Verwaltungsrecht

Erfolgreiche Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft

Aktenzeichen  M 23 K 17.31713

Datum:
14.12.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 53383
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
ZPO § 182 Abs. 1 S. 2, § 415, § 418
AsylG § 3, § 3d, § 10 Abs. 2 S. 4
VwGO § 102 Abs. 2
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 22. Dezember 2016 wird in den Nrn. 1 und 3 bis 6 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten über die Sache verhandeln und entscheiden, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen war und in der Ladung darauf hingewiesen wurde, dass bei Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entscheiden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die Klage ist zulässig (I.) und begründet (II.).
I.
Zweifel an der Einhaltung der Klagefrist bestehen nicht. Zwar ist der streitgegenständliche Bescheid ausweislich der Postzustellungsurkunde vom 29. Dezember 2016 mit dem Vermerk „Adressat unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln“ in Rücklauf geraten. Die Fiktion des § 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG, wonach die Zustellung des Bescheids in einem solchen Fall mit der Aufgabe zur Post als bewirkt gilt, greift nach dem Sinn der Regelung jedoch nicht ein, wenn sich der Asylbewerber unter der maßgeblichen Anschrift aufhält, eine Zustellung entsprechend den Bestimmungen des Verwaltungszustellungsgesetzes jedoch infolge eines Umstands unterbleibt, der in der Sphäre der damit befassten Stelle, insbesondere der Post, liegt (VGH BW, B.v. 15.11.1995 – A14 S 2542/95 – juris).
Etwas anderes folgt nicht aus der Beweiskraft der Postzustellungsurkunde (§ 173 VwGO, § 418 Abs. 1 Zivilprozessordnung – ZPO). Zwar begründet eine Postzustellungsurkunde als öffentliche Urkunde nach den §§ 182 Abs. 1 Satz 2, 418, 415 ZPO den Beweis für die darin beurkundeten Tatsachen. Diese Beweiskraft erstreckt sich dabei auch darauf, dass der Antragsteller unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln war. Gemäß § 418 Abs. 2 ZPO ist aber der Beweis der Unrichtigkeit der mit der Zustellungsurkunde bezeugten Tatsachen zulässig. Dieser Gegenbeweis erfordert, dass Tatsachen substantiiert vorgetragen werden, die den beurkundeten Sachverhalt widerlegen. Er ist durch qualifiziertes Bestreiten zu führen, indem die in der Zustellungsurkunde bezeugten Tatsachen nicht nur in Abrede gestellt werden, sondern ihre Unrichtigkeit substantiiert und schlüssig dargelegt wird (VG Düsseldorf, B.v. 5.2.2015 – 13 L 3079/14.A – juris Rn. 12 ff. m.w.N.).
Vorliegend hat der Kläger vorgetragen, unter der im Bescheid angegebenen Anschrift zum Zeitpunkt des Zustellungsversuchs wohnhaft gewesen zu sein, dort den Bescheid aber nicht erhalten zu haben.
Dass der Kläger unter der angegebenen Anschrift zum Zeitpunkt des Zustellversuchs tatsächlich wohnhaft war und demnach hätte ermittelt werden können, ist zur Überzeugung des Gerichts dargelegt. So wird diese Angabe durch die gerichtlich eingeholte Auskunft der Asylhelferin bestätigt. An der Richtigkeit dieser Auskunft bestehen keine Bedenken. Es liegen daher gewichtige Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger zum Zeitpunkt des Zustellversuchs unter dieser Anschrift wohnhaft war. Bei diesen Gegebenheiten liegt ein Zustellungsfehler der Post nahe (so auch VG Augsburg, B.v. 24.3.2017 – Au 7 S. 17.30386 – juris Rn. 30 -; VG München, B.v. 3.5.2017 – M 6 S 17.35642; jeweils in einer vergleichbaren Fallkonstellation).
Nachdem der Kläger den Bescheid somit nach seiner glaubhaften Angabe erst am 27. Januar 2017 erhalten hat, ist die zweiwöchige Klagefrist (§ 74 Abs. 1 AsylG) mit Klageerhebung am 31. Januar 2017 eingehalten.
II.
Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid ist in den Nr. 1 sowie 3 bis 6 rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat in diesem vorliegenden Einzelfall zum nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG, da er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner politischen Überzeugung außerhalb seines Herkunftslands befindet.
Unter Zugrundelegung des klägerischen Vorbringens sowie unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnisquellen steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass dem Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Pakistan flüchtlingsrelevante Verfolgungsmaßnahmen drohen.
Das vom Kläger geschilderte Verfolgungsschicksal sowie seine pakistanische Staatsangehörigkeit sind glaubhaft.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts muss auch in Asylstreitigkeiten das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit – und nicht etwa nur der Wahrscheinlichkeit – des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus dem er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet. Wegen der häufig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Asylbewerbers kann schon allein sein eigener Sachvortrag zur Asylanerkennung führen, sofern sich das Tatsachengericht unter Berücksichtigung aller Umstände von dessen Wahrheit überzeugen kann (BVerwG, B.v. 21.7.1989 – 9 B 239/89 – InfAuslR 1989, 349). Das Tatsachengericht darf dabei berücksichtigen, dass die Befragung von Asylbewerbern aus anderen Kulturkreisen mit erheblichen Problemen verbunden ist (vgl. BVerwG, B.v. 21.7.1989, a.a.O.). Der Asylbewerber befindet sich typischerweise in Beweisnot. Er ist als „Zeuge in eigener Sache“ zumeist das einzige Beweismittel. Auf die Glaubhaftigkeit seiner Schilderung und die Glaubwürdigkeit seiner Person kommt es entscheidend an. Wer durch Vortrag eines Verfolgungsschicksals um Asyl nachsucht, ist in der Regel der deutschen Sprache nicht mächtig und deshalb auf die Hilfe eines Sprachmittlers angewiesen, um sich mit seinem Begehren verständlich zu machen. Zudem ist er in aller Regel mit den kulturellen und sozialen Gegebenheiten des Aufnahmelands, mit Behördenzuständigkeiten und Verfahrensabläufen sowie mit den sonstigen geschriebenen und ungeschriebenen Regeln, auf die er nunmehr achten soll, nicht vertraut. Es kommt hinzu, dass Asylbewerber, die alsbald nach ihrer Ankunft angehört werden, etwaige physische und psychische Auswirkungen einer Verfolgung und Flucht möglicherweise noch nicht überwunden haben, und dies ihre Fähigkeit zu einer überzeugenden Schilderung ihres Fluchtgrunds beeinträchtigen kann (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – NVwZ 1996, 678).
Gemessen an diesen Kriterien ist das Gericht aufgrund der Umstände des vorliegenden Einzelfalls davon überzeugt, dass der Kläger sein Herkunftsland aus begründeter Furcht vor einer Verfolgung durch das pakistanische Militär bzw. den pakistanischen Geheimdienst wegen seiner mit den Zielen der BNM übereinstimmenden politischen Überzeugung verlassen hat und er im Fall einer Rückkehr weiterhin von Verfolgung bedroht ist. Seine Angaben in der mündlichen Verhandlung waren – entgegen der Ansicht des Bundesamts – in sich stimmig, umfangreich und – auch in den Randbereichen der geschilderten Geschehnisse – konkret detailliert, sodass das Gericht davon überzeugt ist, dass das Geschilderte tatsächlich auf eigenen Erleben des Klägers beruht.
Unter Zugrundelegung des glaubhaften klägerischen Vortrags nimmt der Kläger nach Überzeugung des Gerichts im vorliegenden Einzelfall eine anlassgegebene herausgehobene Position ein, die zu einer Verfolgung von staatlichen Behörden führt, ohne dass der Kläger auf die Möglichkeit internen Schutzes verwiesen werden kann (vgl. zur Verfolgung in Belutschistan: VG Potsdam, U.v. 31. Mai 2016 – VG 11 K 1714/15.A). Aus dem als Erkenntnismittel in das Verfahren einbezogenen Urteil des schweizerischen Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 4. Mai 2017 – E 4569/2013 – S. 6 ff.) ergibt sich mit hinreichender Deutlichkeit, dass Personen, die öffentlichkeitswirksam für die Freiheit Baluchistans und die Ziele der BNM eintreten, gezielten Bedrohungen durch staatliche Behörden ausgesetzt sind. Auch wird von einem Verschwindenlassen zahlreicher Balutschen berichtet. Zwar sei die Täterschaft hierfür nicht abschließend geklärt. Indes bestünden hinreichende Hinweise auf eine Beteiligung staatlicher Sicherheitskräfte. Der klägerische Vortrag stimmt mit den im Urteil des schweizerischen Bundesverwaltungsgericht zitierten Berichten überein. Auch haben die pakistanischen Behörden kein ernsthaftes Interesse daran, die Entführungen und Todesfälle in Belutschistan aufzuklären. Auf die Ausführungen und Erkenntnisse im vorgenannten Urteil wird Bezug genommen. Diese macht sich das Gericht zu Eigen.
Der Kläger hat nach Überzeugung des Gerichts seine politische Überzeugung durch seine öffentliche Berichterstattung über die Angriffe des pakistanischen Militärs bzw. den pakistanischen Geheimdienst auf die Bevölkerung Belutschistans derart intensiv ausgeübt, dass an ihm ein landesweites Verfolgungsinteresse durch staatliche Behörden besteht. Es ist auch zu erwarten, dass der Kläger seine Tätigkeit in Pakistan für die BNM im Falle einer Rückkehr fortsetzen wird. Denn angesichts seiner auch in Deutschland ausgeübten Tätigkeit für die BNM ist das Gericht auch davon überzeugt, dass das Bekennen seiner politischen Überzeugung in der Öffentlichkeit für den Kläger ein identitätsbestimmender Teil seines politischen Verständnisses ist. So hat er nachvollziehbar seine Erwägungen für den Beitritt zur BNM in der mündlichen Verhandlung dargelegt und seine Überzeugungen anhand seiner Tätigkeiten in Pakistan und Deutschland nachvollziehbar verdeutlicht. Aus seinen Ausführungen lässt sich erkennen, dass der Einsatz für seine politische Meinung hinsichtlich der Freiheit Belutschistans in der Vergangenheit und auch zukünftig zu seiner Identität gehört und für ihn unverzichtbar ist. Darum ist der Kläger angesichts der vorliegenden Erkenntnismittel besonderen Verfolgungsgefahren ausgesetzt. Auf einen Schutz durch den Staat oder sonstige Organisationen i.S.d § § 3d AsylG kann der Kläger angesichts der Erkenntnislage nicht vertrauen.
Nach alledem war der Klage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unter Aufhebung der entgegenstehenden Nummer 1 des Bescheids stattzugeben, sodass über die hilfsweise gestellten Anträge nicht mehr zu entscheiden war.
Die Klage ist auch begründet, soweit die Aufhebung der Nummern 3 bis 6 des angefochtenen Bescheids begehrt wird. Denn die Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, lässt die darin getroffenen negativen Feststellungen des Bundesamts gegenstandslos werden, so dass der ablehnende Bescheid auch insoweit aufzuheben ist. Entsprechendes gilt im Hinblick auf die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83 b AsylG nicht erhoben.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung stützt sich auf § 167 Abs. 1 und 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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