Verwaltungsrecht

Erlöschen der Verpflichtung zur Wiederaufnahme nach Verlassen des Hoheitsgebietes des Mitgliedsstaates für mindestens drei Monate

Aktenzeichen  M 24 S 16.50506

Datum:
29.9.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 18 Abs. 1, Art. 19 Abs. 2
AsylG AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1a, § 34a Abs. 1 S. 2

 

Leitsatz

Die Verpflichtung, einen Asylbewerber nach Art. 18 Abs. 1 VO (EU) Nr. 604/2013 wieder aufzunehmen, erlischt, wenn der Asylbewerber den Nachweis erbringt, dass er das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlassen hat, bevor er einen neuen Asylantrag in einem anderen Mitgliedstaat gestellt hat. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 27. Juni 2016 wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die von der Antragsgegnerin verfügte Anordnung der Abschiebung nach Großbritannien im Rahmen eines sog. Dublinverfahrens.
Der Antragsteller ist afghanischer Staatsangehöriger, der am … Februar 2016 in der Bundesrepublik Deutschland aufgegriffen wurde. Bei seiner Anhörung im Rahmen des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates für die Durchführung des Asylverfahrens gab der Antragsteller an, sein Herkunftsland am 2. Dezember 2015 verlassen zu haben. Er sei über den Iran, die Türkei, Bulgarien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich am … Januar 2016 nach Deutschland eingereist. Er habe für die Zeit vom 5. Januar 2010 bis 31. Juli 2012 ein Visum für „die Bundesrepublik Deutschland oder einen anderen Mitgliedsaat“ besessen. Er habe in keinem anderen Staat einen Asylantrag gestellt; ihm seien in keinem Staat Fingerabdrücke abgenommen worden.
Die EURODAC-Abfrage des Bundesamtes ergab am 26. Februar 2016 einen Treffer für Bulgarien und für Großbritannien (Bl. 14 der Behördenakte). Das Bundesamt richtete am 23. März 2016 ein Wiederaufnahmeersuchen zur Durchführung des Asylverfahrens an Großbritannien. Die zuständige Behörde („Home Office, UK Visas and Immigration“) erklärte sich am … April 2016 mit der Wiederaufnahme des Antragstellers einverstanden (Bl. 24 der Behördenakte).
Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 27. Juni 2016, dem Antragsteller zugestellt am 5. Juli 2016, ordnete das Bundesamt die Abschiebung nach Großbritannien an (Nr. 1). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) wurde auf 6 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 2).
Zur Begründung wurde ausgeführt, die Abschiebung nach Großbritannien sei gemäß § 34a Abs. 1 Satz 2 AsylG anzuordnen, da dieser Staat gem. Art. 3 Dublin-III-VO für die Bearbeitung des Antrages auf internationalen Schutz zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die gegen eine Überstellung nach Großbritannien sprechen könnten, seien nicht ersichtlich. Gründe, das für den Fall der Abschiebung bestehende Einreise- und Aufenthaltsverbot auf weniger als 6 Monate zu befristen, wurden nicht vorgetragen noch sind solche sonst ersichtlich.
Mit am 12. Juli 2016 bei Gericht eingegangenem Telefax vom selben Tag erhob der Antragsteller durch seinen Prozessbevollmächtigte Klage mit dem Antrag, den Bescheid der Beklagten und Antragsgegnerin vom 27. Juni 2016, zugestellt am 5. Juli 2016, aufzuheben. Über die unter dem Aktenzeichen M 24 K 16.50505 anhängige Klage ist noch nicht entschieden worden.
Zugleich wurde beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Der Antragsteller sei am … Januar 2016 aus Afghanistan über den Iran, die Türkei, Bulgarien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich nach Deutschland eingereist. Am 11. Februar 2010 sei er mit einem Studentenvisum in das Vereinigte Königreich eingereist und habe in der Folge dort studiert. Am 19. September 2012 habe er im Vereinigten Königreich einen Asylantrag gestellt, der jedoch, seiner Erinnerung nach, im Oktober oder Anfang November 2012 abgelehnt worden sei. Am 6. November 2012 habe der Antragsteller dann freiwillig das Vereinigte Königreich verlassen und sei nach Afghanistan zurückgekehrt. Dort habe er sich durchgehend von 6. November 2012 bis Anfang Dezember 2015 aufgehalten. In Deutschland sei der Antragsteller mittlerweile an der … … immatrikuliert und besuche bereits Kurse in Deutsch als Fremdsprache, European Business Law und Marketing.
Der Antrags- und Klageschrift waren neben einer eidesstattlichen Versicherung des Antragstellers zahlreiche Unterlagen (u. a. eine Kopie des Studentenvisums und des Einreisestempels vom 6. November 2012 durch die afghanischen Behörden am Flughafen …) beigefügt.
Die Antragsgegnerin legte mit Schreiben vom 11. Juli 2016 die Bundesamtsakte vor, stellte aber keinen Antrag.
Mit Schreiben vom 17. August 2016 legte der Bevollmächtigte des Antragstellers ein Schreiben der „Home Office, UK Visas and Immigration“ vom 27. Juli 2016 vor, wonach das Wiederaufnahmeersuchen hätte abgelehnt werden müssen, da der Antragsteller am 5. November 2012 „using the United Kingdom`s Assisted Voluntary Return scheme“ nach Afghanistan zurückgekehrt sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten des Klage- sowie des Eilverfahrens sowie auf die vorgelegte Bundesamtsakte Bezug genommen.
II.
1. Der Antrag im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.
Der Antrag ist gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 75 Abs. 1 AsylG zulässig, insbesondere rechtzeitig innerhalb der Wochenfrist (§ 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG) bei Gericht gestellt worden. Der Antrag ist auch begründet.
1.1. Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage im Fall des hier einschlägigen gesetzlichen Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 75 Abs. 1 AsylG) ganz oder teilweise anordnen. Hierbei hat das Gericht selbst abzuwägen, ob die Interessen, die für einen gesetzlich angeordneten sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts streiten oder die, die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung sprechen, höher zu bewerten sind. Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache als wesentliches, aber nicht als alleiniges Indiz zu berücksichtigen (beispielsweise BVerwG, B.v. 25.3.1993 – 1 ER 301/92 – NJW 1993, 3213, juris Rn. 3). Wird der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nur möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein, weil er zulässig und begründet ist, so wird im Regelfall nur die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtmäßig, besteht ein öffentliches Interesse an seiner sofortigen Vollziehung und der Antrag bleibt erfolglos. Sind die Erfolgsaussichten bei summarischer Prüfung als offen zu beurteilen, findet eine eigene gerichtliche Abwägung der für und gegen den Sofortvollzug sprechenden Interessen statt.
Gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG kommt es für den vorliegenden Beschluss im Eilverfahren, der ohne mündliche Verhandlung ergeht, maßgeblich auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung an.
1.2. Nach derzeitiger Sach- und Rechtslage wird die in der Hauptsache erhobene Anfechtungsklage gegen die Abschiebungsanordnung nach Großbritannien aller Voraussicht nach Erfolg haben. Damit überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin.
Die Anfechtungsklage gegen die Abschiebungsanordnung ist zulässig, insbesondere innerhalb der Wochenfrist des § 74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG erhoben worden. Die Klage ist auch begründet, da das Bundesamt zu Unrecht die Abschiebung nach Großbritannien angeordnet hat.
1.3. Rechtsgrundlage für die Abschiebungsanordnung ist § 34a Abs. 1 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG – in der am 6. August 2016 in Kraft getretenen Fassung durch das Integrationsgesetzes vom 31. Juli 2016 (BGBl. I, 1939 ff) – vormals § 27a AsylG a. F.) an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG ist ein Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und Rates vom 26. Juni 2013 (Dublin-III-VO) für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
Der Erlass einer Abschiebungsanordnung ist auch dann zulässig, wenn der Ausländer den Asylantrag in einem anderen aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gestellt hat (§ 34a Abs. 1 Satz 2 AsylG). Auch ohne Asylantrag in Deutschland werden sog. „Aufgriffsfälle“ vom Anwendungsbereich des § 34a Abs. 1 AsylG erfasst. Im Rahmen der Änderung des Asylverfahrensgesetzes im Jahr 2013 wurde zur Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie (2011/95/EU) in § 34a Abs. 1 Satz 2 AsylG in seiner auch jetzt noch geltenden Fassung ausdrücklich mit der Begründung eingefügt, dass diese Vorschrift eine gesetzliche Aufgabenzuweisung für das Bundesamt darstellt und der Erfassung der so genannten „Aufgriffsfälle“ dienen soll, in denen ein Ausländer im Inland angetroffen wird, der in einem anderen Staat – in dem die Dublin-VO Anwendung findet – einen Asylantrag gestellt hat, nicht aber in Deutschland (BT-Drs. 17/13556, S. 7).
Die für die Bestimmung des nach § 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG zuständigen Staates maßgebliche Dublin-III-VO ist gem. Art. 49 Unterabs. 2 Satz 1 Alternative 2 Dublin-III-VO auf den vorliegenden Fall anwendbar, da das Wiederaufnahmegesuch der Bundesrepublik Deutschland an Großbritannien nach dem 1. Januar 2014 gestellt wurde.
1.4. Im vorliegenden Fall ist Großbritannien jedoch nicht (mehr) für die Prüfung des Asylantrags zuständig. Zwar existiert ein EURODAC-Treffer für Großbritannien, in dem als Datum der Asylantragstellung der 19. September 2012 angegeben ist, so dass Großbritannien ursprünglich einmal für die Prüfung des Asylantrags gewesen sein mag. Da der Antragsteller, wie sich aus den im Verwaltungsstreitverfahren vorgelegten Unterlagen, insbesondere dem Schreiben der „Home Office, UK Visas and Immigration“ vom 27. Juli 2016, und aus seinen Angaben gegenüber dem Bundesamt ergibt, das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate (freiwillig) verlassen hat, ist jedenfalls eine etwaige Verpflichtung Großbritanniens nach Art. 18 Abs. 1 Dublin-III-VO, den Antragsteller wieder aufzunehmen, nach Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin-III-VO erloschen.
Hierauf kann sich der Antragsteller auch berufen, obwohl sich Großbritannien auf die fristgerecht gestellte Anfrage der Antragsgegnerin mit Schreiben vom 16. April 2016 mit einer Wiederaufnahme des Antragstellers einverstanden erklärt hat.
Nach den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs vom 7. Juni 2016 (EuGH, U.v. 7.6.2016 – C-63/15 – Ghezelbash – und U.v. 7.6.2016 – C-155/15 – Karim – beide juris) kann ein Asylbewerber, der unter die Regelung der Dublin-III-VO fällt, im Rahmen eines Rechtsbehelfs (auch) die fehlerhafte Anwendung von Zuständigkeitskriterien geltend machen. Diese mit den Regelungen des Rechtsmittelrechts in Art. 27 Dublin-III-VO und mit dem 19. Erwägungsgrundes der Dublin-III-VO im Urteil „Ghezelbash“ für die Zuständigkeitskriterien des Kapitel III umfangreich begründete Rechtsauffassung erstreckt der EuGH in seinem Urteil „Karim“ auch auf Art. 19 Abs. 2 Dublin-III-VO:
Art. 19 Abs. 2 Dublin-III-VO ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) nämlich so auszulegen, dass diese Bestimmung, insbesondere ihr Unterabs. 2, auf einen Drittstaatsangehörigen anwendbar ist, der nach der Stellung eines ersten Asylantrags in einem Mitgliedstaat den Nachweis erbringt, dass er das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlassen hat, bevor er einen neuen Asylantrag in einem anderen Mitgliedstaat gestellt hat.
Art. 27 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 ist im Licht des 19. Erwägungsgrundes dieser Verordnung dahin auszulegen, dass in einem Sachverhalt wie dem im Ausgangsverfahren fraglichen ein Asylbewerber im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung über seine Überstellung einen Verstoß gegen die Regelung des Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung geltend machen kann.
Demzufolge kommt die Überstellung des Antragstellers, der sich auf Art. 19 Abs. 2 Dublin-III-VO beruft, nach Großbritannien nicht in Betracht. Die Abschiebungsanordnung des streitgegenständlichen Bescheides erweist sich damit als rechtswidrig, so dass die hiergegen erhobene Anfechtungsklage Erfolg haben wird. Im überwiegenden Interesse des Antragstellers war daher die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
2. Nachdem der Antrag vollumfänglich Erfolg hat, sind die Kosten der Antragsgegnerin aufzuerlegen (§ 154 Abs. 1 VwGO). Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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