Verwaltungsrecht

Erfolgreicher Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gegen die Abschiebungsandrohung

Aktenzeichen  W 6 S 19.31426

Datum:
21.8.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 20323
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 3, § 4, § 26, § 30 Abs. 1, Abs. 2, § 34, § 36 Abs. 1, Abs. 3, Abs. 4 S. 1
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1

 

Leitsatz

Das Offensichtlichkeitsurteil gem. § 30 AsylG muss den gesamten Asylantrag erfassen, sodass bei einer Antragsablehnung gegenüber einem einzelnen Betroffenen als offensichtlich unbegründet auch der Tatbestand eines von einem Familienmitglied möglicherweise abzuleitenden Anspruchs auf Asylanerkennung, auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und/oder auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gem. § 26 AsylG in den Blick zu nehmen ist. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller gegen Ziffer 5 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 18. Juli 2019 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung ihres Bevollmächtigten wird abgelehnt.

Gründe

I.
Die Antragsteller, ukrainische Staatsangehörige, begehren vorläufigen Rechtsschutz gegen die Androhung der Abschiebung in die Ukraine.
1. Die Antragsteller zu 1) und 2) reisten nach eigenen Angaben am 3. Juni 2015 über Polen auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 27. Juli 2015 ihre Asylanträge. Die Antragstellerin zu 3) wurde im Oktober 2015 in der Bundesrepublik Deutschland geboren, ihr Asylantrag galt gemäß § 14a Abs. 2 AsylG als gestellt.
Im Rahmen der Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) gab die Antragstellerin zu 1) an, ihr Ehemann sei wehrpflichtig gewesen und hätte zum Militär gehen sollen; daher habe er die Ukraine verlassen und sei nach Russland zum Arbeiten gegangen. Als er zurückgekehrt sei, seien sie alle nach Deutschland weitergereist. Ihr persönlich sei nichts passiert, sie sei nur wegen ihrem Ehemann ausgereist. Seit einem Sportunfall in der Ukraine sei sie erkrankt, sie leide zunehmend an gelegentlichem Zittern der linken Hand und des linken Beins; hier in Deutschland seien ihr das Overlapsyndrom, Dystonie und ein Levodopa-senstitives-Dystonie-Parkinson-Overlap-Syndrom diagnostiziert worden. Sie könne nicht in die Ukraine zurück, die medizinische Behandlung sei in der Ukraine teuer und nicht so gut wie in Deutschland.
Mit Bescheid vom 18. Juli 2019 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung und auf subsidiären Schutz als offensichtlich unbegründet ab (Ziffern 1 bis 3). Es wurde festgestellt, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen (Ziffer 4). Die Antragsteller wurden unter Androhung der Abschiebung in die Ukraine zur Ausreise innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung aufgefordert (Ziffer 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6). Auf die Begründung dieses Bescheids wird Bezug genommen.
2. Hiergegen ließen die Antragsteller am 2. August 2019 Klage erheben (Az.: W 6 K 19.31425), über die noch nicht entschieden ist, und zugleich im vorliegenden Verfahren beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung des Bundesamtes vom 18. Juli 2019 anzuordnen, den Antragstellern Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Bevollmächtigten zu bewilligen.
Zur Begründung wurde ausgeführt, es bestünden ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids. Ausweislich des Urteils des EuGH vom 19. Juni 2018 (C-181/16, „G*“) genüge die aktuelle Gestaltung des asylrechtlichen Rechtsschutzes in Deutschland nicht unionsrechtlichen Vorgaben, da ein automatischer Suspensiveffekt der Klageerhebung fehle; die lediglich summarische Prüfung der Erfolgsaussichten der Klage im Rahmen eines Eilrechtsschutzverfahrens genüge den Vorgaben des EuGH nicht. Zudem sei die Ablehnung der Anträge als offensichtlich unbegründet bereits deshalb rechtswidrig, da der Asylantrag des Ehemanns bzw. des Vaters der Antragsteller als einfach unbegründet abgelehnt worden und die hiergegen anhängige Klage noch nicht entschieden sei. Damit sei offen, ob die Voraussetzungen des Familienasyls, der Familienflüchtlingseigenschaft und des familiären subsidiären Schutzes vorlägen. Im Übrigen sei die Antragstellerin zu 1) schwer krank und benötige lebenslang bestimmte Medikamente, die sie in der Ukraine selbst zahlen müsse und die dort nur in Kiew erreichbar seien.
Die Antragsgegnerin, vertreten durch das Bundesamt, beantragte,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wurde auf die Ausführungen im verfahrensgegenständlichen Bescheid Bezug genommen. Zudem wurde die Ziffer 5 dahingehend geändert, dass die Ausreisefrist erst nach Bekanntgabe der Ablehnung des vorliegenden Antrags zu laufen beginnt.
Der Bevollmächtigte nahm hierzu mit Schriftsatz vom 21. August 2019 Stellung.
3. Der Asylantrag des Ehemanns der Antragstellerin zu 1) bzw. des Vaters der Antragsteller zu 2) und 3) wurde mit Bescheid vom 17. Mai 2019 als einfach unbegründet abgelehnt. Hiergegen wurde Klage erhoben (Az.: W 6 K 19.31012), über die noch nicht entschieden ist.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die vorgelegte Behördenakte, insbesondere die Sachverhaltsdarstellung im angefochtenen Bescheid, Bezug genommen.
II.
Der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO, die aufschiebende Wirkung gegen die in Ziffer 5 des Bescheids vom 18. Juli 2019 enthaltene Abschiebungsandrohung anzuordnen, hat Erfolg. Der Antrag ist begründet, da ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids bestehen (§ 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG).
1. Ernstliche Zweifel liegen vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass dieser einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93, BVerfGE 94, 166). Gegenstand dieser rechtlichen Prüfung ist dabei die mit einer einwöchigen Ausreisefrist verbundene Abschiebungsandrohung gemäß § 36 Abs. 1 i.V.m. § 34 AsylG. Die mit dieser Verwaltungsentscheidung intendierte umgehende Beendigung des Aufenthalts des Asylbewerbers im Bundesgebiet stützt sich auch auf die Ablehnung des Asylantrages als offensichtlich unbegründet und ist deren Folge. Das Gericht hat im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes daher auch die Einschätzung des Bundesamtes, dass der geltend gemachte Asylanspruch auf Asylanerkennung bzw. auf Feststellung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes offensichtlich nicht besteht, zum Gegenstand seiner Prüfung zu machen.
Rechtmäßig ist die Abschiebungsandrohung gemäß § 36 Abs. 1 AsylG deshalb nur, wenn die Ablehnung des Asylantrags als „offensichtlich unbegründet“ insgesamt rechtmäßig ist.
2. Gemäß § 30 Abs. 1 AsylG ist ein Asylantrag offensichtlich unbegründet, wenn die Voraussetzungen für die Anerkennung als Asylberechtigter und die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes offensichtlich nicht vorliegen. Gemäß § 30 Abs. 2 AsylG ist ein Asylantrag offensichtlich unbegründet, wenn nach den Umständen des Einzelfalles offensichtlich ist, dass sich der Ausländer nur aus wirtschaftlichen Gründen oder um einer allgemeinen Notsituation zu entgehen, im Bundesgebiet aufhält. Die Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet setzt nach ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung voraus, dass an der Rechtmäßigkeit der tatsächlichen Feststellungen vernünftigerweise keine Zweifel bestehen und sich bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung die Abweisung der asylverfahrensrechtlichen Anträge geradezu aufdrängt (vgl. BVerfG, B.v. 20.12.2006 – 2 BvR 2063/06 – NVwZ 2007, 1046; BVerfG, B.v. 20.9.2001 – 2 BvR 1392/00 – juris Rn. 17).
Gemessen an diesen Maßstäben bestehen zwar keine ernstlichen Zweifel am Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamts hinsichtlich der Voraussetzungen für die Anerkennung der Antragsteller als Asylberechtigte nach Art. 16a Abs. 1 GG und für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG sowie die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG. Die Antragstellerin zu 1) hat bei ihrer Anhörung beim Bundesamt nichts vorgetragen, was auch nur ansatzweise auf eine individuelle Verfolgung im Sinne von Art. 16a GG, § 3 AsylG hindeuten könnte. Dasselbe gilt für einen etwaigen ernsthaften Schaden im Sinne von § 4 AsylG. Als Grund für die Flucht hat die Antragstellerin die Wehrpflichtigkeit ihres Ehemannes und ihre gesundheitliche Situation angegeben. Eigene Gründe der Antragsteller zu 2) und 3) wurden nicht genannt und sind auch nicht ersichtlich.
3. Jedoch erfasst das Offensichtlichkeitsurteil vorliegend nicht den gesamten die Antragsteller betreffenden Sachverhalt, sodass ernsthafte Zweifel an der angefochtenen Entscheidung bestehen.
Das Offensichtlichkeitsurteil gemäß § 30 AsylG muss den gesamten Asylantrag erfassen, so dass bei einer Antragsablehnung gegenüber einem einzelnen Betroffenen als offensichtlich unbegründet auch der Tatbestand eines von einem Familienmitglied möglicherweise abzuleitenden Anspruchs auf Asylanerkennung, auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und/oder auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 26 AsylG in den Blick zu nehmen ist. Der Tatbestand des § 26 AsylG darf dabei ebenfalls qualifiziert, d.h. offensichtlich nicht vorliegen, da bei einer Ablehnung als offensichtlich unbegründet das Evidenzverdikt über den gesamten Asylantrag fallen muss. Nur wenn Familienasyl ebenfalls ohne weiteres versagt werden muss, ist der Asylantrag insgesamt eindeutig aussichtslos (Bergmann/Dienelt/Bergmann, 12. Aufl. 2018, AsylG § 30 Rn. 7). Daraus folgt, dass ein Asylantrag grundsätzlich nur dann offensichtlich unbegründet sein kann, wenn entweder der eigene Asylantrag der Bezugsperson bereits qualifiziert oder zwar einfach, aber bestandskräftig abgelehnt worden ist. Abweichend von diesem Grundsatz ist das Verdikt der offensichtlichen Unbegründetheit im Einzelfall jedoch gerechtfertigt, wenn nach der Aktenlage sicher beurteilt werden kann, dass ein Anspruch weiterer Familienmitglieder auf Anerkennung als Asylberechtigte oder auf Zuerkennung internationalen Schutzes ebenso offensichtlich ausscheidet (BeckOK AuslR/Heusch, 22. Ed. 1.5.2019, AsylG § 30 Rn. 11).
Nachdem vorliegend der Ehemann bzw. Vater der Antragsteller mit Bescheid vom 17. Mai 2019 einfach unbegründet abgelehnt und gegen diese Entscheidung Klage erhoben wurde, welche noch nicht entschieden ist, besteht jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt die Möglichkeit, dass bei den Antragstellern die Voraussetzungen des § 26 AsylG in Betracht kommen. Ob dies tatsächlich der Fall ist, kann erst nach Entscheidung über die anhängige Klage im Verfahren des Ehemanns bzw. Vaters (Az.: W 6 K 19.31012) festgestellt werden. Eine inzidente, ggf. auch nur summarische Prüfung betreffend das andere Klageverfahren verbietet sich aufgrund Vorgreiflichkeit.
4. Dem Antrag war daher stattzugeben. Rein ergänzend sei anzumerken, dass entgegen der Kritik der Antragsteller der mit § 80 Abs. 5 VwGO, § 36 Abs. 3 AsylG eröffnete Rechtsschutz gegenüber der Abschiebungsandrohung nach Ablehnung eines Schutzgesuches als offensichtlich unbegründet den europarechtlich abgeleiteten Anforderungen des EUGH-Urteils vom 19. Juni 2018 (Az.: C-181/16 -„…“) aus Sicht des Gerichts grundsätzlich genügt (vgl. VG Münster, B.v. 8.10.2018 – 9 L 976/18 – juris; s.a. Wittkopp, ZAR 2018, 325 ff.).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
5. Der Antrag auf Prozesskostenhilfe und Beiordnung ihres Bevollmächtigten war abzulehnen, da entgegen der Ankündigung in der Antragsschrift die Auskunft über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Antragsteller bis zur Entscheidung nicht vorgelegt wurde, § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 ZPO.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben