etwas gesunkene (Rückgang um 9% gegenüber dem Vorjahr) Gesamtzahl ziviler Opfer von 3.438 toten und 7.015 verletzten Zivilisten landesweit resultiert vor allem aus weniger Opfer fordernden Kampfhandlungen, während Selbstmordattentate und komplexen Anschläge etwa 22% der zivilen Opfer verursachten und um 17% auf 2.295 Opfer stiegen (UNAMA, Protection of Civilians in Armed Conflict, Annual Report 2017, S. 1 f. mit Fn. 6, www.unama.unmissions.org; ebenso UNHCR, International Protection Needs of Asylum-Seekers from Afghanistan vom 12.3.2018, S. 5). In der Provinz Kabul seien 88% der 1.831 zivilen Opfer auf solche Attentate regierungsfeindlicher Kräfte zurückzuführen (vgl. UNAMA a.a.O. S. 4). Auffallend sei die Zunahme von Anschlägen auf religiöse Ziele insbesondere der Schiiten durch Terroristen des IS (vgl. Lagebericht, S. 20; UNHCR, International Protection Needs of Asylum-Seekers from Afghanistan vom 12.3.2018, S. 7; sowie EASO Country of Origin Information Report, Afghanistan, Security Situation, Update Mai 2018, S. 30), während UNAMA die Anstrengungen der Regierungskräfte würdigt, zivile Opfer bei Kampfhandlungen zu vermeiden (vgl. UNAMA a.a.O. S. 3). Erstrangiges Ziel der Aufständischen seien ausländische Streitkräfte, Regierungsvertreter und die als Verbündete angesehenen afghanischen Sicherheitskräfte und Regierungsmitglieder sowie Regierungsbedienstete (Auswärtiges Amt, Lagebeurteilung vom 28.7.2017, S. 6 ff. Nr. 23 f., 28); für sie fluktuiere die Bedrohungslage regional (Auswärtiges Amt, ebenda S. 7 Nr. 24), sowie der Unterstützung für diese verdächtige Zivilisten (vgl. UNAMA a.a.O. S. 3; auch Amnesty International – AI, Auskunft an das VG Wiesbaden vom 5.2.2018, S. 19, 26; AI, Auskunft vom 8.1.2018 an das VG Leipzig, S. 3 f.). Für afghanische Zivilisten gehe eine Bedrohung für Leib und Leben in ländlichen Gebieten insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen und in städtischen Gebieten vor allem von Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen sowie gezielten Tötungen und Entführungen aus (ebenda S. 8 f. Nr. 30 f., 35 sowie EASO Country of Origin Information Report, Afghanistan, Security Situation, Update Mai 2018, S. 25 f., jeweils unter Verweis auf UNAMA-Daten). Systematisch staatlich organisierte Gewalt gegen die eigene Bevölkerung aber finde nicht statt (ebenda S. 11 Nr. 40). Soweit eine landesweite Gefährdung von Zivilisten durch Kampfhandlungen, Anschläge und Verfolgung gesehen wird (vgl. Amnesty International – AI, Auskunft an das VG Wiesbaden vom 5.2.2018, S. 2), widerspricht dies der Einschätzung von UNAMA nicht, da die Intensität der Gefährdung von zahlreichen Faktoren abhängt (vgl. AI ebenda S. 2 ff., 16 f., 43 ff. unter Verweis u.a. auf UNAMA).
Für Kabul teilt die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UN Assistance Mission in Afghanistan, UNAMA) in ihrem Jahresbericht für 2017 um 4% im Vergleich zum Jahr 2016 auf 1.831 zivile Opfer, darunter 479 getötete und 1.325 verletzte Zivilsten gestiegene Opferzahlen mit (vgl. UNAMA a.a.O. S. 4, 67). So bestätigte auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19.6.2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in der Stadt Kabul, S. 2; ebenso EASO Country of Origin Information Report, Afghanistan, Security Situation, Update Mai 2018, S. 25 f.), dass die Provinz Kabul im Jahr 2016 unter allen afghanischen Provinzen die meisten zivilen Toten und Verletzten zu verzeichnen gehabt habe. Nächst hohe Opferzahlen werden aus den Provinzen Helmand, Nangarhar, Kandahar, Faryab und Uruzgan gemeldet (vgl. UNAMA a.a.O. S. 4). Das Selbstmordattentat vom 31. Mai 2017 in Kabul sei der folgenschwerste Angriff nach den Aufzeichnungen der UNAMA seit dem Jahr 2011 (ebenda S. 28 f.; ähnlich SFH a.a.O., S. 3 f.). Diese Datenlage zeigt also einerseits etwa gleichbleibende gesamte Opferzahlen, allerdings einen Anstieg der zivilen Opferzahlen und eine relative Verschlechterung der Sicherheitslage in Stadt und Provinz Kabul durch die Zunahme gezielter Anschläge (vgl. UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan vom Dezember 2016; AI, Auskunft vom 8.1.2018 an das VG Leipzig, S. 4 f., 8). Allerdings hat die Zunahme von Anschlägen bei gleichzeitig erheblicher Zunahme der Bevölkerung dort auch durch Wanderungsbewegungen (vgl. Lagebericht S. 19 a.E., 25) nach Überzeugung des Gerichts nicht zu einer solchen Verschlechterung der Sicherheitslage in der Zentralregion und in Stadt und Provinz Kabul geführt, dass vernünftigerweise nicht mehr erwartet werden könnte, dass ein Rückkehrer sich dort niederlässt. Die allgemeine Gefährdungslage dort erreicht keine Intensität, dass ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nach den von der Rechtsprechung gestellten Anforderungen an einen solchen Konflikt (vgl. BayVGH, B.v. 20.2.2018 – 13a ZB 17.31970 – Rn. 6; BayVGH, B.v. 26.3.2018 – 13a ZB 17.30438 – Rn. 7) angenommen werden könnte. Ausgehend von einer Opferzahl von rund 10.500 zivilen Opfern im Jahr 2017 und einer Bevölkerungszahl in Afghanistan von mindestens 27 Mio. Menschen ist das Risiko, dort durch Anschläge Schaden an Leib oder Leben zu erleiden, landesweit noch weit unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BayVGH, B.v. 11.12.2017 – 13a ZB 17.31374 – juris Rn. 6 ff.: Wahrscheinlichkeit weit unter 1:800) und es besteht auch keine zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führende Gefahrenlage (vgl. BayVGH, B.v. 20.2.2018 – 13a ZB 17.31970 – Rn. 6; BayVGH, B.v. 26.3.2018 – 13a ZB 17.30438 – Rn. 7). Dies gilt auch für die Stadt Kabul mit einer von UNAMA mitgeteilten Opferzahl im Jahr 2017 von 1.831 zivile Opfern bei einer Einwohnerzahl in der Stadt Kabul von geschätzt 4,5 Mio. Menschen (UNAMA a.a.O. S. 4, 67; vgl. auch Auswärtiges Amt, Länderinformationen Afghanistan, Schätzung 2011, www.ausaertiges-amt.de, Abruf vom 7.6.2017). Soweit Organisationen wie UNHCR und Pro Asyl sowie Presseberichte auf die Zunahme von Anschlägen in Kabul verweisen (vgl. UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan vom Dezember 2016), folgen sie eigenen Maßstäben, nicht jenen der o.g. Rechtsprechung. Dass die Opferzahlen – bei anderer Zählweise – höher liegen können, wie teils eingewandt wird (vgl. Stahlmann, Asylmagazin 2017, 82 mit Fn. 2), ändert diese Bewertung nicht, denn die von UNAMA mitgeteilten Daten sind methodisch nachvollziehbar ermittelt und auch deswegen belastbar (dies räumt auch das Schweizerische Bundesverwaltungsgericht, U.v. 13.10.2017 – D-5800/2016 – www.bvger.ch, Urteilsabdruck S. 18 f. ein), da sie von einer von der internationalen Staatengemeinschaft getragenen Organisation stammen. UNAMA wurde auf Grund der Resolution Nr. 1401 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen eingerichtet auf Bitten der afghanischen Regierung; das Mandat wurde bis heute verlängert, zuletzt am 17. März 2017 mit Resolution Nr. 2344. UNAMA ist landesweit vertreten und unterhält Verbindungsbüros in Pakistan und im Iran; die Mission hat mehr als 1.500 Beschäftigte, darunter etwa 1.150 afghanische Beschäftigte (vgl. UNAMA, Mandate, Methodology, a.a.O.). Dass die Methodik der UNAMA überholt wäre, die Informationen an offen erkennbaren inhaltlichen Defiziten litten, insbesondere an entscheidungserheblichen unzutreffenden Tatsachenannahmen, unlösbaren Widersprüchen, sich aus den Stellungnahmen ergebenden Zweifeln an der Sachkunde oder der Unparteilichkeit oder eines speziellen, hier nicht vorhandenen Fachwissens bedürften (vgl. BVerwG, U.v. 22.10.2015 – 7 C 15.13 – NVwZ 2016, 308/312 Rn. 47 m.w.N.), ist weder ersichtlich noch substantiiert gerügt. Im Gegenteil liegen für Afghanistan mangels Einwohnermeldewesens auch für die Bevölkerungszahlen nur Schätzungen vor (dies räumt das Schweizerische Bundesverwaltungsgericht, U.v. 13.10.2017 – D-5800/2016 – Urteilsabdruck S. 18 f. ein; auch Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73/74), so dass jede Datenerhebung schon deswegen an tatsächliche Grenzen stößt. Dass und weshalb andere Auskunftsquellen methodisch belastbarere Primärdaten hätten (auch SFH a.a.O. gibt keine selbst erhobenen Daten wieder), ist nicht ersichtlich, so dass die Daten von UNAMA weiterhin zu Grunde gelegt werden (vgl. Amnesty International, Afghanistan 2017 vom 15.2.2017, www.amnesty.de/jahresbericht/ 2017/afghanistan, S. 3; Amnesty International, Zurück in die Gefahr 2017, S. 13 ff.; Amnesty International – AI, Auskunft an das VG Wiesbaden vom 5.2.2018, S. 2, 47 ff. jeweils unter Verweis auf UNAMA-Daten; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan Update vom 14.9.2017, S. 4 ff.).
Auch der Ende Mai 2017 gegen die Deutsche Botschaft in Kabul gerichtete Selbstmordanschlag (Auswärtiges Amt, Lagebeurteilung vom 28.7.2017, S. 1 f. Nr. 4 ff.) führt zu keiner abweichenden Bewertung. Ausländische Institutionen und ihre afghanischen Helfer sind wie bisher Ziel gezielter Anschläge (ebenda S. 6 f. Nr. 23 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan Update vom 14.9.2017, S. 22 ff.; Amnesty International – AI, Auskunft an das VG Wiesbaden vom 5.2.2018, S. 4; UNHCR, International Protection Needs of Asylum-Seekers from Afghanistan vom 12.3.2018, S. 12); ihre Bedrohungslage ist mit jener der Zivilbevölkerung (Auswärtiges Amt ebenda S. 8 ff. Nr. 30 ff.) aber nicht ohne Weiteres vergleichbar (vgl. oben). Trotz der dabei hohen Opferzahl (vgl. auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan Update vom 14.9.2017, S. 13 f.) sind die von der Rechtsprechung an die Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit von Schaden an Leib oder Leben gestellten Anforderungen nicht erfüllt (vgl. nur BayVGH, B.v. 23.5.2017 – 13a ZB 17.30314 – Rn. 7 m.w.N.). Auf zahlenmäßige Relationen kann auch nicht deswegen verzichtet werden, weil keine gesicherte Einwohnerzahl vorläge und bereits deswegen auf die bloße Quantität von Anschlägen in Kabul abzustellen wäre (so aber das Schweizerische Bundesverwaltungsgericht, U.v. 13.10.2017 – D-5800/2016 – Urteilsabdruck S. 21, 24). Im Gegenteil hat dieselbe Opferzahl in einer dünnbesiedelten Region andere Auswirkungen auf die Sicherheitslage als in einer dichtbesiedelten Metropole wie Kabul. Die o.g. genannten Daten zu Grunde gelegt erreicht die allgemeine Gefährdungslage in Kabul keine Intensität, dass Stadt und Provinz Kabul im Hinblick auf die allgemeine Sicherheitslage als Fluchtalternative nicht mehr geeignet wären (vgl. BayVGH, B.v. 11.12.2017 – 13a ZB 17.31374 – juris Rn. 6 ff.; BayVGH, B.v. 20.2.2018 – 13a ZB 17.31970 – Rn. 6). Daran wird auch im vorliegenden Fall festgehalten.
Eine landesweite gezielte Verfolgung ist nicht plausibel, u.a. deswegen, weil sich der Kläger in keiner Weise so exponiert hat, dass ihn die Taliban gezielt bei einer Rückkehr suchen und töten sollten; ein Untertauchen in der Millionenstadt Kabul ohne Meldewesen ist ihm ohne Weiteres möglich. Nichts anderes ergibt sich auch, wenn man den klägerischen Antrag, sein Bruder habe für die Fatemyon-Milizen in Syrien gekämpft, als wahr unterstellt. Nach der im Verfahren des Bruders eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes ist nicht bekannt, dass die Taliban oder andere regierungsfeindliche Gruppen systematisch nach Afghanen suchen würden, die freiwillig oder auf Druck Dritter auf der Seite der syrischen Regierung gekämpft haben. Erst recht muss dies für den Kläger gelten, der selbst nicht geltend macht, in Syrien gekämpft zu haben, sondern nur Familienangehöriger eines Mitglieds der Fatemyon-Milizen zu sein angibt; überdies ist es nicht ersichtlich, wie die Taliban überhaupt vom Engagement des Bruders, der ebenso wie der Kläger seit langen Jahren im Iran gelebt hat, bei den Fatemyon-Milizen erfahren sollten. Nichts anderes wurde letztlich auch klägerseits nicht vorgetragen; klägerseits wurde lediglich darauf verwiesen, die schiitischen Hazara seien insgesamt – nicht der Kläger individuell – verstärkt ins Visier radikaler sunnitischer Kräfte geraten, weil viele schiitische Hazara für die Fatemyon-Milizen kämpften. Damit ist der Kläger bei einer Rückkehr auch angesichts einer etwaigen Mitgliedschaft des Bruders in den Fatemyon-Milizen keinem höheren Risiko ausgesetzt als andere Hazara (vgl. hierzu oben).
Das Verfolgungsinteresse hängt vom jeweiligen Einzelfall ab (vgl. Stahlmann, Asylmagazin 2017, 82/88). Gerade in Kabul leben mindestens 3 Mio., nach informellen Schätzungen aber 7 Mio. Menschen (vgl. auch das Schweizerische Bundesverwaltungsgericht, U.v. 13.10.2017 – D-5800/2016 – Urteilsabdruck S. 21), wobei fast alle Volksgruppen vertreten sind, insbesondere Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Baluchen, Sikh und Hindu, ohne dass eine Volksgruppe unter ihnen deutlich vorherrscht. Auch wenn die Angehörigen der Volksgruppen zu einer Ansiedlung bei ihren Familien oder im Kreis ihrer Volksgruppe neigen, haben sich doch auch Volksgruppenübergreifende Nachbarschaften gebildet (EASO Country of Origin Information Report, Afghanistan, Key socio-economic indicators etc., August 2017, S. 17, https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/PLib/EASO _COI_Afghanistan_IPA_August2017.pdf). Dass Taliban gerade in größeren Städten Netzwerke unterhalten, ist bekannt. Schätzungen reichen von 500 bis 1.500 Spionen in Kabul. Allerdings richtet sich ihr Interesse wegen ihrer personell begrenzten Möglichkeiten dort auf prominente Personen wie Parlamentsmitglieder, Regierungsmitglieder und höherrangige Angehörige der Streitkräfte; nicht prominente Personen und ihre Familienangehörigen bleiben bis auf spezifische persönliche Feindschaften und Rivalitäten unbehelligt (EASO, Afghanistan, Individuals targeted by armed actors in the conflict, coi.easo.europa.eu/administration/easo /PLib/Afghanistan_targeting_conflict.pdf, S. 63 f.). Beobachter für EASO schätzten die Zahl derer, die von den Taliban in größeren Städten Afghanistans gezielt gesucht und verfolgt würden, auf wenige Dutzend Personen, höchstens 100 Personen (EASO, a.a.O., S. 64). Alle übrigen nicht prominenten Personen und deren Familien, die auch keine persönlichen Feindschaften mit Taliban-Mitgliedern pflegten, würden die Taliban grundsätzlich bei einem Umzug in die Stadt nicht aufzuspüren versuchen. Soweit Gegenteiliges angenommen wird, weil die Taliban aus einer Migration in den Westen ein ihnen feindliches Verhalten ableiteten und deswegen einen in den Westen geflohenen Afghanen bei seiner Rückkehr gezielt suchen sollten (so Stahlmann, Gutachten vom 28.3.2018 an das VG Wiesbaden, S. 202), erscheint dies vor dem Hintergrund der hier ebenfalls ausgewerteten gegenteiligen Auskünfte und der großen Zahl nach Europa Geflüchteter nicht realistisch. Dass Taliban u.a. landesweit im Jahr 2017 gezielt 530 Zivilisten getötet und 339 Zivilisten verletzt haben sollen (vgl. AI, Auskunft vom 8.1.2018 an das VG Leipzig, S. 6), widerspricht der Annahme einer individuell und regional unterschiedlichen Bedrohungslage (vgl. Lagebericht S. 5) nicht.
b) Dem Kläger ist Kabul auch wirtschaftlich zumutbar. Ihm droht erst recht keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben wegen der allgemeinen Versorgungslage in Kabul (dazu sogleich). Das Gericht geht – auch unter Berücksichtigung des EASO Country of Origin Information Report „Afghanistan Security Situation – Update“ (Mai 2018), auf den der Kläger hingewiesen hat, – davon aus, dass der Kläger seinen Lebensunterhalt in Kabul sicherstellen kann (vgl. hierzu auch BayVGH, B.v. 14.1.2015 – 13a ZB 14.30410 – juris Rn. 5). Auch wenn hierfür mehr zu fordern ist als ein kümmerliches Einkommen zur Finanzierung eines Lebens am Rande des Existenzminimums (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris Rn. 20), ist doch vernünftigerweise zu erwarten, dass der Kläger sich in Kabul aufhält und seinen Lebensunterhalt dort sicherstellt. Es ist zu erwarten, dass der Kläger als gesunder Mann auch ohne nennenswertes Vermögen oder familiäre bzw. sonstige Kontakte seinen Lebensunterhalt in Kabul sicherstellen kann (vgl. BayVGH, B.v. 24.1.2018 – 13a ZB 17.31611 – Rn. 6 m.w.N.; VGH BW, U.v. 17.1.2018 – A 11 S 241/17 – juris Rn. 470 ff.; VGH BW, U.v. 11.4.2018 – A 11 S 924/17 – juris Rn. 345 ff.). Zwar wird darauf verwiesen, der Zugang zu Wohnung und Arbeit hänge maßgeblich von Netzwerken vor Ort ab (vgl. Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73/76 f., 78), allerdings ist nicht davon auszugehen, dass die große Zahl aus den Nachbarstaaten zurückkehrender Afghanen über solche verfügt (Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73/75 spricht von über 1 Mio. Rückkehrern allein im Jahr 2016; bestätigt durch Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 31.5.2018 – im Folgenden: Lagebericht, S. 20, 24 unter Verweis auf UNHCR: etwa 670.000 Binnenvertriebene im Jahr 2016 und 450.000 im Jahr 2017 sowie bisher 54.000 im Jahr 2018; hohe Anforderungen an funktionsfähige Netzwerke stellt Stahlmann, Gutachten vom 28.3.2018 an das VG Wiesbaden, S. 192 ff.). Etwa 610.000 Afghanen sind im Jahr 2017 aus Iran und Pakistan zurückgekehrt (Lagebericht, S. 28 unter Verweis auf UNHCR und IOM). Die Gesamtzahl der Binnenvertriebenen wurde für Ende 2017 auf etwa 2 Mio. Personen geschätzt (Amnesty International, Zurück in die Gefahr 2017, S. 12; dazu auch Amnesty International – AI, Auskunft an das VG Wiesbaden vom 5.2.2018, S. 45); in der Provinz Kabul seien nach Daten von IOM über 437.000 Personen entsprechend 9% der Bevölkerung Vertriebene oder Auslandsrückkehrer, wovon 5.425 Personen entweder in Zelten oder unter freiem Himmel lebten (EASO Country of Origin Information Report, Afghanistan, Security Situation, Update Mai 2018, S. 32). Insgesamt leben rund 6.5 Mio. Afghanen außer Landes, etwa 18,4% der Gesamtbevölkerung (BT-Drs. 19/1120, S. 14). Durch diese Auflösung überkommener Strukturen besteht die soziale Notwendigkeit, neue und von gewachsenen Strukturen unabhängige Netzwerke unter den Rückkehrern zu bilden oder ohne solche zu leben (vgl. VGH BW, U.v. 11.4.2018 – A 11 S 924/17 – juris Rn. 346 ff.
In diesem Sinne werden dauerhafte familien- und stammesbasierte Netzwerken einerseits und sich dynamisch wandelnde sektorspezifische Netzwerke beispielsweise in der Wirtschaft andererseits (sog. quam) unterschieden (EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 10, 18 f.). Traditionelle Netzwerke haben durch Landflucht und Verstädterung sowie die Folgen des Krieges an Wirksamkeit abgenommen. Gleichwohl ist es zuerst die erweiterte generationenübergreifende Familie vorrangig väterlicherseits, welche die Existenz des Einzelnen sichert und umgekehrt seine Arbeitskraft für die Gruppe beansprucht und wesentlich auf der Blutsbeziehung beruht, während andere Netzwerke auf persönlichen Beziehungen der Beteiligten untereinander beruhen (EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 12 f., 14). Selbst durch Auslandsaufenthalte abgeschwächte Familienbande lassen sich durch Rückkehrer wieder stärken; je länger ein Afghane allerdings im Ausland gelebt hat, desto schwieriger ist die Wiederaufnahme solcher Beziehungen (EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 13 f.). Die Familiengruppe (Clan) ist die erweiterte Großfamilie, der Stamm die durch gemeinsame Vorfahren gebildete Großgruppe, deren Bedeutung in der paschtunischen Volksgruppe am deutlichsten ausgeprägt ist und sich in der privaten Aufnahme Hunderttausender Paschtunen aus Pakistan durch Paschtunen in Afghanistan während einer pakistanischen Militäroffensive in den dortigen westlichen Stammesgebieten zeigte (EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 15 f.). Nicht familienbasierte Netzwerke (quam), z.B. aus gemeinsamer Zeit in demselben Beruf, an derselben Universität oder auch in demselben Flüchtlingslager können ebenfalls Unterstützung sichern, die umso größer ist, je enger das Vertrauensverhältnis der Personen untereinander ist (EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 17). Wanderung insbesondere junger Männer zur Arbeitsaufnahme und Unterstützung des Familienverbandes ist Afghanen keineswegs fremd, sondern charakteristisch für eine weitverbreitete Strategie zur Unterstützung Einzelner und der Gruppe (EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 19). Einen minderjährigen Familienangehörigen in die Fremde, gar nach Europa zu schicken, ist eine Entscheidung der gesamten Familie und ohne deren Billigung und Unterstützung auch nicht möglich; sie erhofft sich dadurch finanzielle Unterstützung und eine personenbezogene Verankerung in der Ferne des Westens mit der Möglichkeit, die restliche Familie nachzuholen, zumal Afghanen mit den Asylumständen in Europa vertraut sind und für Minderjährige ein leichter erlangbares Bleiberecht erhoffen (EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 20 f.). Im Jahr 2017 überwiesen Afghanen aus dem Ausland 479 Mio. USD in ihre Heimat – für viele Familie eine wichtige Einkommensquelle (BT-Drs. 19/1120, S. 15). Erfahrungsgemäß halten Afghanen im Ausland – auch in Europa – enge Verbindung zu ihrer Großfamilie, selbst wenn ihnen (und besonders Minderjährigen) geraten wird, in Asylverfahren deren Existenz zu verneinen (EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 23). Die tatsächlich enge Verbindung zeigt sich sowohl im Heiratsverhalten von Auslandsafghanen innerhalb der eigenen ethnischen Gruppe bis hin zu Familiennachzügen aus Afghanistan einerseits sowie in den enormen finanziellen Rückflüssen aus dem Westen nach Afghanistan, die nach (wegen des informellen hawala-Systems nur) Schätzungen der Weltbank von rund 85 Mio. USD im Jahr 2008 auf rund 300 Mio. USD im Jahr 2015 angestiegen sind (EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 24, zu hawala ebenda S. 31; die Bedeutung der Geldüberweisungen erkennt auch Stahlmann, Gutachten vom 28.3.2018 an das VG Wiesbaden, S. 197, an). Der Kontakt wird vorwiegend über Mobiltelefone gehalten, von denen mindestens die Hälfte der Großfamilien über eines verfügt bei rund 25 Mio. Anschlussnehmern und fünf großen Netzanbietern in Afghanistan, zunehmend über Internet (EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 25 f.; dies räumt Stahlmann, Gutachten vom 28.3.2018 an das VG Wiesbaden, S. 192, ein).
Letztlich kommt es auf die individuelle Rückkehrsituation für alleinstehende leistungsfähige Männer bzw. für verheiratete Paare im berufsfähigen Alter an (vgl. BayVGH, B.v. 19.6.2017 – 13a ZB 17.30400 – juris Rn. 15) bezogen auf Unterkunft und Arbeit. Insofern bemerkenswert ist, dass die Volksgruppen in Kabul an ethnisch getrennten Wohnformen nicht mehr festhalten (können): So sind in Kabul fast alle Volksgruppen vertreten, insbesondere Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Baluchen, Sikh und Hindu, ohne dass eine Volksgruppe unter ihnen deutlich vorherrscht. Auch wenn die Angehörigen der Volksgruppen zu einer Ansiedlung bei ihren Familien oder im Kreis ihrer Volksgruppe neigen (Nutzung von quam, EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 17), haben sich doch auch Volksgruppenübergreifende Nachbarschaften gebildet (EASO Country of Origin Information Report, Afghanistan, Key socio-economic indicators etc., August 2017, S. 17, 68 a.E., coi.easo.europa.eu/administration/easo/PLib/EASO _COI_Afghanistan IPA_August 2017.pdf; die ethischen „Dörfer in der Stadt“ betont EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, a.a.O. S. 11).
Die Kernherausforderung ist, trotz der geschätzten Arbeitslosenrate von 40% eine Beschäftigung zu finden, wobei die Beschäftigungsquote von Frauen in Vollzeit in einem männerdominierten Arbeitsmarkt ohnehin gering ist (in Kabul und Herat ca. 20%, in Mazar-e-Sharif ca. 5%). Etwa 90% der Arbeitsplätze sind nicht dauerhaft und die Arbeitslosenrate unter jungen Menschen (15 – 24 Jahre) deutlich höher als in der übrigen männlichen Bevölkerung (EASO Country of Origin Information Report, Afghanistan, Key socio-economic indicators etc. a.a.O. S. 22; zum Ganzen auch UNHCR, International Protection Needs of Asylum-Seekers from Afghanistan vom 12.3.2018, S. 19). Die Beschäftigung weist hauptsächlich zwei Arten von Arbeitsverhältnissen auf, förmliche Arbeitsstellen in Regierung, Hilfsorganisationen und einem Teil der Wirtschaft mit etwa 20% der Arbeitsverhältnisse in den Städten, sowie unqualifizierte Stellen in den Bazaren, als Tagelöhner im Bausektor (mit sinkendem Anteil in Folge des Rückgangs des internationalen Militärengagements) und in der Landwirtschaft sowie in familiären Netzwerken (ebenda S. 22). Hingegen können trotz der hohen Arbeitslosenrate tausende Stellen für qualifizierte Beschäftigte nicht besetzt werden (ebenda S. 23). Die Beschäftigungsmöglichkeiten für Rückkehrer hängen insbesondere von Bildung (Sprache, Schrift, Rechenfähigkeit) und Erfahrung ab, wobei Rückkehrer u.a. ihre Migrationserfahrung je nach Einzelfall für sich einsetzen können (ebenda S. 24; auch EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 27 f.). Der durch den Rückzug der internationalen Truppen ausgelöste Rückgang der Wirtschaftsentwicklung hat sich nunmehr etwas stabilisiert (BT-Drs. 19/1120, S. 3 f.), was sich auch auf den Arbeitsmarkt auswirkt.
In der Provinz Kabul hängen die meisten Beschäftigungsverhältnisse noch direkt oder indirekt von der Landwirtschaft ab, auch hier hat sich die Perspektive einer Beschäftigung trotz im Landesvergleich besserer Aussichten durch die verschlechterte Sicherheitslage und den Rückgang des international militärischen Engagements verschlechtert (EASO Country of Origin Information Report, Afghanistan, Key socio-economic indicators etc. a.a.O. S. 28). Für Rückkehrer ist auch für ihren Zugang zu grundlegenden Rechten, förmlicher Beschäftigung und Unterkunft der Besitz von Identitätspapieren entscheidend (ebenda S. 40 f.). In der Zusammenfassung sind die Schwierigkeiten für Rückkehrer umso größer, je geringer ihre Arbeitsfähigkeit, ihre Bildung oder Vertrautheit mit den Lebensverhältnissen in Kabul ist (ebenda S. 103; ähnlich Amnesty International – AI, Auskunft an das VG Wiesbaden vom 5.2.2018, S. 15, 44, 55 f.), wobei familiäre Netzwerke solche Defizite eher auffangen können (Lagebericht, S. 28; EASO ebenda S. 65 f.) und die Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe den Zugang zu einer Arbeit zwar nicht allein ermöglicht, aber erleichtern und Vorurteile gegenüber Rückkehrern mindern kann (ebenda S. 68; zum Ganzen auch Asylos, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 ff., 42 ff.; Amnesty International, Zurück in die Gefahr 2017, S. 20, 24, 32; auch EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 27 f.; Amnesty International – AI, Auskunft an das VG Wiesbaden vom 5.2.2018, S. 50 ff., 65, 69 f.).
Soweit geltend gemacht wird, abgeschobene Afghanen würden als Straftäter, Gefährder oder Apostaten stigmatisiert und erhielten deswegen keinen Zugang zu Netzwerken (vgl. Amnesty International – AI, Auskunft an das VG Wiesbaden vom 5.2.2018, S. 65; AI, Auskunft vom 8.1.2018 an das VG Leipzig, S. 11 ff.; bloßes Misstrauen gegenüber Rückkehrern aus Europa bestätigt der Lagebericht, S. 28 a.E.), ist darauf hinzuweisen, dass Ausreisepflichtige dem behaupteten Stigma durch eine freiwillige Erfüllung ihrer Ausreisepflicht entgehen können und zudem nach den in Afghanistan vorherrschenden Rechtsschulen ein vom Islam Abgefallener zur Reue aufgefordert werden muss und Gelegenheit zum Widerruf des Glaubenswechsel erhalten muss (vgl. VG Würzburg, U.v. 30.9.2016 – W 1 K 16.31807 – juris Rn. 23 f.). Ein automatischer Ausschluss aus Netzwerken in Afghanistan ist daher nicht zu befürchten, insbesondere wenn der Rückkehrer zuvor erfolgreich die Großfamilie aus dem Ausland unterstützt hat (EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 24 f.; den Abbruch der Unterstützung in Folge einer Rückkehr wertet Stahlmann, Gutachten vom 28.3.2018 an das VG Wiesbaden, S. 198, aber als Anlass zur Verweigerung umgekehrter Unterstützung bei einer Rückkehr).
Ebenso wenig erfolgt zwangsläufig eine nähere Überprüfung der Abgeschobenen durch afghanische Sicherheitskräfte. So teilte zwar das Bundesministerium des Innern zur Sammelabschiebung im Dezember 2017 mit, dass der afghanischen Seite bekannt sei, „dass Straftäter, Gefährder (und) Mitwirkungsverweigerer zurückgeführt werden“; außerdem würden „die Namen der Betroffenen übermittelt“. Beamte des Flüchtlingsministeriums in Kabul und der Grenzpolizei hätten allerdings gesagt, sie bekämen diese Informationen nicht. Auf afghanischer Seite gab es nach ersten Erkenntnissen keine besonderen Maßnahmen. „Hier ist niemand der Polizei übergeben worden“, habe der Leiter der Beobachtungsgruppe im Flüchtlingsministerium erläutert (vgl. Süddeutsche Zeitung online vom 7.12.2017, Achter Abschiebeflug erreicht Kabul, www.sueddeutsche.de/news/politik/ migration-achter-abschiebeflug-erreicht-kabul-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-171207-99-177718). Dies bestätigt, dass die Bundesrepublik afghanischen Behörden drei Woche vor dem geplanten Flug die Identitäten der für die Abschiebung vorgesehenen Personen mitteilt und die Daten kurz vor dem Flug aktualisiert (BT-Drs. 19/632, S. 3); Angaben über im Bundesgebiet begangene Straftaten werden nicht übermittelt, nur Hinweise auf zurückgeführte Gefährder (BT-Drs. 19/632, S. 4). Die Bundesregierung hält vorläufig daran fest, nur Straftäter, Gefährder und hartnäckig sich ihrer Identifizierung Verweigernde abzuschieben, im Jahr 2017 insgesamt 121 Personen aus über 250.000 in Deutschland aufhältigen und mehr als 14.000 ausreisepflichtigen Afghanen (BT-Drs. 19/1120, S. 15).
Angesichts der Bevölkerungsfluktuation in Afghanistan durch Rückkehrer auch aus dem benachbarten Ausland kann auf das Vorhandensein von bestehenden Netzwerken gerade nicht maßgeblich abgestellt werden (so aber das Schweizerische Bundesverwaltungsgericht, U.v. 13.10.2017 – D-5800/2016 – www.bvger.ch, Urteilsabdruck S. 26 f. selbst für junge gesunde Männer; auch Stahlmann, Gutachten vom 28.3.2018 an das VG Wiesbaden, S. 194), weil auch solche Netzwerke keine statischen Gebilde sind und ihre Veränderung bzw. Neubildung nicht ausgeschlossen sondern auch unter Afghanen möglich und zumutbar ist, wie ihre Neubildung auch in Europa zeigt.
Dass dem Kläger verwehrt wäre, ggf. neue Netzwerke zu bilden, ist nicht ersichtlich. Er ist gesund, volljährig und arbeitsfähig; ein Vertrautsein mit den Verhältnissen in nicht maßgeblich erforderlich, sondern es genügt für einen Rückkehrer, wenn er den größten Teil seines Lebens in einer islamisch geprägten Umgebung verbracht hat und eine der beiden Landessprachen spricht (BayVGH, B.v. 29.6.2017 – 13a ZB 17.30597 – Rn. 6; BayVGH, B.v. 26.3.2018 – 13a ZB 17.30438 – Rn. 7), was beim im Iran geborenen, aufgewachsenen und Dari sprechenden Kläger der Fall ist. Der Kläger hat nach eigenen Angaben sechs Jahre als Schweißer und Gerüstbauer auf Baustellen gearbeitet. Damit hat Fertigkeiten erworben, die über eine reine Tagelöhnertätigkeit hinausgehen und eine Wiedereingliederung eher erleichtern, auch wenn dem Kläger auf der anderen Seite das familiäre Netzwerk fehlt. Eine Rückkehr nach Afghanistan scheitert grundsätzlich nicht am fehlenden vorherigen Aufenthalt im Herkunftsland; maßgeblich ist, dass eine der beiden Landessprachen Dari oder Paschtu gesprochen wird (vgl. BayVGH, B.v. 29.6.2017 – 13a ZB 17.30597 – Rn. 6 m.w.N.; BayVGH, B.v. 26.3.2018 – 13a ZB 17.30438 – Rn. 7). Im Übrigen sind unter Berücksichtigung der Auskunftslage insbesondere Rückkehrer aus dem Westen in einer Position, die durchaus auch Perspektiven im Hinblick auf die Sicherung des Lebensunterhalts eröffnet (vgl. BayVGH, U.v. 13.5.2013 – 13a B 12.30052 – juris Rn. 12; VGH BW, U.v. 17.1.2018 – A 11 S 241/17 – juris Rn. 479, 484, 493). Zudem stehen ihm auch Rückkehrhilfen zur Verfügung (vgl. BAMF an VG Augsburg vom 12.8.2016), die jedenfalls für die Anfangszeit einer Wiedereingliederung des Klägers in die afghanischen Verhältnisse sein Auskommen sichern, bis er aus eigener Kraft seinen Lebensunterhalt sichern kann (aus GARP-Mitteln 500 Euro je Erwachsener, aus ERIN-Mitteln ca. 700 Euro, näher dazu VG Augsburg, U.v. 18.10.2016 – Au 3 K 16.30949 – Rn. 21 m.w.N.; auch Asylos, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 19, 21, asylos.eu/wp-content/uploads/2017/08/AFG2017-05-Afghanistan-Situation-of-young-male-Westernised-returnees-to-Kabul-1.pdf; zudem BT-Drs. 19/1120, S. 15 f.), wobei nur ein Sechstel der Rückkehrer auch Leistungen nach der Rückkehr in Anspruch nahm (Asylos ebenda S. 20). Hinzu kommt z.B. eine von Deutschland unterstützte Hilfsorganisation vor Ort (IPSO), welche psycho-soziale Hilfe für 400 bis 500 Personen am Tag anbietet wie u.a. Übungen für Kenntnisse des Alltags in Afghanistan, Einzelberatung, und handwerkliche Fähigkeiten (Asylos ebenda S. 53 m.w.N.), sowie eine von IOM unterhaltene Unterkunftsmöglichkeit für die ersten zwei Wochen nach der Ankunft (EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 30). Auch eine Unterstützung des Klägers durch die im Iran lebenden Familienmitglieder erscheint nicht vornherein ausgeschlossen.
3. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage in Afghanistan liegt nach alledem auch nicht vor (s.o.). Auch Abschiebeverbote nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind nicht ersichtlich. Insofern wird ergänzend auf die Begründung des angegriffenen Bescheids Bezug genommen.
4. Die Entscheidung des Bundesamts, das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung zu befristen, weist keine Rechtsfehler auf. Die Länge der Frist liegt im Rahmen des § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG. Dass insoweit besondere Umstände vorlägen, die eine Verkürzung der Frist als zwingend erscheinen ließen, ist weder dargetan noch sonst ersichtlich.
II.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO.


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