Verwaltungsrecht

Erfolgreicher Eilantrag eines Schülers gegen die Verlängerung einer Quarantäne trotz Verweigerung eines Corona-Tests

Aktenzeichen  20 CS 20.2573

Datum:
6.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
DVBl – 2021, 207
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
IfSG § 28 Abs. 1, § 30 Abs. 1 S. 2
VwGO § 80 Abs. 5, § 114 S. 2

 

Leitsatz

Der Bescheid über die Anordnung einer Absonderung gem. § 30 Abs. 1 S. 2 IfSG (Quarantäne) ist rechtswidrig, wenn er nicht erkennen lässt, dass das zuständige Gesundheitsamt eine Ermessensentscheidung getroffen hat, sondern er vielmehr den Schluss nahe legt, dass sich das Gesundheitsamt durch die Vorgaben des RKI gebunden gesehen hat. Ein Ermessensnichtgebrauch oder Ermessensausfall kann durch eine erstmalige Ermessenbetätigung im gerichtlichen Verfahren – als besonders schwerwiegender Fehler – nicht wirksam geheilt werden. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

W 8 S 20.1693 2020-11-06 Bes VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

I. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 6. November 2020 wird geändert. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 2. November 2020 wird angeordnet.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,-Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Mit seiner Beschwerde wendet sich der Antragsteller gegen einen Beschluss des Verwaltungsgerichts, mit dem dieses den Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen eine infektionsschutzrechtliche Anordnung zur Verlängerung der 14-tägigen Quarantäne um weitere zehn Tage wiederherzustellen, abgelehnt hat.
Der Antragsteller wurde aufgrund einer Kontaktsituation in der Schule mit einer auf das Coronavirus positiv getesteten Person als Kontaktperson der Kategorie I eingestuft. Mit Schreiben des Gesundheitsamtes vom 27. Oktober 2020 wurde dem Antragsteller mitgeteilt, dass er sich mit sofortiger Wirkung in häusliche Quarantäne zu begeben habe und eine Entisolierung und Entlassung frühestens 14 Tage nach Kontakt zum Indexfall (letzter Kontakt: 19.10.2020) möglich sei. Weiter wurde ein Termin für einen Test/Abstrich am Freitag den 30. Oktober 2020 angeordnet.
Gegen die Anordnung der Quarantäne sowie die Anordnung der Testung ließ der Antragsteller Klage erheben und stellte Antrag beim Verwaltungsgericht, die aufschiebende Wirkung anzuordnen. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag mit Beschluss vom 30. Oktober 2020 abgelehnt.
Mit Schreiben vom 2. November 2020 wies das Gesundheitsamt, mit Bezug auf die Allgemeinverfügung des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vom 18. August 2020 (BayMBl. 2020 Nr. 464), geändert durch Bekanntmachung vom 29. September 2020 (BayMBl. 2020 Nr. 555) erneut auf die Verpflichtung zur häuslichen Quarantäne hin (Nr. 1). Eine Entisolierung und Entlassung sei mangels vorliegenden negativen Testergebnis nicht nach 14 Tagen nach letztmaligem Kontakt zu einer mit Covid-19-infizierten Person möglich. Da weder ein Test bisher durchgeführt worden sei, noch ein Test nach Aussage des Anwalts durchgeführt werde, verlängere sich die Quarantäne um weitere zehn Tage, also bis einschließlich 12. November 2020. In den Gründen ist zur Verlängerung ausgeführt, es erfolge eine Verlängerung der Quarantäne um weitere zehn Tage, da nach den Vorgaben des RKI davon auszugehen sei, dass noch am 14. Tag nach dem Kontakt mit der Referenzperson eine Symptomatik auftreten könne und das RKI für eine asymptomatisch positiv getestete Person eine Isolation von zehn Tagen vorsehe.
Hiergegen richtet sich die vom Antragsteller erhobene Klage. Gleichzeitig ließ er beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Verlängerung der Quarantäne bis 12. November 2020 gemäß § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen.
Das Verwaltungsgericht hat den Antrag abgelehnt. Die Verlängerung der Quarantäne um zehn Tage sei rechtmäßig. Über die Beendigung der Quarantäne entscheide das Gesundheitsamt. Konkret sei unter Nr. 6.2 Sätze 2 und 3 der Allgemeinverfügung ausgeführt, dass im Falle eines positiven Testergebnisses die Isolation bei einem asymptomatischen Krankheitsverlauf frühestens zehn Tage nach dem Erstnachweis des Erregers ende. Die Verlängerung der Quarantäne sei auch nicht unverhältnismäßig. Selbst wenn man die Erfolgsaussichten der in der Hauptsache erhobenen Klage als offen einstufen würde, führe eine Folgenabwägung gerade vor dem Hintergrund der aktuellen exponentiell steigenden Infektionszahlen zu einem Überwiegen des Gesundheitsschutzes.
Hiergegen erhob der Antragsteller Beschwerde und verwies u.a. auf einen Ermessensfehler.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Akteninhalt.
II.
1. Die zulässige Beschwerde hat Erfolg.
Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen, wenn die Klage keine aufschiebende Wirkung hat.
Der Verwaltungsgerichtshof hat bei seiner Entscheidung eine originäre Interessenabwägung auf der Grundlage der sich im Zeitpunkt seiner Entscheidung darstellenden Sach- und Rechtslage darüber zu treffen, ob die Interessen, die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung streiten, oder diejenigen, die für einen sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts sprechen, überwiegen. Dabei sind die Erfolgsaussichten der Klage im Hauptsacheverfahren wesentlich zu berücksichtigen, soweit sie bereits überschaubar sind. Nach allgemeiner Meinung besteht an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer voraussichtlich aussichtslosen Klage kein überwiegendes Interesse. Wird dagegen der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein (weil er zulässig und begründet ist), so wird regelmäßig nur die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen.
Die Hauptsacheklage des Antragstellers hat nach vorläufiger Prüfung der Rechtslage und summarischer Prüfung der Sachlage (vgl. BVerwG, B.v. 23.2.2018 – 1 VR 11.17 – juris Rn. 15) Aussicht auf Erfolg. Die angegriffene Verlängerung der Quarantäne durch den Antragsgegner vom 2. November 2020 ist aller Voraussicht nach rechtswidrig und verletzt den Antragsteller in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die streitgegenständliche Verfügung findet ihre Rechtsgrundlage in der Vorschrift des § 28 Abs. 1 Satz 1, 2, § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG. Nach dieser Vorschrift trifft die zuständige Behörde, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden, die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 IfSG genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. Nach § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG kann bei sonstigen Kranken sowie Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen und Ausscheidern angeordnet werden, dass sie in einem geeigneten Krankenhaus oder in sonst geeigneter Weise abgesondert werden.
Hinsichtlich der Anordnung einer Absonderung gemäß § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG ist dem Antragsgegner Ermessen eingeräumt. Gleiches gilt hinsichtlich der Entscheidung über die Beendigung der Quarantäne. Aus dem Bescheid des Antragsgegners vom 2. November 2020 ist bereits nicht erkennbar, dass das Gesundheitsamt überhaupt eine Ermessensentscheidung getroffen hat. Vielmehr liegt der Schluss nahe, dass sich das Gesundheitsamt durch die Vorgaben des Robert-Koch-Institutes gebunden sah. Weil auch für eine Ermessensreduzierung auf Null bei einer solchen Sachlage nichts ersichtlich ist, erweist sich der Bescheid des Antragsgegners bereits aus diesem Grunde als rechtswidrig und verletzt den Antragsteller in seinen Rechten. Im Beschwerdeverfahren kommt eine Heilung dieses Ermessensausfalles nach § 114 S. 2 VwGO grundsätzlich nicht in Betracht. Ein Ermessensnichtgebrauch oder Ermessensausfall kann durch eine erstmalige Ermessenbetätigung im gerichtlichen Verfahren – als besonders schwerwiegender Fehler – nicht wirksam geheilt werden (Riese in: Schoch/Schneider/Bier, § 114 VwGO Rn. 255 m.w.N.).
2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (152 Abs. 1 VwGO).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben