Verwaltungsrecht

Ermessensausfall bei verkehrsrechtlicher Anordnung nur aufgrund Beschluss eines Ausschusses

Aktenzeichen  M 23 K 16.3634

Datum:
14.12.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 146774
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 114
StVO § 45 Abs. 9 S. 1

 

Leitsatz

1 Hat der Ausschuss für Umwelt, Verkehr und Tiefbau ein Konzept „Verkehrsberuhigung für die Stadt“ erlassen wonach – soweit noch nicht vorhanden – vor Schulen, Kindergärten und Altenheimen die Geschwindigkeit auf 30 km/h reduziert werden soll, fehlt es an der erforderlichen Ermessensausübung, wenn in der Nähe einer Kinderkrippe ohne weitere Begründung eine verkehrsrechtliche Anordnung ergeht. (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Notwendigkeit einer Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h ergibt sich nicht automatisch bereits daraus, dass sich im streitgegenständlichen Straßenabschnitt eine Kinderkrippe befindet. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die verkehrsrechtliche Anordnung vom 13. August 2015 wird aufgehoben, soweit die Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h in nördliche Fahrtrichtung (Richtung Rothschwaiger Straße) erweitert wurde, indem das auf der Ostseite vorhandene Zeichen 274-55 StVO „50“ um 100 Meter vor die im Plan der Anordnung gekennzeichnete Einfahrt des Kinderhauses versetzt wurde.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Anfechtungsklage ist zulässig, insbesondere ist der Kläger als Verkehrsteilnehmer von der Regelung betroffen (§ 42 Abs. 2 VwGO). Auch die gem. § 58 Abs. 2 VwGO maßgebliche Jahresfrist ist eingehalten.
Die Klage hat auch in der Sache Erfolg.
Die verkehrsrechtliche Anordnung vom 13. August 2015 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).
Rechtsgrundlage für die Anordnung von Verkehrszeichen sind die §§ 39 Abs. 1, 45 Abs. 1 Satz 1 StVO (die Beklagte stützt ihre Anordnung trotz fehlender Benennung der Rechtsgrundlage offenkundig hierauf) und Abs. 9 Satz 1. Gemäß § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO können die Straßenverkehrsbehörden die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten und den Verkehr umleiten. Allerdings modifiziert und konkretisiert (vgl. hierzu BayVGH, U.v. 28.9.2011 – 11 B 11.910 – juris Rn. 24) § 45 Abs. 9 StVO diese Ermächtigungsgrundlage dahin gehend, dass Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen nur dort anzuordnen sind, wo dies aufgrund der besonderen Umstände zwingend erforderlich ist (Satz 1).
Im Ergebnis offenbleiben kann vorliegend, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO und § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO vorliegen, also die Erweiterung der Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h im streitgegenständlichen Bereich aufgrund einer dortigen Gefahrenlage zwingend erforderlich ist. Insbesondere ergibt sich die Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h nicht automatisch bereits daraus, dass sich im streitgegenständlichen Straßenabschnitt eine Kinderkrippe befindet (vgl. BR-Drs. 332/16, S. 14). Die zwingende Erforderlichkeit drängt sich nach den vom Gericht im Augenschein getroffenen Feststellungen gerade nicht auf, da Querungen zwischen den beidseitig der Cerveteri Straße verlaufenden Gehwegen durch Kleinkinder ausgeschlossen erscheinen. So weist die Cerveteri Straße im streitgegenständlichen Straßenabschnitt eine durchgehende etwa 70 cm hohe Hecke auf, die nur auf der Westseite an den Zufahrten zur Kinderkrippe unterbrochen ist. Im Übrigen erscheint ausgeschlossen, dass Kleinkinder die Einrichtung unbegleitet aufsuchen. Durch den geraden Straßenverlauf ist der Straßenabschnitt auch gut einsehbar.
Unabhängig davon hat die Beklagte jedenfalls ihr durch § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO eingeräumte Ermessen nicht ordnungsgemäß betätigt.
Das Gericht kann die getroffene Ermessensentscheidung der Beklagten gemäß § 114 Satz 1 VwGO nur eingeschränkt daraufhin überprüfen, ob die Beklagte das ihr eingeräumte Ermessen erkannt, von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht und ob sie die gesetzlichen Grenzen des Ermessens eingehalten hat. Der Betroffene kann im Rahmen der behördlichen Ermessensausübung verlangen, dass seine eigenen Interessen ohne Rechtsfehler mit den Interessen der Allgemeinheit und anderer Betroffener, die für die Einführung der Verkehrsbeschränkung sprechen, abgewogen werden (BVerwG, U.v. vom 27.1.1993 – 11 C 35/92, juris). Es bedarf zur gerichtlichen Nachprüfung, ob eine verkehrsrechtliche Anordnung diesen Anforderungen gerecht wird, und ob die handelnde Behörde ihr Ermessen überhaupt erkannt und ausgeübt hat, einer nachvollziehbaren Darlegung der Ermessenserwägung. Zwar bedarf es für eine verkehrsrechtliche Anordnung als öffentlich bekanntgegebene Allgemeinverfügung keiner Begründung (Art. 39 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG). Die vor Erlass der verkehrsrechtlichen Anordnung angestellten Überlegungen und Abwägungsgesichtspunkte müssen sich jedoch – etwa anhand der Behördenakte – zumindest im Wesentlichen nachvollziehen lassen.
Unter Anwendung dieser Grundsätze liegt hier Ausfall des Ermessens vor.
Dem von Beklagtenseite übermittelten Verwaltungsvorgang ist eine Ausübung des Ermessens in keiner Weise erkennbar zu entnehmen. Ob die Beklagte Ermessenserwägungen angestellt hat, aus denen sich z.B. entnehmen ließe, ob sie die Belange von Personen, deren Interessen durch die getroffene Maßnahme u. U. nachteilig berührt werden, in dem gebotenen Umfang erfasst hat, und ob diese Aspekte in rechtsfehlerfreier Weise mit den Gesichtspunkten abgewogen wurden, die ggf. für die Erweiterung der Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h sprechen, sind nicht ansatzweise erkennbar. Die Beklagte hat vor Erlass der streitgegenständlichen verkehrsrechtlichen Anordnung ausschließlich den Grundsatzbeschluss vom 6. Mai 2015 gefasst, der jedoch seinerseits offensichtlich keine Ermessensbetätigung im Hinblick auf Einzelfälle, wie hier die streitgegenständliche Anordnung, enthält. Aus ihm wird ausschließlich die Intention deutlich, sämtliche sensible Einrichtungen wie Schulen, Kindergärten und Altenheime durch die Herabsetzung der Geschwindigkeit auf 30 km/h schützen zu wollen, dies pauschal und flächendeckend für das Stadtgebiet. Dieser Beschluss legt nahe, dass sich die Beklagte entgegen ihrer Pflicht zur Ermessensausübung dazu ermächtigt sah, ohne jede Einzelfallprüfung vor jedem Kindergarten bzw. jeder Kindertagesstätte eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h einzurichten. Allerdings zieht das Bestehen von Kindertagesstätten selbst unter Zugrundelegung der neuen Rechtslage (§ 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 6 StVO vom 30. November 2016) keinen Automatismus hinsichtlich der Errichtung von Geschwindigkeitsbeschränkungen auf 30 km/h nach sich (vgl. BR-Drs. 332/16, S. 14). Dies übersieht die Beklagte. Durch die Gesetzesänderung wurden lediglich die tatbestandlichen Hürden für Anordnungen von innerörtlichen streckenbezogenen Geschwindigkeitsbeschränkungen von 30 km/h insbesondere vor Kindergärten und Kindertagesstätten abgesenkt. Die Änderung lässt jedoch unberührt, dass derartige Anordnungen weiterhin im Ermessen der Behörde stehen und daher einer einzelfallorientierten Abwägung der jeweiligen betroffenen Interessen bedürfen. Ein Fall der Ermessensreduzierung auf Null ist vorliegend nicht zu erkennen.
Die Beklagte hat erstmals im Nachgang zur streitgegenständlichen Anordnung mit Schriftsatz vom 25. November 2016 Ermessenserwägungen – wenn auch nur knapp – dargestellt. Da die Beklagte jedoch erkennbar vor Erlass der verkehrsrechtlichen Anordnung keinerlei Ermessenserwägungen angestellt hat, sodass ein der gerichtlichen Kontrolle zugänglicher Ermessensausfall festzustellen war, können diese auch nicht im gerichtlichen Verfahren nach § 114 Satz 2 VwGO nachgeschoben werden (VGH München, B.v. 14.2.2006 – 11 ZB 04.3215 – juris). Denn diese Vorschrift gestattet nur eine „Ergänzung“ bereits vorhandener Ermessenserwägungen, nicht aber das erstmalige Ausüben von Ermessen im Laufe eines gerichtlichen Rechtsstreits.
Nach alledem war die verkehrsrechtliche Anordnung aufzuheben. Das Gericht geht davon aus, dass die Beklagte die Beschilderung in der Folge zeitnah abbaut, selbst wenn kein Antrag auf Folgenbeseitigung gestellt wurde.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Kostenausspruchs beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1,
Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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