Verwaltungsrecht

Erfolglose Beschwerde im Eilverfahren gegen die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zu Studienzwecken

Aktenzeichen  19 CS 18.2641

Datum:
12.3.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 12143
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, § 16 Abs. 1 S. 1, § 16 Abs. 2 S. 4, § 16 Abs. 4 S. 1, § 54 Abs. 2 Nr. 9
BMG § 17

 

Leitsatz

1 Bei Überschreitung der zulässigen Studiendauer kann die Aufenthaltserlaubnis nur dann noch weiter verlängert werden, wenn ein erfolgreicher Abschluss nachweislich abzusehen ist; ist die Regelstudienzeit jedoch erheblich überschritten, ist der Zeitraum bis zum voraussichtlichen Abschluss des Studiums jedoch regelmäßig nicht mehr angemessen. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG setzt in der Regel voraus, dass kein Ausweisungsinteresse besteht; die Bejahung eines solchen erfordert nicht, dass im konkreten Fall eine Ausweisung rechtsfehlerfrei verfügt werden könnte. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
3 Straftaten können auch dann ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse i.S.v. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG begründen, wenn die (ggf.) verhängte Strafe nicht das in § 54 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 AufenthG genannte Maß erreicht; vorsätzlich begangene Straftaten stellen regelmäßig schon keine geringfügigen Verstöße im Sinne dieser Bestimmung dar. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

W 7 S 18.1212 2018-12-11 Bes VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

Die zulässige Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 11. Dezember 2018, durch den einstweiliger Rechtsschutz gegen die Ablehnung des Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Studiums an einer Hochschule, gegen die Aufforderung zur Ausreise und gegen die Abschiebungsandrohung in die Volksrepublik China (vgl. Nrn. 1 bis 3 des Bescheides vom 29.6.2018) versagt worden ist, hat keinen Erfolg. Die in der Beschwerdebegründung angeführten Gründe, auf deren Prüfung sich das Beschwerdegericht grundsätzlich zu beschränken hat (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), greifen nicht gegen die Auffassung des Verwaltungsgerichts durch, die auf Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis gerichtete Klage werde keinen Erfolg haben, weil die behördliche Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis wegen fehlender Erreichbarkeit des Aufenthaltszwecks in einem angemessenen Zeitraum und wegen entgegenstehendem Ausweisungsinteresse nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG rechtmäßig ist. Aufgrund dessen überwiegt das Interesse der Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung der Klage im Hinblick auf den Wegfall der Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 AufenthG nicht das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung (§ 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Die Antragstellerin ließ durch ihren vormaligen Verfahrensbevollmächtigten vortragen, sie habe darauf vertrauen dürfen, dass die Ausländerbehörde die Aufenthaltserlaubnis verlängern werde. Bei der Entscheidung über die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis sei die Tatsache eines mehrjährigen und beanstandungsfreien Aufenthalts zu berücksichtigen. Die Ausländerbehörde habe der Antragstellerin die Aufnahme des Jurastudiums ermöglicht, obwohl schon bei der Aufnahme absehbar gewesen sei, dass eine Gesamtaufenthaltsdauer von zehn Jahren überschritten werde. Daher habe die Antragstellerin darauf vertrauen dürfen, dass ihr der Abschluss des Studiums ermöglicht werde. Die Verurteilung zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen sowie die vom Verwaltungsgericht angeführten Verstöße gegen einwohnerrechtliche Meldevorschriften stünden nicht dagegen. Bei der Straftat hätte berücksichtigt werden müssen, dass die Antragstellerin mit einem gültigen Ticket zur Prüfungsableistung an die Universität unterwegs gewesen sei, unter Zeitdruck gestanden sei und der Busfahrer ihr die Beförderung zu Unrecht verweigert und sie widerrechtlich im Bus festgesetzt habe. Das Verwaltungsgericht hätte in diesem Rahmen ein Selbsthilferecht der Antragstellerin prüfen müssen. Zu den melderechtlichen Verstößen sei es gekommen, da die Antragstellerin zeitweise über keinen festen Wohnsitz verfügt habe. Das Verwaltungsgericht habe den von der Ausländerbehörde gesetzten Vertrauenstatbestand nicht mit den marginalen Verstößen abgewogen, eine Auseinandersetzung mit den § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG zugrunde liegenden Sachverhalten habe nicht stattgefunden. Diese Ermessensausübung sei daher noch vorzunehmen.
Die Antragstellerin trägt durch ihren jetzigen Verfahrensbevollmächtigten weiter vor, der angegriffene Beschluss und die behördliche Ablehnung seien rechtswidrig und verletzten die Beschwerdeführerin in ihren Rechten. Bereits die öffentliche Zustellung sei fraglich, da die Beschwerdeführerin durch einen weiteren Rechtsstreit über das Verwaltungsgericht erreichbar gewesen sei. Die Prognose, ein Abschluss des Studiums der Rechtswissenschaft sei in absehbarer Zeit nicht möglich, sei unzutreffend. Es sei widersprüchlich, wenn die Antragsgegnerin nach erfolgreichem Studienabschluss im Magisterstudium „Deutsche Sprachwissenschaft“ und dem Aufbaustudium „Europäisches Recht“ wiederum eine Aufenthaltserlaubnis für den Studiengang Rechtswissenschaft erteile, obwohl bereits zu diesem Zeitpunkt absehbar gewesen sei, dass die Gesamtaufenthaltsdauer von zehn Jahren selbst bei exzellenten Studienleistungen überschritten werden würde. Der richtige Rat der Ausländerbehörde an die Beschwerdeführerin wäre gewesen, sich auf die Suche nach einem ausbildungsadäquaten Arbeitsplatz zu begeben und nicht ein weiteres Vollzeitstudium zu absolvieren. Hinsichtlich der ausstehenden Studienleistungen der Übungen für Fortgeschrittene im Strafrecht sei ein rechtsförmiges Verfahren anhängig, die Übung im Zivilrecht sei im Wintersemester 2015 an der FU Berlin absolviert worden und von der Universität W. anerkannt worden. Die Obergrenze von zehn Jahren Aufenthaltsdauer gelte nicht in Ausnahmefällen wie dem der Antragstellerin, die nach zwei erfolgreichen Studienabschlüssen ein weiteres Vollzeitstudium aufgenommen habe. Die Ausführungen zu den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen begegneten rechtlichen Bedenken, da diese strafrechtliche Verurteilung der Antragstellerin bislang nicht bekannt gemacht worden sei. Es erscheine aus strafrechtlicher Sicht mehr als fraglich, ob ein im Bus eingesperrter Fahrgast sich nicht aus dieser misslichen Situation befreien könne. Der entstandene Schaden sei zivilrechtlich erstattet worden. Das in Frankfurt a.M. anhängige Ermittlungsverfahren wegen Hausfriedensbruchs sei gegen Zahlung einer Geldauflage eingestellt worden. Im weiteren anhängigen Strafverfahren wegen Erpressung sei Stellung genommen und eine Verfahrenseinstellung angeregt worden. Es bestehe insgesamt keine Wiederholungsgefahr, da sich die Antragstellerin zur Tatbegehung wegen Erkrankung der Mutter und finanzieller Schwierigkeiten in einer Krise befunden habe. Die Antragstellerin verfüge über ausreichende Mittel zur Finanzierung des Studienaufenthalts sowie über bestehenden Krankenversicherungsschutz. Eine melderechtliche Anmeldung sei ohne Titel oder Duldung schwerlich möglich. Das Interesse der Antragstellerin an einem vorläufigen Verbleib im Bundesgebiet überwiege wegen der drohenden Nachteile bei einer Rückkehr nach China im Hinblick auf die Arbeitsplatzsuche, das Alter der Antragstellerin und ihre Chancen auf dem Heiratsmarkt.
Das Beschwerdevorbringen greift nicht durch. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Frage, ob der Antragstellerin ein im einstweiligen Rechtsschutz zu sichernder Anspruch auf Verlängerung oder Erteilung eines Aufenthaltstitels zusteht, ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. BVerwG, B.v. 2.12.2014 – 1 B 21/14 – juris Rn. 6).
Die Interessensabwägung des Verwaltungsgerichts, wonach wegen fehlender Erfolgsaussichten in der Hauptsache das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung überwiegt, ist nicht zu beanstanden. Die Antragstellerin hat voraussichtlich keinen Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 4, Abs. 4 Satz 1 AufenthG (1.); der Erteilung steht ein Ausweisungsinteresse nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entgegen (2.).
1. Die Klage der Antragstellerin auf Verpflichtung zur Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 4 AufenthG wird voraussichtlich keinen Erfolg haben.
Nach § 16 Abs. 2 Satz 4 AufenthG wird die Aufenthaltserlaubnis verlängert, wenn der Aufenthaltszweck noch nicht erreicht ist und in einem angemessenen Zeitraum noch erreicht werden kann. Der „angemessene Zeitraum“ im Sinne des § 16 Abs. 2 Satz 4 AufenthG bestimmt sich nach dem Aufenthaltszweck und den persönlichen Umständen sowie dem Bemühen des Ausländers, das Ziel seines Aufenthalts in einem überschaubaren Zeitraum zu erreichen. Anhaltspunkte für die zu treffende Prognoseentscheidung sind unter anderem die üblichen Studien- und Aufenthaltszeiten und das bisherige Studienverhalten des Ausländers, vor allem bisher erbrachte Zwischenprüfungen und Leistungsnachweise (vgl. BayVGH, B.v. 6.12.2018 – 10 CS 18.2271 – juris Rn. 10; B.v. 20.8.2018 – 10 CS 18.789 – juris Rn. 10; U.v. 5.5.2010 -19 BV 09.3103 – juris Rn. 53). Für die Angemessenheit des erforderlichen Zeitraums ist die durchschnittliche Studienzeit des jeweiligen Studiengangs zur Erreichung eines anerkannten Abschlusses zugrunde zu legen, wobei besondere Schwierigkeiten für den Ausländer zu berücksichtigen sind. Aus diesem Grund werden Überschreitungen der durchschnittlichen Fachstudiendauer von drei Semestern hingenommen (vgl. Nr. 16.1.1.6.2. AVwVAufenthG). Bei Überschreitung der zulässigen Studiendauer (Nr. 16.1.1.6.2 AVwVAufenthG) kann die Aufenthaltserlaubnis nur dann noch weiter verlängert werden, wenn ein erfolgreicher Abschluss abzusehen ist. Für diese Prognose bedarf es der Vorlage aussagekräftiger Bestätigungen der Hochschule. Der Zeitraum bis zum voraussichtlichen Abschluss des Studiums ist regelmäßig dann nicht mehr angemessen im Sinne des § 16 Abs. 1 Satz 5 Halbs. 2 AufenthG, wenn zu diesem Zeitpunkt die Regelstudienzeit erheblich überschritten ist (vgl. BayVGH, B.v. 24.7.2017 – 19 CS 16.2006 – juris Rn. 10; OVG LSA, B.v. 5.11.2014 – 2 M 109/14 – juris).
Nach diesen Maßgaben lässt sich für die Antragstellerin auch unter Berücksichtigung von weiteren, mit dem Beschwerdevorbringen vorgebrachten Studienleistungen nicht die Prognose stellen, dass gemäß § 16 Abs. 2 Satz 4 AufenthG der Aufenthaltszweck in einem angemessenen Zeitraum noch erreicht werden kann. Ausweislich § 5 Abs. 1 der Studien- und Prüfungsordnung der Universität W. für den Studiengang Rechtswissenschaft mit dem Abschluss Erste Juristische Prüfung vom 29. September 2008 in der Fassung vom 4. Juli 2018 (Studienordnung) gliedert sich das Studium, für das nach § 3 Abs. 1 Studienordnung eine Regelstudienzeit von neun Semestern vorgesehen ist, in eine Grund-, Mittelsowie Wiederholungs- und Vertiefungsphase. Die Grundphase wird nach § 5 Abs. 2 Satz 3 Studienordnung durch das Bestehen der Zwischenprüfung abgeschlossen. In der Mittelphase sind die Übungen für Fortgeschrittene zu besuchen (§ 5 Abs. 3 Satz 3 Studienordnung). Nach dem Studienplan der Juristischen Fakultät der Universität W. (mit empfehlendem Charakter nach § 7 Studienordnung) umfasst die Grundphase das 1. bis 3. Semester, die Mittelphase ist vom 4. bis 6. Semester und die Wiederholungs- bzw. Vertiefungsphase im 7. und 8. Semester vorgesehen. Die Antragstellerin, die sich im Sommersemester 2018 im 8. Fachsemester im Studiengang Rechtswissenschaft befand, kann bislang lediglich die bestandene Zwischenprüfung, die laut Studienplan am Ende des 3. Fachsemesters vorgesehen ist, vorweisen. An diesem Befund ändert auch das Beschwerdevorbringen, wonach über die nicht bestandene Übung für Fortgeschrittene im Strafrecht ein Klageverfahren anhängig sei und in einer Übung für Fortgeschrittene im Zivilrecht zumindest eine Teilleistung (Klausur, vgl. Bestätigung der Hochschule vom 13.4.2016) erbracht worden sei, nichts Maßgebliches. Es verbleibt bei der mit Stellungnahme vom 25. Oktober 2018 abgegebenen Einschätzung der Hochschule, dass die Antragstellerin bislang lediglich die Zwischenprüfung bestanden hat und die Leistungsnachweise in den Übungen für Fortgeschrittene im Zivilrecht, im Öffentlichen Recht und im Strafrecht jeweils noch zu erbringen sind. Die bisherigen Studienleistungen der Antragstellerin entsprechen somit mit dem Bestehen der Zwischenprüfung dem Abschluss der Grundphase, der laut Studienplan für das Ende des dritten Semesters vorgesehen ist. Die Antragstellerin, die bereits das 8. Fachsemester zurückgelegt hat und seit dem Sommersemester 2007, mithin seit nahezu 12 Jahren im Bundesgebiet studiert, liegt daher mit ihren Studienleistungen im Studiengang Rechtswissenschaft weit hinter den empfohlenen Studienzeiten des Studienplans zurück. In Anbetracht der bisherigen Studienleistungen erscheint ein Studienabschluss innerhalb von fünf Semestern (wie von Antragstellerseite vorgetragen) nicht realistisch; diese Prognose wird auch nicht durch eine positive Stellungnahme der Hochschule bestätigt. Aus der vom Verwaltungsgericht eingeholten Stellungnahme der Universität W. vom 25. Oktober 2018 ist lediglich zu schließen, dass die juristische Universitätsprüfung abgelegt und in den Übungen für Fortgeschrittene als Voraussetzung für die Zulassung zur ersten juristischen Staatsprüfung die erforderlichen Leistungen erbracht werden könnten. Eine Prognose eines erfolgreichen Studienabschlusses in angemessener Zeit wird darin -worauf das Verwaltungsgericht zutreffend hingewiesen hat – nicht gestellt. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht ausgeführt, dass die Stellungnahme der Hochschule vom 25. Oktober 2018 keinerlei Aussage zum zeitlichen Rahmen eines prognostizierten Studienabschlusses trifft und es der Antragstellerin seit dem Frühjahr 2015 nicht gelungen ist, nennenswerte Studienleistungen zu erbringen. Soweit das Beschwerdevorbringen darauf verweist, dass die zurückliegenden unzureichenden Studienleistungen einer persönlichen Krise geschuldet gewesen seien, die nunmehr überwunden sei, lässt dies sowohl mangels einer inzwischen eingetretenen deutlichen Leistungssteigerung als auch in Anbetracht dessen, dass die Antragstellerin weiterhin nicht über einen festen Wohnsitz verfügt, nicht die Schlussfolgerung zu, mit einem erfolgreichen Abschluss des Studiums sei in einem überschaubaren Zeitraum zu rechnen.
Aufgrund der erbrachten Studienleistungen im Studiengang Rechtswissenschaft und der persönlichen Umstände der Antragstellerin ist daher nicht die Prognose gerechtfertigt, das Studium könne innerhalb eines angemessenen Zeitraums abgeschlossen werden.
2. Für die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis fehlt es – worauf das Verwaltungsgericht zutreffend hingewiesen hat – darüber hinaus an der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG.
Nach dieser Vorschrift setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraus, dass kein Ausweisungsinteresse besteht.
Unter einem Ausweisungsinteresse gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist ein Tatbestand zu verstehen, der in § 54 AufenthG definiert ist. Für das Vorliegen eines Ausweisungsinteresses nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG kommt es nicht darauf an, ob der Ausländer tatsächlich ausgewiesen werden könnte. Vielmehr reicht es aus, dass ein Ausweisungsinteresse gleichsam abstrakt – d.h. nach seinen tatbestandlichen Voraussetzungen – vorliegt, wie es insbesondere im Katalog des § 54 AufenthG normiert ist. Der Begriff des Ausweisungsinteresses verweist auf das Ausweisungsrecht und greift die in § 53 Abs. 1, § 54 AufenthG gewählte und anhand von Beispielen erläuterte Begriffsbildung auf. Diese Vorschriften regeln die Aufenthaltsbeendigung bei Vorliegen eines öffentlichen Ausweisungsinteresses. Umgekehrt setzt die Begründung eines rechtmäßigen Aufenthalts durch Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG in der Regel voraus, dass kein Ausweisungsinteresse besteht (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 1 C 16/17 – juris Rn. 15). Die Bejahung eines „Ausweisungsinteresses“ erfordert auch nach der diesbezüglichen Begriffsänderung nicht, dass im konkreten Fall eine Ausweisung rechtsfehlerfrei verfügt werden könnte (vgl. BayVGH, B.v. 29.8.2016 – 10 AS 16.1602 – juris Rn. 21; VGH BW, B.v. 25.8.2015 – 11 S 1500/15 – juris).
Trotz des unterschiedlichen Gewichts der in § 54 AufenthG genannten Ausweisungsinteressen wird für die Regelerteilungsvoraussetzung des fehlenden Ausweisungsinteresses (zunächst) nicht weiter unterschieden oder gar eine Ausweisungsabwägung gemäß § 53 Abs. 1, 2 AufenthG getroffen (vgl. Samel in Bergmann/Dienelt, AuslR, 12. Aufl. 2018, AufenthG § 5 Rn. 48). Die Prüfung von Ausweisungsinteressen bei Erteilung eines Aufenthaltstitels dient dem Zweck, aktuell zu befürchtende Beeinträchtigungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder sonstiger erheblicher Interessen der Bundesrepublik Deutschland i.S.v. §§ 53 ff. AufenthG abzuwenden (vgl. Samel in Bergmann/Dienelt, AuslR, 12. Aufl. 2018, AufenthG § 5 Rn. 50). Für die wesentliche Frage, ob im Zeitpunkt der Erteilung eines Aufenthaltstitels ein Ausweisungsinteresse aktuell besteht, kommt es auf Art und Inhalt des jeweiligen Ausweisungsinteresses an (vgl. Hailbronner, AuslR, Stand 9/2018, § 5 Rn. 31 b). Bei Straftaten bleiben nur vereinzelte und geringfügige Verstöße gegen Rechtsvorschriften außer Betracht (§ 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG, vgl. Samel in Bergmann/Dienelt, AuslR, 12. Aufl. 2018, AufenthG § 16 Rn. 13, vgl. Bauer/Dollinger in Bergmann/Dienelt, a.a.O., § 54 Rn. 80). Straftaten können auch dann ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse i.S.v. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG begründen, wenn die (ggf.) verhängte Strafe nicht das in § 54 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 AufenthG genannte Maß erreicht (vgl. OVG NRW, B.v. 11.1.2019 – 18 A 4750/18 -juris). Vorsätzlich begangene Straftaten stellen regelmäßig schon keine geringfügigen Verstöße im Sinne dieser Bestimmung dar (vgl. BVerwG, B.v. 18.11.2004 – 1 C 23/03 – juris Rn. 19 ff.; BayVGH, B.v. 17.5.2017 – 19 CS 17.37 – juris Rn. 5; B.v. 5.7.2016 – 10 ZB 14.1402 – juris Rn. 14).
Die Bandbreite der schwerwiegenden Ausweisungsinteressen nach § 54 Abs. 2 AufenthG, die von vorsätzlichen Straftaten mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr (§ 54 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) bis zu nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstößen gegen Rechtsvorschriften (§ 54 Abs. 2 Satz 1 Nr. 9 AufenthG) reicht, erfordert insoweit eine differenzierte Betrachtungsweise bei der Anwendung des Regel-Ausnahme-Systems (vgl. BayVGH, B.v. 3.7.2017 – 19 CS 17.551 – juris Rn. 13; Hailbronner, AuslR, Stand 9/2018, § 5 Rn. 31). Eine Abwägung mit den privaten Bleibeinteressen erfolgt erst im Rahmen der Frage, ob eine Abweichung vom Regelfall im Sinne des § 5 Abs. 1 AufenthG vorliegt (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2018, a.a.O., juris Rn. 15).
Die Antragstellerin wurde laut Zentralregisterauskunft vom 13. November 2018 durch Strafbefehl des Amtsgerichts W. vom 20. Juli 2016 wegen einer am 27. April 2016 begangenen Straftat der Sachbeschädigung in Tatmehrheit mit Beleidigung zu einer Gesamtgeldstrafe von 80 Tagessätzen zu jeweils 20 Euro verurteilt. Der Tat lag ausweislich der Ermittlungsergebnisse zugrunde, dass die Antragstellerin ohne gültigen Fahrschein den öffentlichen Nahverkehr nutzte und sich weigerte, dem Busfahrer ihre Personalien anzugeben. Die Antragstellerin zerstörte die Scheibe der vom Busfahrer nicht geöffneten Bustüre und beleidigte den Busfahrer mehrfach. Die Einlassung der Antragstellerin, sie habe über einen gültigen Fahrschein verfügt, wurde nicht belegt und steht im Widerspruch zu den Ermittlungsergebnissen, wonach die Antragstellerin lediglich über ein für den ÖPNV nicht gültiges Bahnticket verfügte. Soweit sich die Beschwerdebegründung auf ein Selbsthilferecht der Antragstellerin beruft, ist ein solches nicht ersichtlich. Liegt eine rechtskräftige strafrechtliche Verurteilung vor, ist regelmäßig weder die Ausländerbehörde noch das Verwaltungsgericht gehalten, diese strafrechtliche Verurteilung zu überprüfen oder zu hinterfragen.
Des Weiteren weist die Zentralregisterauskunft vom 13. November 2018 zwei Strafverfolgungsgesuche vom 14. September 2017 und vom 18. April 2018 aus (wegen Erpressung), die wegen ungeklärten Auftenthalts der Antragstellerin nicht weiterverfolgt werden konnten. Ein weiteres strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen Sachbeschädigung vom 25. Juli 2018 wurde mangels öffentlichem Interesse an der Strafverfolgung nach §§ 374, 376 StPO eingestellt.
Aufgrund der strafrechtlichen Verurteilung der Antragstellerin mit Strafbefehl des Amtsgerichts W. vom 20. Juli 2016 wegen Sachbeschädigung in Tatmehrheit mit Beleidigung zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen ist von einer vorsätzlichen Straftat und damit einem nicht nur geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften im Sinne von § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG auszugehen. Darüber hinaus übersteigt das Strafmaß – worauf das Verwaltungsgericht zutreffend hingewiesen hat – den Geringfügigkeitsrahmen von 30 Tagessätzen bei weitem (vgl. Nr. 55.2.2.3.1 AVwVAufenthG, GMBl 2009, S. 878 ff.).
Hinzu kommt, dass die Antragstellerin sich durch Verstöße gegen die melderechtlichen Verpflichtungen nach § 17 BMG der Verfolgung weiterer Straftaten entzieht. Ausweislich der Stellungnahme der Staatsanwaltschaft F. vom 14. November 2018 ist es seit Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen die Antragstellerin wegen Erpressung am 24. August 2016 nicht möglich, die Beschuldigte zu erreichen. Es sei daher unter dem 14. September 2017 und dem 18. April 2018 ein Suchvermerk zum Bundeszentralregister sowie zum Ausländerzentralregister veranlasst und die Antragstellerin zur überörtlichen Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben worden. Aufgrund der vehementen Weigerung, sich amtlich zu melden, habe das Strafverfahren nicht weiter betrieben werden können. Ausweislich der Ermittlungsergebnisse der Polizeiinspektion W. vom 5. und 6. Februar 2018 (AS der Behördenakte S. 148, 202) waren mehrere erpresserische Vorgänge Gegenstand von Ermittlungsverfahren. Es kann daher weder von einem vereinzelten noch von einem geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften ausgegangen werden. Das Verhalten der Antragstellerin lässt vielmehr erkennen, dass sie sich bewusst und fortgesetzt der Erreichbarkeit für Strafverfolgungs- und sonstige Behörden entzogen hat, und ist daher Ausdruck einer nicht nur geringfügigen Missachtung der Rechtsordnung. Aufgrund des anhaltenden Verstoßes gegen melderechtliche Verpflichtungen erscheint eine Absenkung der Gewichtung des strafbaren Verhaltens der Antragstellerin unter Berücksichtigung der Auffangfunktion des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG auch mit Blick auf die weiteren Tatbestände des § 54 Abs. 2 AufenthG nicht geboten (vgl. OVG LSA, B.v. 10.10.2016 -2 O 26/16 – juris Rn. 10 ff.); darüber hinaus ist von einer konkreten Wiederholungsgefahr auszugehen.
Im Rahmen des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG erfolgt eine Abwägung mit den privaten Bleibeinteressen bei der Frage, ob eine Ausnahme vom Regelfall i.S.d. § 5 Abs. 1 AufenthG vorliegt. Eine solche wäre nur dann zu bejahen, wenn ein atypischer Fall gegeben ist, der so weit vom Regelfall abweicht, dass die Versagung des Aufenthaltstitels mit der Systematik oder der grundlegenden Entscheidung des Gesetzgebers nicht mehr vereinbar ist. Insbesondere liegt ein Ausnahmefall vor, wenn die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen höherrangigen Rechts wie etwa Art. 6 GG oder im Hinblick auf Art. 8 EMRK geboten ist (Bender/Leuschner in Hofmann, AuslR, 2. Aufl. 2016, AufenthG, § 5 Rn. 7). Weitere Kriterien für die Frage, ob ein atypischer, von der Regel abweichender Sachverhalt in Bezug auf § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG gegeben ist, konnten nach der Rechtsprechung zur vorherigen Fassung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG insbesondere die Dauer des straffreien Aufenthalts im Verhältnis zur Gesamtaufenthaltsdauer und die schutzwürdigen Bindungen im Inland sein. Ob ein Ausnahmefall vorliegt, ist aufgrund einer umfassenden Abwägung aller einschlägigen öffentlichen und privaten Interessen zu entscheiden und stellt eine Rechtsentscheidung dar (vgl. BayVGH, B.v. 27.12.2016 – 10 CS 16.2289 – juris Rn. 7).
Nach diesen Maßgaben ist auch unter Berücksichtigung des anfangs straffreien Aufenthalts im Verhältnis zur Gesamtaufenthaltsdauer der Antragstellerin nicht von einem atypischen Ausnahmefall auszugehen. Die Antragstellerin hat in der Vergangenheit jeweils befristete Aufenthaltstitel zu Studienzwecken, mithin zu einem von vornherein zeitlich befristeten Zweck erhalten. Im Hinblick darauf und auf das Fehlen schutzwürdiger Bindungen im Inland überwiegt insoweit das öffentliche Interesse an der Verhinderung weiterer Straftaten.
Bei dieser Sachlage kommt es nicht weiter darauf an, ob – wie die Antragsgegnerin vorträgt – darüber hinaus ein hinreichender Nachweis der Sicherung des Lebensunterhalts und ausreichenden Wohnraums nicht geführt wurde.
Die Ermessensentscheidung der Behörde ist – worauf das Verwaltungsgericht zutreffend hingewiesen hat – nicht zu beanstanden. Eine Rückkehr ins Heimatland erweist sich insbesondere unter Berücksichtigung der Erlangung zweier Hochschulabschlüsse im Bundesgebiet nicht als unverhältnismäßig. Das Alter der Antragstellerin und ihre Chancen auf dem heimatlichen Heiratsmarkt vermögen demgegenüber keine Unverhältnismäßigkeit zu begründen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG, wobei im vorläufigen Rechtsschutzverfahren der sogenannte Auffangstreitwert halbiert wird.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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