Verwaltungsrecht

Erfolglose Klage eines türkischen Staatsagehörigen mit Niederlassungserlaubnis gegen eine Ausweisungsverfügung

Aktenzeichen  M 10 K 17.1555

Datum:
9.8.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 26485
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 11, § 53 Abs. 3, § 54, § 55, § 58, § 59

 

Leitsatz

1. Bei spezialpräventiver Ausweisung und deren gerichtlicher Überprüfung haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte eine eigenständige Prognose hinsichtlich der Wiederholungsgefahr ohne Bindung an die Feststellungen der Strafgerichte zu treffen, wobei die besonderen Umstände des Einzelfalls, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Tat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt zu berücksichtigen sind. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
2. Für die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung sind auch die Kriterien des EGMR heranzuziehen und vor allem die Art und Schwere der begangenen Straftaten, die Dauer des Aufenthaltes im Aufenthaltsland, die seit Begehung der Straftat verstrichene Zeit und das seitherige Verhalten, die Staatsangehörigkeit, die familiäre Situation, besonders Kinder, deren Alter, ihre Belange und ihr Wohl wie auch Schwierigkeiten der Familie im Ausweisungszielstaat und die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielland zu berücksichtigen. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage hat in der Sache weder im Hauptantrag noch in den Hilfsanträgen Erfolg. Der Bescheid vom 10. März 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Er hat keinen Anspruch auf die hilfsweise beantragten Verwaltungsakte (vgl. § 113 Abs. 5 VwGO).
Mit Einverständnis der Beteiligten konnte das Gericht ohne weitere mündliche Verhandlung entscheiden (vgl. § 101 Abs. 2 VwGO).
I.
1. Die unter Ziffer 1 des Bescheids vom 10. März 2017 ausgesprochene Ausweisung ist rechtmäßig.
Nach § 53 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet (dazu unter a.), ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt (dazu unter b.). Ein Ausländer, dem nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht, darf nach § 53 Abs. 3 AufenthG nur ausgewiesen werden, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist (dazu unter c.).
a. Vom Kläger geht eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus, § 53 Abs. 1 AufenthG. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlichen Überprüfung eine eigenständige Prognose hinsichtlich der Wiederholungsgefahr zu treffen, ohne dass sie an die Feststellungen der Strafgerichte rechtlich gebunden sind (vgl. zum Erfordernis etwa BVerwG, U.v. 26.2.2002 – 1 C 21/00 – juris Rn. 22). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Tat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Für die Feststellung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr gilt ein differenzierender Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wonach an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BVerwG, U. v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18). Der Rang des bedrohten Rechtsguts bestimmt dabei die mögliche Schadenshöhe, wobei jedoch keine zu geringen Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gestellt werden dürfen (BVerwG, U. v. 10.7.2012, a.a.O.).
Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben muss das Gericht davon ausgehen, dass vom Kläger eine entsprechende Wiederholungsgefahr ausgeht und sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung besteht unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass vom Kläger die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten ausgeht. Der Kläger hat über einen Zeitraum von dreizehn Jahren eine Vielzahl von Straftaten begangen, welche letztlich mit einer vierjährigen Freiheitstrafe abgeurteilt wurden, die das Regelbeispiel des § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG weit überschreitet. Er hat über viele Jahre Eigentums- und Vermögensdelikte zur Beschaffung von Betäubungsmitteln und Betäubungsmitteldelikte begangen, insbesondere auch Handel getrieben. Bewährungsstrafen konnten den Kläger ebenso wenig von seiner Delinquenz abhalten wie das Wissen darum, dass er sein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik verlieren könnte. Die Beklagte hat aus diesem Verhalten zu Recht auf eine Wiederholungsgefahr geschlossen.
Dies gilt auch vor dem Hintergrund der Drogenabhängigkeit des Klägers sowie seiner im Maßregelvollzug absolvierten Therapie. In Fällen wie dem vorliegenden, in denen Betäubungsmittelstraftaten aufgrund einer bestehenden Drogenproblematik begangen worden sind, geht die Rechtsprechung regelmäßig davon aus, dass die konkrete Wiederholungsgefahr erst entfällt, sobald der Kläger eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und darüber hinaus die damit verbundene Erwartung künftigen drogen- und straffreien Verhaltens auch nach dem Therapieende glaubhaft gemacht hat (vgl. BayVGH, B.v. 10.4.2014 – 10 ZB 13.71 – juris Rn. 6 m.w.N.). Diese Grundregel trägt der Erfahrung Rechnung, wie schwierig eine Rückkehr in ein drogenfreies Leben ist. Sie gilt nicht ohne Ausnahmen, vielmehr können besondere Umstände des Einzelfalls nahelegen, dass eine Wiederholungsgefahr bereits vor Beendigung der Therapie entfallen ist. Der Kläger muss sich insoweit nicht von einer auf Grundlage anderer Fälle „festgelegten“ Rechtsprechung bestimmt fühlen. Das Gericht geht trotz der großen Anstrengungen, die der Kläger unternimmt, nicht davon aus, dass die Wiederholungsgefahr für erneute Straftaten bereits entfallen ist. Dabei verkennt das Gericht nicht, dass die Klägerseite zu Recht auf die positive Entwicklung im Maßregelvollzug hingewiesen hat. In der mündlichen Verhandlung und mit Schriftsatz vom 10. Juli 2018 hat die Klägerseite ausgeführt, dass der Kläger seine Therapiebemühungen äußerst ernst nimmt und bereits eine hohe Lockerungsstufe erreicht hat. Er übernachtet bereits bei seinem Sohn und geht einer Arbeit nach und kann mithin große Erfolge in seiner Therapie nachweisen. Auch konnte sich das Gericht in der mündlichen Verhandlung von der Ernsthaftigkeit des Therapiewillens überzeugen. Der Bericht vom 15. Juni 2018 des … …-Klinikums ist durchaus positiv, insbesondere der Empfangsraum bei der Familie des Sohnes des Klägers und der mittlerweile offene Umgang des Klägers mit seiner Sucht sind hervorzuheben. Jedoch muss das Gericht bei der Frage, ob ausnahmsweise von der Regelvermutung der Bewährung in Freiheit abgesehen werden kann, auch die Vorgeschichte des Klägers berücksichtigen. Seinen Therapiewillen hat er bereits mehrfach in Suchttherapien bzw. im Entzug bewiesen, konnte jedoch dem Suchtdruck nicht langfristig standhalten. Auch das Wissen um die strafrechtlichen und ausländerrechtlichen Konsequenzen konnte den Kläger von Rückfällen nicht abhalten. Es ist zu hoffen, dass der Kläger nunmehr im geschützten Raum eines Maßregelvollzugs die notwendigen Hilfestellungen erhalten hat. Jedoch litt der Kläger an einer besonders schweren Form der Betäubungsmittelabhängigkeit, welche einer Ausnahme von der Grundregel der Bewährung in Freiheit entgegensteht. Der Kläger war über einen Zeitraum von über zwanzig Jahren von THC, Heroin, Kokain, Speed, Ecstasy und LSD und damit von vielen verschiedenen, auch „harten“ Drogen abhängig. Er hat die vollständige Aufgabe seines Lebens zu Gunsten der Sucht bis hin zu Arbeits- und Wohnungslosigkeit erlebt. Mithin spricht zwar für eine ausnahmsweise früher entfallene Wiederholungsgefahr der positive Therapieverlauf, dagegen jedoch die sehr schwere Form der Abhängigkeit sowohl in zeitlicher Hinsicht als auch bezüglich Anzahl und Gefährlichkeit der Suchtmittel. Auch wenn der Kläger in der momentanen Lebenssituation keine Betäubungsmittel konsumiert, konnte er nicht nachweisen, dass er bei einer Veränderung seiner Lebensumstände, etwa Streit mit der Familie oder Problemen bei der Arbeit, nicht wieder sein drogen- und straffreies Verhalten aufgeben würde. Die Beziehung zum Sohn und die Arbeit hat der Kläger noch nicht lange wieder aufgenommen. Auch hat der Kläger Schulden in Höhe von 55.000 EUR.
Der Kläger hat mit einer Therapie einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung gemacht, um seine Sucht zu überwinden, er hat die Therapie aber noch nicht beendet und seine Unabhängigkeit in Freiheit bewiesen. Der Kläger lebt momentan immer noch in einer kontrollierten Umgebung, weshalb ein Rückfall bei der Rückkehr in die früheren Strukturen nicht ausgeschlossen werden kann. Dieser Gefahr trägt die Grundregel, dass das Überwinden der Betäubungsmittelabhängigkeit in Freiheit nachzuweisen ist, Rechnung, von der der Kläger aus den genannten Gründen keine Ausnahme darstellt. Nach alledem kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine Ausnahme vorliegt, die die Wiederholungsgefahr entfallen ließe.
b. Die Beklagte hat das Ausweisungsinteresse mit dem Bleibeinteresse des Klägers rechtmäßig gegeneinander abgewogen.
§ 53 AufenthG gestaltet die Ausweisung als Ergebnis einer umfassenden, ergebnisoffenen Abwägung aller Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus. Diese Abwägung ist voll gerichtlich überprüfbar. Sofern das öffentliche Interesse an der Ausreise das Interesse des Ausländers am Verbleib im Bundesgebiet nach dieser Gesamtabwägung überwiegt, ist die Ausweisung rechtmäßig. In die Abwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG sind die in §§ 54, 55 AufenthG vorgesehenen Ausweisungs- und Bleibeinteressen mit der im Gesetz vorgenommenen grundsätzlichen Gewichtung einzubeziehen. Neben den dort explizit aufgeführten Interessen sind aber noch weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar. Die in den §§ 54 f. AufenthG genannten Ausweisungs- und Bleibeinteressen werden nur allgemein als schwer bzw. besonders schwer typisiert, ohne im Sinne eines Automatismus die letztliche Interessenabwägung zu bestimmen. Erforderlich ist vielmehr eine Abwägung aller Umstände des Einzelfalles bereits auf Ebene des Tatbestands (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 49 f.; HessVGH, B.v. 5.2.2016 – 9 B 16/16 – juris Rn. 5; VG Düsseldorf, U.v. 11.2.2016 – 8 K 1493/15 – juris Rn. 45 ff.; VG München, B.v. 4.4.2016 – M 10 S 15.5791 – juris; Hailbronner, AuslR, § 53 Rn. 7 ff., 27).
Es sind für die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung auch die Kriterien des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte heranzuziehen (vgl. nur EGMR, U.v. 18.10.2006 – Üner, Nr. 46410/99 – juris; EGMR, U.v. 2.8.2001 – Boultif, Nr. 54273/00 – InfAuslR 2001, 476-481). Hiernach sind vor allem die Art und die Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten, die Dauer des Aufenthaltes in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll, die seit der Begehung der Straftat verstrichene Zeit und das seitherige Verhalten des Ausländers, die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen, die familiäre Situation des Ausländers, ob zu der Familie Kinder gehören und welches Alter diese haben, sowie die Ernsthaftigkeit der Schwierigkeiten, welche die Familienangehörigen voraussichtlich in dem Staat ausgesetzt wären, in den der Ausländer ausgewiesen werden soll, die Belange und das Wohl der Kinder und die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielland zu berücksichtigen (VG Oldenburg, U.v. 11.1.2016 – 11 A 892/15 – juris Rn. 24).
aa. Es liegt das besonders schwere Ausweisungsinteresse des § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vor. Die begangenen Straftaten wiegen auch im Einzelfall schwer: Der Kläger ist zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt worden. Er hat serienmäßig Beschaffungskriminalität begangen und dabei unter anderem arglose Opfer in einem geschützten Umfeld (Krankenhauszimmer, Personalraum) bestohlen. Bereits die Anzahl an begangenen Straftaten und erfolgten Verurteilungen zeigt das Ausmaß. Zudem hat der Kläger sich nicht nur des Erwerbs, sondern auch des Handeltreibens von Betäubungsmitteln schuldig gemacht. Gerade Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz sind eine besondere Gefahr für die Gesellschaft (vgl. EGMR, U.v. 19.03.2013 – 45971/08 – juris Rn. 47). Sie zu unterbinden, liegt im besonderen Interesse des Staates, was sich auch der gesetzlichen Wertung des § 54 Abs. 2 Nrn. 3 und 4 AufenthG entnehmen lässt.
bb. Diesem Ausweisungsinteresse steht das besonders schwerwiegende Bleibeinteresse des § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gegenüber. Der Kläger ist im Besitz einer Niederlassungserlaubnis und hält sich seit über dreißig Jahren in Deutschland auf. Neben diesem normierten Bleibeinteresse hat der Kläger familiäre Kontakte in Deutschland. Zwar ist sein Sohn volljährig und auf die Anwesenheit des Klägers im Bundesgebiet nicht angewiesen. Doch hat der Kläger mittlerweile einen guten Kontakt zu ihm und seiner Familie sowie weiteren Angehörigen, die in Deutschland leben und ihm Stabilität nach der Haftentlassung bieten. Der Kläger hält sich bei der Familie seines Sohnes auf. Zu Gunsten des Antragstellers ist zu berücksichtigen, dass seine Enkel noch sehr jung sind und daher die Trennung von ihnen besonders schwer wiegt, da ihre Entwicklung schnell voran schreitet. Jedoch steht das Verhältnis von Großeltern zu ihren Enkeln unter einem geringeren Schutz als das von Eltern zu ihren minderjährigen Kindern.
Auch wenn der Kläger keine Berufsausbildung abgeschlossen hat, hat er mittlerweile eine Arbeitsstelle.
cc. Die Beklagte hat die Abwägung dieser widerstreitenden Interessen rechtmäßig vorgenommen. Angesichts der massiven Straffälligkeit des Klägers konnte die Beklagte den langjährigen rechtmäßigen Aufenthalt des Klägers in Deutschland beenden. Allein das Urteil vom 1. Dezember 2016 umfasst 28 Taten. Der Kläger ging mit seiner Mittäterin mit erheblicher krimineller Energie vor. Zwar riefen die einzelnen Taten meist keinen hohen Schaden hervor, doch die große Anzahl an Taten wiegt schwer. Auch wenn der Kläger nur bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr in der Türkei gelebt hat, ist ihm ein Einleben dort zumutbar. Der Kläger hat sich zu Entzugszwecken mehrfach in der Türkei aufgehalten. Das Gericht geht mit der Beklagten davon aus, dass der Kläger türkisch spricht, wenn er bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr in der Türkei gelebt hat und seine Eltern beide aus der Türkei stammen. Zu Recht ist die Beklagte davon ausgegangen, dass der Kläger mit den in Deutschland erworbenen Kenntnissen auf dem türkischen Arbeitsmarkt seinen Lebensunterhalt sichern kann.
c. Die Beklagte hat auch die besonderen Anforderungen des § 53 Abs. 3 AufenthG berücksichtigt.
Ungeachtet der Formulierung, wonach die Ausweisung „unerlässlich“ sein muss, kommen auch im assoziationsrechtlichen Kontext die in der deutschen Rechtsprechung zur Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen der Gefahrenabwehr entwickelten Grundgedanken zum Tragen. Insbesondere richtet sich die erforderliche Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts auch hier nach dem Rang des betroffenen Rechtsguts. Zu berücksichtigen ist aber immer auch der Rang des assoziationsrechtlichen Freizügigkeitsrechts, sodass an die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit keine zu geringen Anforderungen gestellt werden dürfen (BVerwG, U.v. 10.07.2012 – 1 C 19/11). Mit der Formulierung, dass „das persönliche Verhalten (…) gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr“ darstellen muss, wird eine generalpräventiv motivierte Ausweisung ausgeschlossen (vgl. EuGH BeckRS 2004, 76569). Darin liegt ein maßgeblicher Unterschied gegenüber unionsrechtlich nicht besonders geschützten Ausländern (vgl. insgesamt BeckOK AuslR/Tanneberger AufenthG § 53 Rn. 120-120e). Auch aus spezialpräventiven Gründen ist die Ausweisung des Klägers rechtmäßig. Es ist erneut darauf hinzuweisen, dass der Kläger über einen sehr langen Zeitraum und vielfach straffällig wurde. Er handelte dabei in vielen Fällen gemeinschaftlich und ging planvoll und mit hoher krimineller Energie vor. So wurde etwa ein Stempel eines Klinikums entwendet, um anschließend Apothekenangestellte zur Ausstellung von Rezepten zu veranlassen. Teilweise drangen der Kläger und seine Mittäterin in besonders geschützte Räume ein (Krankhauszimmer, Personalraum). Zudem hat der Antragsteller zahlreiche Betäubungsmitteldelikte begangen, vor denen zu schützen der Staat die besondere Pflicht hat.
2. Vor diesem Hintergrund sind auch die Ziffern 2 und 3 des angefochtenen Bescheids rechtmäßig.
Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 2 AufenthG in Ziff. 2 des Bescheids auf sieben Jahre unter der Bedingung der nachgewiesenen Straf- und Drogenfreiheit, ansonsten neun Jahre ist verhältnismäßig. Die Frist berücksichtigt die Anforderungen des § 11 Abs. 3 AufenthG. Sie übersteigt zehn Jahre nicht. Angesichts der häufigen Straffälligkeit des Klägers ist eine fünf Jahre übersteigende Frist angemessen.
Auch die Anordnung der Abschiebung des Klägers aus der Haft heraus (Ziff. 3 des Bescheids) ist rechtlich nicht zu beanstanden. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 59 Abs. 5 Satz 1 AufenthG i.V.m. § 58 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG. Die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung (auch Ziff. 3 des Bescheids) für den Fall, dass die Abschiebung während der Haft nicht durchgeführt werden kann, sind ebenfalls rechtmäßig im Sinne des § 59 AufenthG. Der Kläger ist gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig; durch die Ausweisung ist sein Aufenthaltstitel erloschen (§ 51 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG).
3. Auch die mit Schriftsatz vom 10. Juli 2018 gestellten Hilfsanträge haben in der Sache keinen Erfolg. Der Kläger hat keinen Anspruch auf eine sogenannte „Bewährungsduldung“. Eine dahingehende Verpflichtung der Beklagten kann das Gericht schon aus dem Grund nicht aussprechen, weil das Rechtsinstitut einer sog. „Bewährungsduldung“ im Aufenthaltsgesetz nicht vorgesehen ist. Eine sog. „Bewährungsduldung“ kann vielmehr nur im Rahmen einer gütlichen Einigung mit Zustimmung der Beklagten vereinbart werden. Im vorliegenden Fall hat die Beklagte einer gütlichen Einigung nicht zugestimmt. Auch hat der Kläger keine Gründe für eine Aufenthaltserlaubnis vorgetragen, der zudem die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG fehlte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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