Verwaltungsrecht

Erfolgreicher Eilantrag gegen Überstellung eines dort als international schutzberechtigt Anerkannten nach Griechenland

Aktenzeichen  RO 13 E 21.31087

Datum:
2.9.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 26556
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
EMRK Art. 8
VwGO § 123 Abs. 1
VwVfG § 51 Abs. 5
AufenthG § 60 Abs. 5

 

Leitsatz

1. Für einen nach Stellung eines Wiederaufgreifensantrags gestellten Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO besteht zumindest bis zur Entscheidung des Bundesamts ein Rechtsschutzbedürfnis. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. In Griechenland drohen als schutzberechtigt anerkannten Personen, einschließlich arbeitsfähigen jungen Männern, unabhängig von ihrem Willen und ihrer persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not zu geraten, wodurch sie ihre elementarsten Bedürfnisse („Bett, Brot, Seife“) für einen längeren Zeitraum nicht befriedigen könnten. (Rn. 30 – 35) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, der zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass eine Überstellung des Antragstellers nach Griechenland aufgrund der Abschiebungsanordnung im Bescheid vom 02.08.2018 vorläufig – bis zur Entscheidung über den Wiederaufgreifensantrag vom 08.07.2021 durch die Antragsgegnerin – nicht durchgeführt werden darf. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes gegen die drohende Abschiebung nach Griechenland, gleichwohl ein Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 08.07.2021 gestellt wurde.
Der am …1983 geborene Antragsteller, irakischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben am 07.06.2018 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 27.06.2018 einen förmlichen Asylantrag.
Mit Bescheid des Bundesamtes vom 02.08.2018 wurde der Asylantrag als unzulässig abgelehnt (Ziffer 1) und festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen (Ziffer 2). Der Antragsteller wurde aufgefordert die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung bzw. im Falle einer Klageerhebung 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, zu verlassen, anderenfalls werde er nach Griechenland (Ziffer 3) oder in einen anderen Staat, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei, abgeschoben. Der Antragsteller darf nicht in den Irak abgeschoben werden. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4).
Die dagegen beim Verwaltungsgericht Ansbach erhobene Klage wurde mit Urteil vom 07.12.2020 abgewiesen. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wurde mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes vom 30.03.2021 zurückgewiesen.
Mit Schriftsatz vom 08.07.2021 stellte der Antragsteller bei dem Bundesamt einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens zur Feststellung nationaler Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG.
Gleichzeitig wurde durch die Bevollmächtigten des Antragstellers die Zentrale Ausländerbehörde mit Schreiben vom 08.07.2021 und 28.07.2021 über den Wiederaufgreifensantrag informiert und um Bestätigung ersucht, dass vorübergehend von aufenthaltsbeenden Maßnahmen abgesehen werde. Die Zentrale Ausländerbehörde teilte daraufhin mit Schreiben vom 09.07.2021 und 03.08.2021 mit, dass die Abschiebung des Antragstellers weiter vorangetrieben werde, da der Antragsteller vollziehbar ausreisepflichtig sei und trotz des Antrages auf Wiederaufgreifen des Verfahrens abgeschoben werden könne und werde. Der Antragsteller wurde aufgefordert, bis spätestens 13.08.2021 ein Attest im Hinblick auf die Reisetauglichkeit vorzulegen, anderenfalls werde von Flugtauglichkeit ausgegangen.
Mit Schriftsatz vom 12.08.2021, eingegangen am gleichen Tag, stellte der Antragsteller einen Antrag nach § 123 VwGO. Im Rahmen der Begründung wird vorgetragen, dass der Asylantrag des Antragstellers mit Bescheid vom 02.08.2018 abgelehnt wurde und die dagegen erhobene Klage abgewiesen wurde. Ausweislich der Urteilsgründe sei für die Entscheidung wesentlich gewesen, dass der Antragsteller keine ausreichenden Atteste zu seiner psychischen Erkrankung habe vorlegen können. Der Kläger sei schwer psychisch traumatisiert und bereits seit zwei Jahren in Behandlung. Insoweit werden folgende ärztliche Unterlagen vorgelegt:
– ärztliche Bescheinigung des … … vom 29.04.2021
– Auszug aus medizinischen Daten vom 09.07.2019 bis 27.05.2021
– ärztliche Bescheinigung des … … vom 04.06.20210
– ärztliche Atteste der … vom 28.06.2021 und 05.07.2021
Die einstweilige Anordnung sei zu erlassen, da sich der Anordnungsgrund bereits daraus ergebe, dass die Zentrale Ausländerbehörde die Abschiebung des Antragstellers vorantreibe. Ein Anordnungsanspruch ergebe sich zum einen daraus, dass der Antragsteller einen Anspruch darauf habe, dass über seinen Wiederaufgreifensantrag entschieden werde. Jedenfalls sei die Abschiebung bis zu diesem Zeitpunkt auszusetzen, was sich bereits aus der in Art. 19 Abs. 4 GG niedergelegten Rechtschutzgarantie ergebe. Darüber hinaus habe der Antragsteller einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes. Ausweislich der Erkenntnismittel drohe jedem nach Griechenland zurückkehrenden Schutzberechtigten, unabhängig von dessen Vulnerabilität die Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK.
Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung gem. § 123 VwGO zu verpflichten, der für die Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass eine Abschiebung des Antragstellers auf Grundlage der bestandskräftigen Abschiebungsandrohung im Ziffer 3 des Bescheides vom 02.08.2018 vorläufig, bis zur bestandskräftigen Entscheidung über den Antrag des Antragstellers auf Wiederaufgreifen des Verfahrens vom 08.07.2021 nicht erfolgen darf.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Im Rahmen der Begründung wird angeführt, dass ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht worden sei und die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach §§ 71 Abs. 1 AsylG, 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht vorliegen würden. Die psychische Erkrankung des Klägers sei bereits im Erstverfahren geltend gemacht worden. Insoweit liege bereits kein neuer Sachvortrag vor. Im Übrigen werde die Erkrankung nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Die vorgelegten ärztlichen Atteste würden im Hinblick auf die Posttraumatische Belastungsstörung offensichtlich nicht den Anforderungen genügen, welche die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts an derartige Nachweise stelle. Im Hinblick auf die attestierte rezidivierende depressive Störung würde der ärztliche Bericht nicht die Voraussetzungen des § 60a Abs. 2c AufenthG erfüllen, die bei der Prüfung von zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen zu berücksichtigen seien.
Dem Gericht wurde seitens der Zentralen Ausländerbehörde der Regierung … … auf telefonische Nachfrage hin mitgeteilt, dass bei der zuständigen Polizeiinspektion ein entsprechender Antrag auf Abschiebung des Antragstellers gestellt wurde und die Abschiebung weiter forciert wird. Allerdings wird eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts über den Antrag nach § 123 VwGO abgewartet. Ein Verzicht auf die Durchführung der Abschiebung bis zur Entscheidung des Bundesamts über den Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens komme nicht in Betracht.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Behörden- und Gerichtsakten verwiesen.
II.
Die Entscheidung ergeht gemäß § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin.
Der Antrag nach § 123 VwGO ist teilweise zulässig und im tenorierten Umfang auch begründet.
1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO mit dem Ziel, der Antragsgegnerin aufzugeben, der zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass eine Abschiebung des Antragstellers nach Griechenland auf Grundlage von Ziffer 3 des Bescheids des Bundesamts vom 02.08.2018 vorläufig bis zur Entscheidung über den Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nicht erfolgen darf, ist zulässig.
a) Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO ist vorliegend die statthafte Antragsart. Nach dieser Vorschrift kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Nur durch eine einstweilige Anordnung nach § 123 VwGO kann der Antragsteller sein Rechtsschutzziel erreichen, dass von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen einstweilen bis zur Entscheidung über den Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 VwVfG vom 08.07.2021 abgesehen wird.
Zwar ist im Hinblick auf die Abschiebungsandrohung in Ziffer 3 des Bescheids vom 02.08.2018 einstweiliger Rechtsschutz grundsätzlich zunächst gemäß § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG nur nach Maßgabe des § 80 Abs. 5 VwGO eröffnet, sodass insoweit ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 5 VwGO unstatthaft wäre. Vorliegend ist ein Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO aber nicht zulässig, weil die hierfür gemäß § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG geltende Wochenfrist bereits verstrichen und die betreffende Abschiebungsanordnung bereits bestandskräftig ist. Will der von einer bestandskräftigen Abschiebungsanordnung Betroffene aber eine nachträgliche Veränderung der Sach- oder Rechtslage geltend machen, so kann er einen Antrag beim Bundesamt auf Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 1. Alt. VwVfG stellen und im Hauptsacheverfahren gegebenenfalls im Wege der Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 2. Alt. VwGO eine Sachentscheidung erzwingen. Diesen Antrag kann er auf die Feststellung von Abschiebungshindernissen beschränken (sogenanntes Folgeschutzgesuch). Der dieser Fallkonstellation systematisch entsprechende Antrag im einstweiligen Rechtsschutz ist der Antrag auf einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO zur Sicherung der Rechte deren Verletzung letztlich durch den Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens verhindert werden soll. Ziel des Antrages nach § 123 VwGO ist die vorläufige Verhinderung der Abschiebung, indem der Bundesrepublik Deutschland als Rechtsträgerin des Bundesamtes aufgegeben wird, der für die Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass vorläufig nicht aufgrund der früheren Mitteilung und der bestandskräftigen Abschiebungsanordnung abgeschoben werden darf (vgl. zum Ganzen: BayVGH, B. v. 21.4.2015 – 10 CE 15.810, 10 CE 15.813 – m.w.N., juris; OVG Koblenz, B. v. 20.07.2017 – 7 B 11085/17.OVG – juris; VG Düsseldorf, B. v. 17.2.2015 – 22 L 378/15.A – juris).
b) Für einen solchen Antrag besteht auch zumindest bis zur Entscheidung des Bundesamts über den Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens ein Rechtsschutzbedürfnis. Die Ausländerbehörde ist nicht schon aufgrund des Folgeschutzgesuchs an einer Abschiebung des Ausländers gehindert. Ein Folgeschutzgesuch ändert unabhängig von seinem Erfolg nichts an der Vollziehbarkeit einer bestehenden Ausreisepflicht (§ 50 Abs. 1, § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr.3 AufenthG) und der Ausländer ist unter den Voraussetzungen des § 58 Abs. 1 AufenthG grundsätzlich abzuschieben. § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG, wonach die nicht in einen sicheren Drittstaat geplante Abschiebung erst nach einer Mitteilung des Bundesamtes, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 Verwaltungsverfahrensgesetz nicht vorliegen, vollzogen werden darf, findet ausschließlich auf Asylfolgeanträge und nicht auch auf Folgeschutzgesuche Anwendung (vgl. OVG NRW, B. v. 11.09.2017 – 18 B 1033/17 -, juris m.w.N.; VG Schleswig, B. v. 10.12.2019 – 11 B 181/19 -, juris, Rn. 11; BayVGH, B. v. 29.11.2005 – 24 CE 05.3107 – juris; Marx, AsylVfG, §?71 Rn 82; Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 71 Rn. 56).
c) Anhaltspunkte, dass der Antrag nach § 123 VwGO rechtsmissbräuchlich, ausschließlich zur Verhinderung der Abschiebung gestellt wurde, finden sich nicht. Vielmehr wurde umfassend vorgetragen, dass im Hinblick auf die bestehende Erkrankung neue Atteste vorliegen und sich die Situation in Griechenland für rückkehrende Schutzberechtigte maßgeblich verändert hat, sodass ein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht von vornherein ausgeschlossen ist und für den vorliegenden Antrag nach § 123 VwGO jedenfalls ein Rechtschutzbedürfnis besteht.
d) Im Übrigen fehlt dem Antrag das Rechtsschutzbedürfnis. Ein solches besteht nur bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesamtes über den Wiederaufgreifensantrag vom 08.07.2021, da derzeit nicht absehbar ist, wie das Bundesamt über diesen Antrag entscheiden wird. Überdies stehen dem Antragsteller nach einer solchen Entscheidung hiergegen wiederum Rechtsmittel zu.
2. Der Antrag ist, soweit er zulässig ist, im tenorierten Umfang begründet.
Eine einstweilige Anordnung zur Sicherung eines vorläufigen Zustandes kann ergehen, da der Antragsteller das Bestehen eines zu sichernden Rechts, den sog. Anordnungsanspruch, und die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung, den sog. Anordnungsgrund, glaubhaft gemacht hat (§ 123 Abs. 1 und 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO). Maßgebend sind die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG.
a) Ein Anordnungsgrund ergibt sich daraus, dass der Antragsteller wegen der vollziehbaren Abschiebungsanordnung im Bescheid des Bundesamtes vom 02.08.2021 jederzeit mit seiner Überstellung nach Griechenland rechnen muss. Ferner kommt hinzu, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen unmittelbar bevorstehen, nachdem die für die Abschiebung zuständige zentrale Ausländerbehörde sowohl mit Schreiben vom 09.07.2021 bzw. 03.08.2021 gegenüber den Bevollmächtigten des Antragstellers, wie auch telefonisch gegenüber dem Gericht mitgeteilt hat, dass eine Abschiebung des Antragstellers zeitnah erfolgen wird, entsprechende Schritte bereits eingeleitet wurden und eine Entscheidung des Bundesamts über den Wiederaufgreifensantrag nicht abgewartet werden wird.
b) Der Antragsteller hat auch Umstände glaubhaft gemacht, aus denen sich ein Anordnungsanspruch ergibt.
In der Hauptsache begehrt der Antragsteller, sein bestandskräftig abgeschlossenes Asylverfahren wiederaufzugreifen und festzustellen, dass Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 bzw. 7 AufenthG bestehen. Dieser Anspruch soll mit einer einstweiligen Anordnung gesichert werden, da aufgrund des Bestehens eines Abschiebungsverbotes bereits jetzt trotz der bestandskräftigen Abschiebungsandrohung die drohende Abschiebung des Antragstellers nach Griechenland zu untersagen ist.
Will der von einer bestandskräftigen Abschiebungsanordnung Betroffene eine nachträgliche Veränderung der Sach- oder Rechtslage geltend machen, so kann er – wie der Antragsteller im vorliegenden Fall – einen Antrag beim Bundesamt auf Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß § 51 Abs. 1 VwVfG stellen und, wenn die Behörde das Wiederaufgreifen des Verfahrens ablehnt, weil sie den Antrag für unzulässig oder unbegründet hält, gegen diese Entscheidung Verpflichtungsklage erheben, und zwar auf Abänderung des Verwaltungsakts, hinsichtlich dessen ein Wiederaufgreifen des Verfahrens beantragt war. Insoweit besteht sodann nicht die Möglichkeit lediglich auf “Wiederaufgreifen” zu klagen, denn für den Fall, dass der Wiederaufgreifensantrag zulässig und begründet ist, ist in der Sache zu entscheiden (vgl. § 113 Abs. 5 VwGO) und es ist dem Gericht verwehrt; “isoliert” über die Frage des “ob” des Wiederaufzugreifens zu entscheiden (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.02.1998 – 9 C 28/97).
Offen bleiben kann insoweit aber, ob auch bereits vor Erlass einer Behördenentscheidung über den Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens ein Rechtschutzbedürfnis für eine Verpflichtungsklage auf Wiederaufgreifen des Verfahrens und Feststellung eines Abschiebungsverbots besteht, dass Gericht also verpflichtet ist, Spruchreife gem. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO herzustellen oder aber wegen der Besonderheiten des Asylverfahrens die Behörde lediglich im Rahmen einer Untätigkeitsklage zu einer Entscheidung zu verpflichten ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.12.2016, BVerwG 1 C 4.16).
Denn in beiden Fallkonstellationen ist eine einstweilige Anordnung gleichwohl zu erlassen, wenn weit überwiegende Erfolgsaussichten in der Hauptsache bestehen und ohne den Erlass der einstweiligen Anordnung ein äußerst schwerwiegender Nachteil droht (VGH Kassel, Beschluss vom 26.10.2009 – 7 B 2707/09).
Dem Antragsteller steht ein Abschiebungsverbot im Hinblick auf Griechenland gem. § 60 Abs. 5 AufenthG zu, da ihm im Falle der Abschiebung – und damit ohne Erlass der einstweiligen Anordnung – eine menschenunwürdige Behandlung droht. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 14. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung nicht zulässig ist. Die Reichweite der Schutznormen des § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt. Unter Bezugnahme auf ein Urteil des EGMR vom 28. Juni 2011 im Verfahren S* … und E* … hat der Bayer. Verwaltungsgerichtshof im Beschluss vom 8. Januar 2018 – 20 ZB 17.30839 – u.a. dargelegt, dass in ganz außergewöhnlichen Fällen auch schlechte humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK verletzen könnten, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung “zwingend” seien.
Offen bleiben kann insoweit, ob aufgrund der aktuellen Atteste bezüglich seiner bestehenden psychischen Erkrankungen ein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens und ein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 bzw. 7 AufenthG besteht oder die geänderten Verhältnisse in Griechenland zum Wiederaufgreifen des Verfahrens im engeren Sinn nach § 51 Abs. 1 – 3 VwVfG führen können, da die Behörde jedenfalls nach pflichtgemäßem Ermessen nach § 51 Abs. 5 i.V.m. §§ 48,49 VwVfG zu entscheiden hat, ob die bestandskräftige frühere Entscheidung aufgehoben wird. Das Ermessen ist in Fällen – wie dem vorliegenden – auf Null reduziert, in denen ein Festhalten an der ursprünglichen Entscheidung zu einem schlechthin untragbaren Ergebnis führen würde, etwa, weil der Betroffene ansonsten einer extremen Gefahr im Herkunftsstaat ausgesetzt sein würde und die geltend gemachten Umstände bisher noch nicht überprüft worden sind (vgl. BVerwG, U. v. 20.10.2004 – 1 C 15/03 – juris), sodass die Erfolgsaussichten in der Hauptsache weit überwiegend bestehen.
Für den Antragsteller, dem in Griechenland bereits internationaler Schutz zuerkannt worden ist, besteht im Falle einer Abschiebung die Gefahr einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung, da der Antragsteller nach den aktuellen Erkenntnismitteln (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Griechenland vom 31.05.2021; Stiftung ProAsyl, Refugee Support Aegean (RSA), Zur aktuellen Situation von international Schutzberechtigten in Griechenland vom April 2021; Amnesty International, Amnesty Report Griechenland 2020 vom 07.04.2021) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unabhängig von seinem Willen und seiner persönlichen Entscheidungen in Griechenland in eine Situation extremer materieller Not geraten und seine elementarsten Bedürfnisse (“Bett, Brot, Seife”) für einen längeren Zeitraum nicht befriedigen können wird (ebenso: OVG Lüneburg, U. v. 19.04.2021 – 10 LB 244/20 – juris; OVG Nordrhein-Westfalen, U. v. 21.1.2021 – 11 A 1564/20.A – juris; VG Regensburg, U.v. 14.07.2021 – RO 13 K 20.31305; für vulnerable Personengruppen: BayVGH, B.v. 25.06.2019 – 20 ZB 19.31553; a. A. OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 6.9.2019 – 4 LB 17/18 -, juris; VG Ansbach, U.v. 10.02.2021 – AN 17 K 18.50427).
Es besteht für den Antragsteller eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, nach einer Rücküberstellung nach Griechenland obdachlos zu werden. Aufgrund des Mangels an Unterbringungskapazitäten greifen anerkannt Schutzberechtigte, einschließlich Vulnerable, auf Notunterkünfte zurück oder bleiben in den städtischen Gebieten von Athen, Thessaloniki und Petra obdachlos. Andere leben unter prekären Bedingungen in besetzten oder verlassenen Gebäuden ohne Zugang zu Strom oder Wasser (vgl. BFA Länderinformationsblatt Griechenland, 31.05.2021, S. 24). Der Antragsteller kann nicht auf solche “informelle Möglichkeiten” der Unterkunft in verlassenen bzw. besetzten Gebäuden verwiesen werden. Denn abgesehen von der Illegalität dieser Unterkunftsform sind diese Gebäude wegen der dort zumeist herrschenden menschenunwürdigen Zustände unzumutbar (OVG Lüneburg, U. v. 19.04.2021 – 10 LB 244/20 – juris; OVG Nordrhein-Westfalen, U. v. 21.1.2021 – 11 A 1564/20.A – juris.). Diese Situation hat sich durch die Auflösung von Flüchtlings-Camps auf den ägäischen Inseln und die Erschwernisse infolge der Corona-Krise noch verschärft (OVG Lüneburg, U. v. 19.04.2021 – 10 LB 244/20 – juris; OVG Nordrhein-Westfalen, U. v. 21.1.2021 – 11 A 1564/20.A – juris). Dass Obdachlosigkeit kein augenscheinliches Massenphänomen darstellt, trifft jedenfalls aktuell nicht mehr zu. Selbst in der deutschen Presse wird umfänglich über obdachlose anerkannte Schutzberechtigte in Athen berichtet (vgl. etwa Redaktionsnetzwerk Deutschland, “Flüchtlinge in Athen: Ein Leben wie menschliches Treibgut”, 20.10.2020, http://bit.ly/36E8LsO, Abruf: 6.4.2021; Der Spiegel, Plötzlich vor dem Nichts, 6.6.2020, https://bit.ly/3wwkvZH, Abruf: 6.4.2021). Wo staatliche Unterstützung fehlt, kann allenfalls auf die gezielte Unterstützung der NGOs für Flüchtlinge und Migranten zurückgegriffen werden. Allerdings sind auch diese Organisationen nicht in der Lage, die erforderlichen Unterstützungen flächen- und bedarfsdeckend abzudecken (vgl. BFA Länderinformationsblatt Griechenland, 31.05.2021, S. 24; ProAsyl Stellungnahme April 2021). Ferner ist der Umstand zu berücksichtigen, dass anerkannt Schutzberechtigte, anders als die griechische Bevölkerung, nicht über ein familiäres Netzwerk verfügen, welches in Griechenland bei der sozialen Absicherung eine besondere Rolle spielt (vgl. AA vom 26.9.2018 an das VG Schwerin).
Der Antragsteller wird ferner mit hoher Wahrscheinlichkeit im Falle seiner Rücküberstellung nach Griechenland nicht in der Lage sein, mit Erwerbstätigkeit die finanziellen Mittel zu erlangen, die er für die Versorgung mit den für ein Überleben notwendigen Gütern benötigt. Die Ausstellung zahlreicher, für die Aufnahme einer offiziellen Erwerbstätigkeit benötigter Dokumente ist an hohe Voraussetzungen geknüpft und teils wechselseitig vom Vorhandensein weiterer Dokumente abhängig (OVG Lüneburg, U. v. 19.04.2021 – 10 LB 244/20 -, Rn. 53 ff). Als letzte Möglichkeit verbleibt eine Erwerbstätigkeit im ungeregelten Arbeitsmarkt bzw. in der sogenannten “Schattenwirtschaft”. Einige Sektoren der griechischen Wirtschaft wie etwa der Tourismus und die Landwirtschaft sind zwar vor der Corona-Pandemie teilweise von schwarzarbeitenden Migranten abhängig gewesen, jedoch bedeutet dies bei weitem nicht, dass anerkannte Schutzberechtigte auch eine Tätigkeit, die ihre Versorgung mit den für ein Überleben notwendigen Gütern sichergestellt hätte, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit hätten finden können (OVG Lüneburg, U. v. 19.04.2021 – 10 LB 244/20 -, Rn. 62 ff). Griechenland leidet nunmehr sehr stark unter dem mit der Corona-Pandemie verbundenen Wirtschaftseinbruch, insbesondere im Tourismus (vgl. BFA Länderinformationsblatt Griechenland, 31.05.2021, S. 5), sodass erst recht nicht davon auszugehen ist, dass der ungeregelte Arbeitsmarkt anerkannten Schutzberechtigten ein zum Überleben ausreichendes Einkommen sichern kann. Auch dies bestätigt der Antragsteller mit seinen Ausführungen, dass er überall nach einer Arbeit gefragt habe, aber Griechenland sei voll mit Flüchtlingen und keiner habe eine Arbeit erhalten.
Da der Antragsteller in Ermangelung eines längerfristig bestehenden, legalen Aufenthalts auch keine Sozialleistungen erhalten kann und letztlich praktisch auch nur in ganz geringem Maße Unterstützung von NGOs gewährleistet wird (Diese Hilfsmaßnahmen, die ergänzt werden durch Hilfen der orthodoxen Kirche und der Zivilgesellschaft, können aber lediglich als “elementares Auffangnetz gegen Hunger und Entbehrungen” bezeichnet werden (vgl. AA, Auskunft an das VG Schwerin vom 26.9.2018, Seite 4)) droht dem Antragsteller mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit innerhalb kürzester Zeit Verelendung und ein Leben unter menschenrechtswidrigen Bedingungen. Auch wenn dem Antragsteller als erwachsenen und gesunden Mann ohne Unterhaltspflichten vorübergehend auch schwierige Verhältnisse zugemutet werden können, ist bei den oben dargestellten Bedingungen selbst bei der Annahme, dass er sich ohne Einschränkung der Alltagsbewältigung und Erwirtschaftung seines Lebensunterhalts widmen kann, nicht davon auszugehen, dass er sich ein menschenwürdiges Existenzminimum in absehbarer Zeit wird erwirtschaften können. Denn selbst wenn er sich den schwierigen Bedingungen stellt und es durch eine hohe Eigeninitiative schafft, die nur in äußerst geringem Maße vorhanden Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen, werden diese nicht ausreichen, um für seine Unterbringung und seinen Lebensunterhalt zu sorgen.
Dem Antrag war damit in dem tenorierten Umfang stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Ablehnung des Antrags nach § 123 VwGO im Hinblick auf eine einstweilige Verhinderung der Abschiebung bis zu einer bestandskräftigen Behördenentscheidung fällt insoweit im Rahmen der Kostenentscheidung gem. § 155 Abs. 1 S. 4 VwGO nicht ins Gewicht. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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