Verwaltungsrecht

Erfolgloser Antrag auf Zulassung einer Berufung wegen der Existenzgefährdung einer geschiedenen somalischen Frau aus einem niederen Clan in Somalia

Aktenzeichen  20 ZB 16.30096

Datum:
31.7.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 124616
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, § 78 Abs. 3 Nr. 1, Abs. 4 S. 4
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1 Um den Zulassungsgrund der Divergenz darzulegen, muss der Antragsteller nicht nur die Divergenzentscheidung genau benennen, sondern auch darlegen, welcher Rechts- oder Tatsachensatz in dem Urteil des Divergenzgerichts enthalten ist und welcher bei Anwendung derselben Rechtsvorschrift in dem angefochtenen Urteil aufgestellte Rechts- oder Tatsachensatz dazu im Widerspruch steht. (Rn. 2) (redaktioneller Leitsatz)
2 Der Umstand, dass im Falle einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, reicht allein nicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 2 K 15.30699 2016-04-14 Ent VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung ist zulässig, hat in der Sache aber keinen Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe liegen nicht vor bzw. sind schon nicht dargelegt (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG).
1. Der geltend gemachte Zulassungsgrund der Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG) wurde nicht in einer den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG entsprechenden Weise dargelegt. Um den Zulassungsgrund der Divergenz darzulegen, muss der Antragsteller nicht nur die Divergenzentscheidung genau benennen, sondern auch darlegen, welcher Rechts- oder Tatsachensatz in dem Urteil des Divergenzgerichts enthalten ist und welcher bei Anwendung derselben Rechtsvorschrift in dem angefochtenen Urteil aufgestellte Rechts- oder Tatsachensatz dazu im Widerspruch steht (Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124a, Rn. 73 m.w.N.). Die Klägerin macht zwar geltend, dass die angegriffene Entscheidung von dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. Juni 2008 (BVerwG 10 C 43.07 = BVerwGE 131, 198, juris) abweiche. Zur Begründung wiederholt sie zunächst die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils, in denen das Verwaltungsgericht – nach der Auffassung der Klägerin zutreffend – die vom Bundesverwaltungsgericht in o.g. Entscheidung aufgestellten Kriterien für das Vorliegen gefahrerhöhender Umstände in der Person des Asylantragstellers wiedergibt. Sodann erläutert die Klägerin, weshalb das Verwaltungsgericht – ihrer Auffassung nach – das Vorliegen einer solchen erhöhten Gefahrenlage i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG in ihrer Person zu Unrecht verneint hat. Sie kritisiert, dass das Verwaltungsgericht die in ihrer Person vorliegenden besonderen Umstände unzutreffend bewertet habe. Hätte das Verwaltungsgericht die Ausführungen im o.g. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts beachtet, so hätte es nach der Auffassung der Klägerin individuelle gefahrerhöhende Umstände bejahen und ihr angesichts der Bürgerkriegssituation in Somalia einen Anspruch auf subsidiären Schutz zusprechen müssen. Damit benennt die Klägerin keinen von einem in der o.g. Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten Rechtssatz abweichenden abstrakten Rechtssatz, den das Verwaltungsgericht aufgestellt habe. Dies wäre aber zur Darlegung einer Divergenz erforderlich gewesen. Die Klägerin übt vielmehr Kritik an der Rechtsanwendung des Verwaltungsgerichts im Einzelfall. Der Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) kommt im Asylprozess jedoch nach der abschließenden Sonderregelung des § 78 Abs. 3 AsylG nicht in Betracht.
2. Die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) liegt nicht vor. Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache, wenn für die angefochtene Entscheidung des Verwaltungsgerichts die im Zulassungsantrag dargelegte konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage von Bedeutung war sowie ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist – Klärungsfähigkeit – und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist – Klärungsbedürftigkeit (Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 36). Klärungsbedürftig sind nur Fragen, die nicht ohne weiteres aus dem Gesetz zu lösen sind oder durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts oder des Berufungsgerichts geklärt sind (Happ, a.a.O., Rn. 38).
a) Die Klägerin hält die Frage für grundsätzlich bedeutsam,
ob eine (geschiedene) somalische Frau aus einem niederen Clan, deren Ex-Mann sie misshandelte, weshalb sie vor ihm floh und ihre Familie sie außer Landes brachte, und die in Deutschland drei bzw. vier weitere Kinder von anderen Männern zur Welt gebracht hat, im Fall einer unterstellten Rückkehr im Bürgerkriegsgebiet aufgrund dieser individuellen Charakteristika in stärkerem Umfang von der allgemeinen ungezügelten Gewalt betroffen ist als die Durchschnittsbevölkerung.
Diese Frage sei sowohl für die Frage bedeutsam, ob der Klägerin ein Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 AsylG zusteht, als auch für die Frage, ob ihr ein Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zusteht.
b) Des Weiteren hält die Klägerin die Frage für grundsätzlich bedeutsam,
ob es einen allgemeinen Erfahrungssatz gibt, dass bei der gegebenen Fallkonstellation – Angehörige eines minderen Clans, der mit dem höherrangigen Clan des Ex-Mannes im Streit liegt, weshalb die Klägerin außer Landes gebracht wurde – eine alleinerziehende Mutter dreier bzw. vierer weiterer Kinder von zwei anderen Männern unter Berücksichtigung der kulturellen und religiösen Überzeugungen in Somalia so versorgt werden, dass sie nicht alsbald existenziellen Entbehrungen ausgesetzt sind und den damit verbundenen Gesundheits- und Lebensgefahren.
c) Diesen Fragen kommt keine über den Einzelfall hinausreichende Bedeutung zu, weil sie sich einer abstrakten Klärung in einem Berufungsverfahren entziehen. Sie zielen vielmehr auf die Feststellung besonderer gefahrerhöhender Umstände im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG bzw. einer konkreten und erheblichen Gefahr für Leib und Leben bzw. einer individuellen Verdichtung der Allgemeingefahr zu einer Extremgefahr i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (ggf. in verfassungskonformer Auslegung) im Einzelfall ab.
Eine ernsthafte individuelle Bedrohung für Leib oder Leben i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG kann in erster Linie auf gefahrerhöhenden persönlichen Umständen beruhen. Dies sind solche Umstände, die den Ausländer von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen als andere. Möglich sind aber auch solche persönlichen Umstände, aufgrund derer der Ausländer als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte – etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit – ausgesetzt ist, sofern deswegen nicht schon die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht kommt (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 4.09 – juris Rn. 33; U.v. 17.11.2010 – 10 C 13.10 – juris Rn. 18). Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Wann allgemeine Gefahren im Falle des Fehlens einer politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG – wie hier – zu einem Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG i.V.m. den Grundrechten aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab. Die drohenden Gefahren müssen nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Die Gefahren müssen der Klägerin mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Nach diesem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad muss eine Abschiebung dann ausgesetzt werden, wenn die Klägerin ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“ (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2001 – 1 C 5.01 – BVerwGE 115, 1 m.w.N. = juris). Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn die Klägerin mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. zu alldem BVerwG, U.v. 29.9.2011 – 10 C 24.10 – BVerwGE 137, 226 = juris).
Diese Feststellungen bedürfen neben einem glaubhaften Vortrag auch der umfassenden Würdigung der Lage im Herkunftsland und insbesondere der Herkunftsregion sowie der individuellen Umstände des Asylantragstellers. Dieser Tatsachenfeststellungs-, Subsumtions- und Wertungsvorgang ist der Rechtsanwendung des Gerichts im Einzelfall überlassen; seine Überprüfung hingegen ist keine Aufgabe des Berufungsgerichts im Rahmen einer Grundsatzrüge.
d) Schließlich möchte die Klägerin die Frage grundsätzlich geklärt wissen,
ob die Familienbande in Somalia so eng sind, dass, ungeachtet der individuellen Beziehungen und eventueller Vorbehalte wegen des Verhaltens der betroffenen Person (drei bzw. vier weitere Kinder von zwei Männern), ein aus dem Westen zurückkehrendes Familienmitglied mit drei bzw. vier Kleinkindern von der Familie so versorgt wird, dass diese mehr erwartet als ein Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums und ohne dass hierdurch eine alsbaldige Verschlechterung des Gesundheitszustandes eintritt.
Insoweit fehlt es an der für die grundsätzliche Bedeutung i.S.d. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG erforderlichen Entscheidungserheblichkeit. Denn die formulierte Frage verkennt den rechtlichen Maßstab, soweit sie davon ausgeht, dass der Klägerin ein Abschiebungsverbot zustehe, wenn ihr im Falle der Rückkehr in ihr Herkunftsland keine Versorgung auf einem über das Existenzminimum hinausgehenden Niveau zukommen wird. Der Klägerin stünde mit Blick auf die Lebensverhältnisse und die Versorgungslage im Herkunftsland ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG (in verfassungskonformer Anwendung) nur zu, wenn die oben genannten Voraussetzungen erfüllt wären (siehe oben c)). Auch aus dem Blickwinkel eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK folgt kein Recht auf Verbleib in einem Konventionsstaat, um dort weiter medizinische, soziale oder andere Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Selbst der Umstand, dass im Falle einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, reicht allein nicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen. Anderes kann nur in besonderen Ausnahmefällen gelten, in denen humanitäre Gründe der Aufenthaltsbeendigung zwingend entgegenstehen, wobei solche humanitären Gründe auch in einer völlig unzureichenden Versorgungslage begründet sein können (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 23 ff. unter Verweis auf EGMR, U.v. 28.5.2008 – Nr. 26565/05 [N./Vereinigtes Königreich] – NVwZ 2008, 1334 Rn. 42; U.v. 28.6.2011 – Nr. 8319/07 [Sufi u. Elmi/Vereinigtes Königreich] – NVwZ 2012, 681; ebenso BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284 – juris Rn. 17 f.; U.v. 23.3.2017 – 20 B 15.30110 – juris Rn. 35; U.v. 28.3.2017 – 20 B 15.30204). Dass und weshalb diese Voraussetzungen bei der Klägerin nicht erfüllt sind, hat das Verwaltungsgericht im Übrigen ausführlich unter Heranziehung einschlägiger Erkenntnismittel und Würdigung der individuellen Umstände der Klägerin begründet (UA S. 13/15). Insbesondere hat es ausgeführt, dass die Klägerin den Schutz ihrer (Groß-)Familie bzw. ihres Clans in Anspruch nehmen könnte. Auch die Klägerin selbst geht nach ihrem Vorbringen nicht vom Vorliegen extremer Gefahren aus, sondern macht vielmehr einen Anspruch auf einen höheren Versorgungsstandard geltend, der sich aber nicht auf die genannten Regelungen stützen lässt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 83b AsylG.
Mit dieser Entscheidung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).


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