Verwaltungsrecht

Erfolglose Klage von kurdischem Asylbewerber

Aktenzeichen  Au 6 K 18.31090

Datum:
14.7.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 23209
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 1, § 3a Abs. 1 Nr. 2, § 3c, § 3d, § 4, § 77 Abs. 2, § 83b
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
EMRK Art. 3, Art. 15 Abs. 2
RL 2011/95/EU Art. 15

 

Leitsatz

1. Eine unbehelligte Ausreise aus der Türkei ist im Allgemeinen ein Indiz gegen das Vorliegen eines Haftbefehls oder einer Ausreisesperre und damit gegen ein staatliches Verfolgungsinteresse. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es liegen keine Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete Gruppenverfolgung ethnischer Kurden vor (Anschluss an VGH München BeckRS 2020, 6605). (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die Gewährung subsidiären Schutzes oder auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 30. Mai 2018 ist daher rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Es wird insoweit in vollem Umfang Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.
Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen – den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG – muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
Eine Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31/18 – juris Rn. 16) entspricht.
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31/18 – juris Rn. 16).
a) Daran fehlt es vorliegend. Der Kläger ist – wie die Beklagte nachvollziehbar ausgeführt hat – nicht wegen eines individuellen Verfolgungsmerkmals in der Türkei unter Druck geraten, sondern – unter vorläufiger Wahrunterstellung seiner Angaben – wegen ihm durch private Dritte angetanem bzw. angedrohtem kriminellen Unrecht. Damit liegt keine flüchtlingsrelevante Verfolgung vor, weder seitens Privater noch seitens des türkischen Staats.
Gegen ein staatliches Verfolgungsinteresse spricht zudem die unbehelligte Ausreise mit eigenem Reisepass. Da in der Türkei strenge Ausreisekontrollen stattfinden, wird türkischen Staatsangehörigen, gegen welche ein vom türkischen Innenministerium oder von einer Staatsanwaltschaft verhängtes Ausreiseverbot vorliegt und die auf einer entsprechenden Liste stehen, bereits die Erteilung eines Reisepasses versagt oder sie werden bei Besitz eines Reisepasses an der Ausreise gehindert (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das BAMF vom 11.6.2018, S. 1 f.; näher dazu unten). Ein Personalausweis hingegen wird ausgestellt (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 14). Ob eine Ausstellung eines Reisepasses und eine unbehelligte Ausreise auch durch Bestechung erlangt werden können, kann nicht ausgeschlossen werden (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 15 und 16); im Allgemeinen aber ist eine unbehelligte Ausreise ein Indiz gegen das Vorliegen eines Haftbefehls oder einer Ausreisesperre (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 10.4.2019 an das VG Regensburg, S. 2 f. zu Frage 7) und damit gegen ein staatliches Verfolgungsinteresse.
b) Eine Gruppenverfolgung allein wegen einer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden haben Asylbewerber aus der Türkei nicht zu befürchten. Kurden gehören zu einer weit verbreiteten Bevölkerungsgruppe in der Türkei; Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete Gruppenverfolgung ethnischer Kurden liegen nicht vor (vgl. SächsOVG, B.v. 9.4.2019 – 3 A 358/19 – Rn. 13; BayVGH, B.v. 10.2.2020 – 24 ZB 20.30271 – Rn. 6).
2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S. des § 4 Abs. 1 AsylG. Er hat keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihm bei einer Rückkehr in die Türkei ein ernsthafter Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht.
Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
Die Aufenthaltsbeendigung eines Ausländers durch einen Konventionsstaat kann Art. 3 EMRK verletzen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen und bewiesen sind, dass der Ausländer im Zielstaat einer Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt zu werden. Dann ergibt sich aus Art. 3 EMRK die Verpflichtung für den Konventionsstaat, den Betroffenen nicht in dieses Land abzuschieben (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 – 41738/10 – NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 173 m.w.N.).
a) Der Kläger hat eine ernsthafte Bedrohung, so sie eine Gefährdungslage i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG in Gestalt der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe begründen würde, nicht glaubhaft gemacht.
Die Todesstrafe ist in der Türkei abgeschafft (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 21, 236 – im Folgenden: Lagebericht). Für extralegale Hinrichtungen liegen derzeit keine Anhaltspunkte vor. Gegen etwaige Tötungen durch private Dritte ist der türkische Staat – wie jeder Staat nicht lückenlos – schutzfähig, aber doch grundsätzlich schutzwillig. Der Kläger hätte sich insoweit, ggf. mit anwaltlicher Hilfe, des Schutzes des türkischen Staats und insbesondere der Spezialabteilung gegen organisierte Kriminalität und Drogenkriminalität versichern können, worauf die Beklagte nachvollziehbar hinweist.
b) Der Kläger hat eine ernsthafte Bedrohung, so sie eine Gefährdungslage i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wegen Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung begründen würde, nicht glaubhaft gemacht. Hierzu gilt das soeben Gesagte entsprechend.
Der türkische Staat ist grundsätzlich schutzfähig und schutzwillig. Der Kläger hat hier nicht alle zur Verfügung stehenden Mittel und Wege für staatlichen Schutz im Herkunftsstaat ausgeschöpft, bevor er im Ausland Schutz gesucht hat: So hätte sich der Kläger, wenn er der örtlichen Polizei nicht vertraute wegen seines Verdachts ihrer Verstrickung mit der Drogenmafia, zumindest über einen türkischen Anwalt Kontakt zur höheren Polizeiebene oder zur Spezialeinheit „K. v. O. S. M. D.i B.“ (Schmuggel und organisierte Kriminalität), welche insbesondere für die Bekämpfung von Drogenkriminalität und Drogenschmuggel zuständig ist, aufnehmen können. Auch wenn bereits Rauschgiftfahnder am Tatort gewesen sein sollten (vgl. Protokoll vom 14.7.2020 S. 4), wäre die Verständigung der Spezialeinheit nicht ausgeschlossen gewesen. Ebenso hätte er versuchen können, durch Melde- und Auskunftssperre zusätzlichen Schutz zu erlangen, auch vor Eintragungen in das Sozialversicherungssystem und in e-Devlet. Ebenso hätte er gegen die Verfahrenseinstellung durch die Staatsanwaltschaft Beschwerde einlegen und – mit einem in der Türkei Bevollmächtigten – auch die Beschwerdefrist wahren sowie ggf. auf weitere Beweise hinweisen können. Dass er von dieser Möglichkeit nicht gewusst habe, wie er in der mündlichen Verhandlung angab (vgl. Protokoll vom 14.7.2020 S. 3 f., 5 f.), ändert daran nichts, denn auch im ihm fremden Deutschland hat er sich anwaltlicher Hilfe bedient.
d) Soweit der Kläger lokal oder regional begrenzte Gefahren erlitten hat oder befürchtet, kann er, da er nicht landesweit in dieser Gefahr ist (vgl. oben), diesen durch Umzug in andere Landesteile zumutbar ausweichen (§ 3e i.V.m. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG), wie er es auch durch Umzüge zwischen … und … getan hat. Dass er in … in seinem Betrieb (aber nicht an seiner Wohnung) gesucht, gefunden und aufgesucht wurde, ebenso in … in der Nähe seiner Familie, schließt einen Wechsel in andere Regionen, zu denen der Kläger keinen solchen Ortsbezug gehabt hat, oder ggf. unter Vorkehrungen der o.g. Spezialeinheit (Auskunftssperre etc., vgl. oben) nicht aus.
3. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor. Auf den Bescheid des Bundesamts wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG). Der erwachsene, gesunde und erwerbsfähige sowie langjährig erwerbstätige Kläger würde im Fall seiner Abschiebung in die Türkei keiner besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt sein, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass seine elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nicht gesichert wären.
4. Nachdem sich auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG als rechtmäßig erweist, war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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