Verwaltungsrecht

Erfolgloser Antrag auf Wiederaufgreifen eines rechtskräftig abgeschlossenen Asylverfahrens

Aktenzeichen  Au 9 K 20.30541

Datum:
17.9.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 27914
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 113 Abs. 5 S. 1
VwVfG § 51 Abs. 1
VwVfG § 49
AufenthG § 60 Abs. 5
AufenthG § 60 Abs. 7

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerinnen haben die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage der Klägerinnen aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 17. September 2020 verhandeln und entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat. Auf den Umstand, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, wurden die Beteiligten ausweislich der Ladung ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO). Die Beklagte ist zur mündlichen Verhandlung vom 17. September 2020 form- und fristgerecht geladen worden.
Die Klage hat keinen Erfolg. Sie ist zwar zulässig, aber unbegründet.
Die Klägerinnen haben im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AsylG) keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Wege der Wiederaufnahme des behördlichen Verfahrens bzw. auf ermessensfehlerfreie Entscheidung diesbezüglich. Der diesen Anspruch versagende Bescheid des Bundesamts vom 15. April 2020 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Zur Begründung wird zunächst unter Absehen von der weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe auf die im Wesentlichen zutreffenden Ausführungen des Bundesamts im angefochtenen Bescheid Bezug genommen, denen das Gericht folgt (§ 77 Abs. 2 AsylG). Ergänzend ist noch Folgendes auszuführen:
Das Bundesamt ist im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass die Klägerinnen die Wiederaufnahmevoraussetzungen des § 51 VwVfG nicht erfüllen. Nach dem hier allein in Betracht kommenden Abs. 1 Nr. 1 und 2 dieser Vorschrift hat die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsakts zu entscheiden, wenn (1) sich die dem Verwaltungsakt zugrundeliegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat oder (2) neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden. Beides ist hier nicht der Fall.
Neue Beweismittel wurden im Wiederaufnahmeverfahren bereits nicht vorgelegt. Es liegt aber auch zugunsten der Klägerinnen keine Änderungen der Sach- und Rechtslage vor, die eine günstigere Entscheidung herbeiführen könnte.
Eine nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG kann weder dem klägerischen Vortrag entnommen werden noch ist eine derartige Veränderung ersichtlich. Eine Änderung der Sachlage ist dann anzunehmen, wenn sich entweder die allgemeinen politischen Verhältnisse oder Lebensbedingungen im Heimatstaat oder aber die das persönliche Schicksal des Asylbewerbers bestimmenden Umstände so verändert haben, dass eine für den Asylbewerber günstigere Entscheidung möglich erscheint (vgl. Bergmann in Bergmann/Dienelt, AuslR, 12. Auflage 2018, § 71 Rn. 24).
Soweit die Klägerinnen zur Begründung ihres Antrags auf Wiederaufgreifen des Verfahrens auf eine ihnen angeblich drohende Gefahr der Genitalverstümmelung (FGM) verweisen, bleibt anzumerken, dass dieser Vortrag bereits Gegenstand der rechtskräftig abgeschlossenen Asylerstverfahren war. Insoweit ist bereits keine Änderung der Sachlage aufgezeigt.
Hierbei ist insbesondere auch nach dem Informationsbrief des Informationszentrums Asyl und Migration – Weibliche Genitalverstümmelung – Formen – Auswirkungen – Verbreitung – Asylverfahren vom April 2010 maßgeblich auf die jeweilige Volkszugehörigkeit abzustellen. Die Klägerinnen sind Volkszugehörige der Volksgruppe der Edo. Bei Volkszugehörigen der Edo (bzw. Bini oder Benin) findet weibliche Genitalverstümmelung regelmäßig nur zwischen dem 7. und 14. Tag nach der Geburt statt. Das Auswärtige Amt hat bereits im Jahr 2005 darüber hinaus Zweifel daran erhoben, ob bei Volkszugehörigen der Edo überhaupt noch weibliche Genitalverstümmelung (FGM) stattfindet. Bezüglich der Volksgruppe der Edo wird mittlerweile häufig festgestellt, dass weibliche Genitalbeschneidungen gar nicht mehr vollzogen werden. Bereits ausgehend von der Ethnie und vom Alter der Klägerinnen ist bereits die Gefahr einer weiblichen Genitalverstümmelung bei einer Rückkehr nach N. ausgeschlossen. Im Übrigen ist der vorhandene Familienverbund in der Lage, ausreichenden Schutz vor einem evtl. sozialen Druck zur Durchführung einer FGM sicherzustellen. Schließlich ist darauf zu verweisen, dass die Familie der Klägerinnen bei einer Rückkehr nach N. nicht gezwungen ist, an ihre vormaligen Aufenthaltsorte zurückzukehren. Das Gericht ist der Auffassung, dass die Familie der Klägerinnen durchaus in der Lage ist, innerhalb N.s eine anderweitige Relokationsmöglichkeit zu ergreifen. Auch hat sich die familiäre Situation der Klägerinnen seit der asylrechtlichen Erstentscheidungen nachfolgend nicht verändert. Insoweit gelten die rechtskräftig gewordenen Feststellungen aus den gerichtlichen Entscheidungen vom 26. Oktober 2018 (rechtskräftig seit dem 4. Dezember 2018) unverändert fort.
Auch eine Änderung in Bezug auf das Vorliegen von zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind nicht ersichtlich.
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die schlechte wirtschaftliche Situation in N. – hier leben immer noch ca. 70% der Bevölkerung am Existenzminimum und sind von informellem Handel und Subsistenzwirtschaft abhängig (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik N. – Lagebericht – vom 16.1.2020, Stand. September 2019, Nr. I.2., S. 8) – ebenso wie die Situation hinsichtlich der verschiedenen gewalttätigen Auseinandersetzungen und Übergriffe, z.T. auch durch die Sicherheitskräfte, und die damit zusammenhängenden Gefahren (s.o. und Lagebericht AA a.a.O. Nr. II.2 und 3., S.15 f.) grundsätzlich nicht zu einer individuellen, gerade dem Kläger drohenden Gefahr führt, sondern unter die allgemeinen Gefahren zu subsumieren ist, denen die Bevölkerung oder relevante Bevölkerungsgruppe allgemein ausgesetzt ist und die gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG durch Anordnungen gemäß § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen sind.
Der Umstand, dass im Falle einer Aufenthaltsbeendigung die Lage eines Betroffenen erheblich beeinträchtigt würde, reicht allein nicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen; anderes kann nur in besonderen Ausnahmefällen gelten, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen, wie zum Beispiel im Falle einer tödlichen Erkrankung in fortgeschrittenen Stadium, wenn im Zielstaat keine Unterstützung besteht (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – BVerwGE 146, 12-31, juris, Rn. 23 ff. m.w.N.). Im Hinblick auf die Bewertung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK gelten dabei bei der Beurteilung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG die gleichen Voraussetzungen wie bei der Frage der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – a.a.O. – juris Rn. 22, 36).
Auch eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben (§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) für einen Betroffenen aufgrund allgemein für die Bevölkerung bestehender Gefahren, die über diese allgemein bestehenden Gefahren hinausgeht ist, nur im Ausnahmefall im Sinne eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – a.a.O. – juris Rn. 38). Ein Ausländer kann im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser allgemein bestehenden Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für die Betroffenen die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Betroffenen daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren (zum Ganzen BVerwG, U.v. 31.1.2013 a.a.O., juris Rn. 38).
Für derartige besondere Gefahren aufgrund schlechter humanitärer oder wirtschaftlicher Verhältnisse ist hier nichts ersichtlich. Insbesondere kann im Falle der Kläger nicht davon ausgegangen werden, dass die schlechte wirtschaftliche Situation in N. zu einem Abschiebungsverbot aufgrund schlechter humanitärer Verhältnisse führt, die im Ausnahmefall als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK qualifiziert werden könnten. Eine Änderung der Sach- und Rechtslage ist hier zugunsten der Klägerinnen bereits nicht ersichtlich. Bei einer unterstellten Rückkehr der ausreisepflichtigen Familie nach N. gelten die rechtskräftigen Feststellungen aus den bereits durchgeführten Asylerstverfahren unverändert fort.
Gleiches gilt letztlich in Bezug auf das Vorliegen von gesundheitsbedingten zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten. Nennenswerte gesundheitliche Einschränkungen sind bei den Klägerinnen nicht bekannt geworden. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der sich wohl auch in Afrika ausbreitenden Corona-Pandemie. Auch dieser Umstand ist nicht geeignet, zur Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu führen. Insoweit gilt es die Vorschrift des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG zu beachten. Danach sind Gefahren nach § 60 Abs. 7 Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, nur bei einer Anordnung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Eine derartige allgemeine Entscheidung hinsichtlich des Zielstaats N. i.S.d. § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG liegt derzeit nicht vor. Eine persönliche Betroffenheit von der Krankheit selbst haben die Klägerinnen nicht aufgezeigt.
Im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung sind überdies in N. lediglich 56.604 Corona-Fälle bestätigt, wovon 47.872 Personen genesen sind und es lediglich zu 1.091 Todesfällen gekommen ist (Quelle: COVID-19 pandemic data, Wikipedia, Stand: 17.9.2020). Demnach handelt es sich um eine lediglich abstrakte Gefährdung, der im Rahmen des § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu begegnen ist. Der von den Klägerinnen angeführte Umstand ist daher nicht geeignet, für diesen ein Abschiebungsverbot auf der Grundlage des § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu begründen.
Damit haben die Klägerinnen aber auch keinen Anspruch auf ein Wiederaufgreifen im weiteren Sinne gemäß § 51 Abs. 5 i.V.m. §§ 48,49 VwVfG. Die Klägerinnen haben diesbezüglich zwar einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung. Im gerichtlichen Verfahren beachtliche Ermessensfehler (§ 114 VwGO) sind vorliegend weder ersichtlich, noch vorgetragen.
Nach allem war die Klage daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Als im Verfahren unterlegen haben die Klägerinnen die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner gemäß § 159 Satz 2 VwGO zu tragen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben