Verwaltungsrecht

Folgeantrag eines syrischen Wehrpflichtigen

Aktenzeichen  RN 11 K 21.30505

Datum:
18.5.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 13026
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG §§ 71 Abs. 1 S. 1, 29 Abs. 1 Nr. 5
VwVfG § 51
RL 2013/32/EU Art. 33 Abs. 2 Buchstabe d

 

Leitsatz

1. Das Urteil des EuGH vom 19. November 2020 (Az. C 238/19) führt zu keiner neuen Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG.
2. Das Urteil ist auch keine „neue Erkenntnis“ im Sinne des Art. 33 Abs. 2 Buchstabe d der RL 2013/32/EU.

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Über die Klage kann gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden werden, weil die Streitsache keine besonderen Schwierigkeiten aufweist und der entscheidungserhebliche Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten wurden zuvor gehört, § 84 Abs. 1 Satz 2 VwGO. Die Beklagte hat auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet. Einer Einwilligung in die Entscheidung mit Gerichtsbescheid bedarf es im Übrigen nicht.
Die Klage hat keinen Erfolg.
A.
Bei verständiger Auslegung des Klagebegehrens (§ 88 VwGO) geht das Gericht davon aus, dass sich die Klage gegen die Ablehnung der Durchführung eines weiteren Asylverfahrens richtet und der nicht anwaltlich vertretene Kläger die Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheids begehrt. Insoweit ist die Klage zulässig.
Statthafte Klageart bei der Ablehnung der Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ist nämlich nicht die Verpflichtungssondern die Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO. Anders als nach der früheren Rechtsprechung kommt ein „Durchentscheiden“ des Gerichts bei Folgeanträgen gemäß § 71 des Asylgesetzes (AsylG) und bei Zweitanträgen gemäß § 71a AsylG nicht in Betracht. Das Gericht schließt sich insoweit den folgenden Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts an (vgl. BVerwG vom 14.12.2016 Az. 1 C 4/16):
„Die Ablehnung der Durchführung eines weiteren Asylverfahrens gemäß § 71 Abs. 1 AsylG bzw. – hier – § 71a AsylG stellt sich nach Inkrafttreten des Integrationsgesetzes der Sache nach als Entscheidung über die Unzulässigkeit eines Asylantrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG dar. Mit dem Integrationsgesetz hat der Gesetzgeber zur besseren Übersichtlichkeit und Vereinfachung der Rechtsanwendung in § 29 Abs. 1 AsylG die möglichen Gründe für die Unzulässigkeit eines Asylantrags in einem Katalog zusammengefasst (BT-Drs. 18/8615 S. 51). Hierzu zählt gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG nunmehr auch der – materiellrechtlich unverändert geregelte – Fall, dass im Falle eines Folgeantrags nach § 71 AsylG oder eines Zweitantrags nach § 71a AsylG ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist.
Jedenfalls seit Inkrafttreten dieser Neuregelung ist die Entscheidung, kein weiteres Asylverfahren durchzuführen, mit der Anfechtungsklage anzugreifen. Eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG stellt, ebenso wie die hier noch ergangene – gleichbedeutende – Ablehnung der Durchführung eines weiteres Asylverfahrens, einen der Bestandskraft fähigen, anfechtbaren Verwaltungsakt dar (vgl. zur bisherigen Rechtslage Funke-Kaiser, in: GK-AsylG, Stand Dezember 2016, § 71a Rn. 39). Sie verschlechtert die Rechtsstellung der Kläger, weil damit ohne inhaltliche Prüfung festgestellt wird, dass ihr Asylvorbringen nicht zur Schutzgewährung führt und darüber hinaus auch im Falle eines weiteren Asylantrags abgeschnitten wird, weil ein Folgeantrag, um den es sich gemäß § 71a Abs. 5 i.V.m. § 71 AsylG handeln würde, nur bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG zu einem weiteren Asylverfahren führen kann. Ferner erlischt mit der nach § 71a Abs. 4 i.V.m. §§ 34, 36 Abs. 1 und 3 AsylG regelmäßig zu erlassenden, sofort vollziehbaren Abschiebungsandrohung auch die Aufenthaltsgestattung (§ 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG). Der Asylsuchende muss die Aufhebung des Bescheids, mit dem die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens abgelehnt wird, erreichen, wenn er eine Entscheidung über seinen Asylantrag erhalten will (siehe auch BVerwG, Urteil vom 7. März 1995 – 9 C 264.94 – Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG Nr. 12 = juris Rn. 12).
Die Anfechtungsklage ist nicht wegen des Vorrangs einer Verpflichtungsklage im Hinblick darauf unzulässig, dass für das von den Klägern endgültig verfolgte Ziel der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft die Verpflichtungsklage die richtige Klageart ist. Soweit in der bisherigen Rechtsprechung zum Folgeantrag eine Verpflichtung der Gerichte zum „Durchentscheiden“ angenommen und dementsprechend die Verpflichtungsklage als allein zulässige Klageart betrachtet worden ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Februar 1998 – 9 C 28.97 – BVerwGE 106, 171 ), hält der Senat daran mit Blick auf die Weiterentwicklung des Asylverfahrensrechts nicht mehr fest.
Anknüpfend an die stärkere Betonung des behördlichen Asylverfahrens, der hierfür in der für die EU-Mitgliedstaaten verbindlichen Verfahrensrichtlinie enthaltenen, speziellen Verfahrensgarantien sowie der dort vorgesehenen eigenen Kategorie unzulässiger Asylanträge (vgl. Art. 25 der RL 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft – Asylverfahrensrichtlinie a.F. – bzw. Art. 33 der RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes – Asylverfahrensrichtlinie n.F. -) hat der Gesetzgeber mit der zusammenfassenden Regelung verschiedener Unzulässigkeitstatbestände in § 29 Abs. 1 AsylG das Verfahren strukturiert und dem Bundesamt nicht nur eine Entscheidungsform eröffnet, sondern eine mehrstufige Prüfung vorgegeben. Erweist sich ein Asylantrag schon als unzulässig, ist eine eigenständig geregelte Unzulässigkeitsentscheidung zu treffen. Zugleich hat das Bundesamt über das Bestehen nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG zu entscheiden (§ 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG). Diese Prüfungsstufe ist bei Anträgen, die das Bundesamt als Zweitantrag einstuft, auf die Fragen beschränkt, ob es sich tatsächlich um einen derartigen Antrag handelt und ob ein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist, also die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 AsylG vorliegen (§ 29 Abs. 1 Nr. 5, § 71a Abs. 1 AsylG). Die weitere in § 71a Abs. 1 AsylG genannte Voraussetzung, dass die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist, muss an dieser Stelle bereits feststehen. Andernfalls wäre eine – vorrangige – Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG zu treffen. Denn die Dublin-Verordnungen regeln abschließend die Zuständigkeit zur Prüfung eines in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags. Erst wenn ein Mitgliedstaat danach zuständig ist, kann er einen Asylantrag – wie hier – aus den Gründen des § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG als unzulässig ablehnen (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. November 2015 – 1 C 4.15 – BVerwGE 153, 234 Rn. 20).
Diese klare Gliederung der Prüfung von Anträgen, für die die Bundesrepublik Deutschland zuständig ist, in eine Entscheidung, ob ein Zweitantrag nach § 71a AsylG vorliegt und ein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist (Zulässigkeitsprüfung) und die weitere Entscheidung, ob die materiellrechtlichen Anerkennungsvoraussetzungen gegeben sind (Sachprüfung), hat auch in eigenständigen Verfahrensvorgaben für die erste Prüfungsstufe Ausdruck gefunden. In § 71a Abs. 2 AsylG wird das „Verfahren zur Feststellung, ob ein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist“, besonders geregelt (vgl. zum Verfahren der Zulässigkeitsprüfung allgemein auch § 29 Abs. 2 bis 4 AsylG). Es liegt nahe, damit auch spezialgesetzliche, prozessuale Konsequenzen zu verbinden und den Streitgegenstand einer Klage nach einer derartigen Unzulässigkeitsentscheidung auf die vom Bundesamt bis dahin nur geprüfte Zulässigkeit des Asylantrags beschränkt zu sehen (siehe auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 13. März 1993 – 2 BvR 1988/92 – InfAuslR 1993, 229 = juris Rn. 23; BVerwG, Urteil vom 23. Juni 1987 – 9 C 251.86 – BVerwGE 77, 323 ff., jeweils zur partiell vergleichbaren Rechtslage nach dem AsylVfG 1982). Dafür spricht schließlich auch § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG, wonach das Bundesamt bei einer stattgebenden gerichtlichen Entscheidung das Asylverfahren fortzuführen hat. Diese Regelung gilt zwar unmittelbar nur für den Fall eines erfolgreichen Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen Unzulässigkeitsentscheidungen nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG, dessen in § 37 Abs. 1 Satz 1 AsylG geregelte, besondere Rechtsfolgen nicht verallgemeinerungsfähig sind. Letzteres gilt jedoch nicht für den in § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG zum Ausdruck kommenden Rechtsgedanken. Dieser ist auf den Fall der Aufhebung einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG übertragbar und lässt darauf schließen, dass die verweigerte sachliche Prüfung vorrangig von der mit besonderem Sachverstand ausgestatteten Fachbehörde nachzuholen ist (ähnlich bereits BVerwG, Urteil vom 7. März 1995 – 9 C 264.94 – Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG Nr. 12 = juris Rn. 13 und 17). Ausgehend davon kommt auch ein eingeschränkter, auf die Durchführung eines (gegebenenfalls weiteren) Asylverfahrens gerichteter Verpflichtungsantrag nicht in Betracht, weil das Bundesamt hierzu nach Aufhebung der Entscheidung über die Unzulässigkeit automatisch verpflichtet ist.
Die von der jüngeren Asylgesetzgebung verfolgten Beschleunigungsziele, auf die der Vertreter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung hingewiesen hat, führen zu keiner abweichenden Beurteilung. Sie rechtfertigen es bei der derzeitigen Ausgestaltung des nationalen Asylverfahrensrechts und der unionsrechtlichen Vorgaben nicht, bei Folge- und (vermeintlichen) Zweitanträgen, welche entgegen der Einschätzung des Bundesamts zur Durchführung eines (weiteren) Asylverfahrens führen müssen, den nach dem Asylgesetz auf die Unzulässigkeitsentscheidung begrenzten Streitgegenstand auf die sachliche Verpflichtung zur Schutzgewähr zu erweitern und dann unter Rückgriff auf das allgemeine Verwaltungsprozessrecht (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO) die erstmalige Sachentscheidung in das verwaltungsgerichtliche Verfahren zu verlagern. Für bestimmte Fallgestaltungen stehen dem Bundesamt im Übrigen selbst Beschleunigungsmöglichkeiten zur Verfügung, die eine eventuelle Verlängerung der Gesamtverfahrensdauer bis zu einer abschließenden Entscheidung über die Berechtigung zu internationalem Schutz zumindest abmildern können. Hierzu zählt die Option, offensichtlich unbegründete Anträge nach § 30 AsylG abzulehnen und eine Abschiebungsandrohung mit verkürzter Ausreisefrist zu erlassen, sowie bei Folgeanträgen nunmehr auch die Möglichkeit, das Asylverfahren beschleunigt durchzuführen (§ 30a Abs. 1 Nr. 4 AsylG). Nicht zu entscheiden ist, ob und unter welchen Voraussetzungen das Bundesamt in Fällen des § 29 Abs. 1 AsylG neben einer Unzulässigkeitsentscheidung vorsorglich und in dem gehörigen Verfahren im Interesse einer Beschleunigung auch ausdrücklich (hilfsweise) eine Sachentscheidung treffen kann. Dass nach § 31 Abs. 3 AsylG in Entscheidungen über unzulässige Asylanträge festzustellen ist, „ob die Voraussetzungen des § 60 Absatz 5 oder 7 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen“, und sich das Bundesamt zumindest insoweit sachlich mit einem Schutzbegehren zu befassen hat, ersetzt diese Prüfung nicht, weil sie nicht bezogen ist auf die – dem nationalen Abschiebungsschutz vorrangige Frage der – Anerkennung als Asylberechtigter bzw. Gewährung internationalen Schutzes (§ 1 Abs. 1 AsylG) und einen anderen Streitgegenstand betrifft. Dieser Streitgegenstand kann – in Fällen, in denen das Bundesamt die Unzulässigkeitsentscheidung mit der Feststellung verbunden hat, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG nicht vorliegen – durch den Schutzsuchenden zusätzlich zu der gegen die Unzulässigkeitsentscheidung gerichteten Anfechtungsklage hilfsweise mit der Verpflichtungsklage zur verwaltungsgerichtlichen Prüfung gestellt werden.“
B.
Die Klage ist jedoch nicht begründet. Der streitgegenständliche Bescheid ist nämlich rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Dieser hat im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung keinen Anspruch auf die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens, da die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) nicht vorliegen, vgl. § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG.
Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn im Falle eines Folgeantrags nach § 71 AsylG oder eines Zweitantrags nach § 71a AsylG ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist. Nach § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein weiteres Asylverfahren nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. Dies ist dann der Fall, wenn sich die der Asylablehnung zugrundeliegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG), neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG), oder Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 der Zivilprozessordnung (ZPO) gegeben sind (§ 51 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG). Der Antrag ist gemäß § 51 Abs. 2 VwVfG nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen. Der Antrag muss gemäß § 51 Abs. 3 Satz 1 VwVfG binnen drei Monaten gestellt werden. Die Frist beginnt mit dem Tag, an dem der Betroffene von dem Grund für das Wiederaufgreifen Kenntnis erhalten hat, § 51 Abs. 3 Satz 2 VwVfG.
I. Eine nachträgliche Änderung der Sachlage zu Gunsten des Klägers im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG liegt nicht vor.
In Syrien besteht eine allgemeine Wehrpflicht für Männer ab 18 bis zum Alter von 42 Jahren (vgl. AA, Lagebericht vom 4.12.2020, S. 13). Dass der Kläger grundsätzlich der Wehrpflicht unterliegt, stellt keine Änderung der Sachlage dar, da weder entscheidungserhebliche Tatsachen weggefallen, noch neue, für die Entscheidung erhebliche Tatsachen nachträglich eingetreten sind. Das Bundesamt hat sich bereits in dem Bescheid des Erstverfahrens vom 27. April 2018 mit dem Vorbringen des Klägers auseinandergesetzt, dass er ab 1. Juli 2017 seinen Wehrdienst hätte antreten müssen. In Bezug auf die Wehrpflicht des Klägers hat sich der entscheidungserhebliche Sachverhalt damit nicht geändert. Eine nachträgliche Änderung der Sachlage ergibt sich auch nicht aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 19. November 2020 (Az. C-238/19) (vgl. hierzu OVG NRW vom 12.4.2021 Az. 14 A 818/19.A).
II. Der Kläger kann sich auch auf keine Änderung der Rechtslage zu seinen Gunsten im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG berufen.
1. Eine Änderung der materiellen Rechtslage folgt nicht aus dem Urteil des EuGH vom 19. November 2020, weil dieses rein deklaratorischer Art ist und keine konstitutive Wirkung entfaltet, weil hiermit keine Änderung des materiellen Rechts verbunden ist (vgl. auch OVG NRW vom 12.4.2021 a.a.O.). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist zumindest eine Vorabentscheidung des EuGH mit keiner Änderung des materiellen Rechts verbunden. Hierzu weist das Gericht auf die folgenden Ausführungen in dem Urteil vom 22. Oktober 2009 hin (vgl. BVerwG vom 22.10.2009 Az. 1 C 26/08):
„a) Ohne Erfolg beruft sich der Kläger auf eine Änderung der Rechtsprechung hinsichtlich der sich aus dem Gemeinschaftsrecht und aus Art. 8 EMRK ergebenden Anforderungen an die Ausweisung eines in Deutschland geborenen und aufgewachsenen assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen und damit zumindest sinngemäß auf den Wiederaufgreifensgrund einer Änderung der Rechtslage nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 LVwVfG. Sowohl die nachträgliche Klärung einer gemeinschaftsrechtlichen Frage durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) und eine hierauf beruhende Änderung der höchstrichterlichen nationalen Rechtsprechung als auch die zwischenzeitliche Konkretisierung der Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung nach Art. 8 EMRK in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des Bundesverfassungsgerichts haben nicht zu einer Änderung der Rechtslage geführt. Eine solche erfordert Änderungen im Bereich des materiellen Rechts, dem eine allgemein verbindliche Außenwirkung zukommt. Eine Änderung der Rechtsprechung führt eine Änderung der Rechtslage grundsätzlich nicht herbei. Vielmehr bleibt die gerichtliche Entscheidungsfindung grundsätzlich eine rechtliche Würdigung des Sachverhalts am Maßstab der vorgegebenen Rechtsordnung (vgl. Urteil vom 27. Januar 1994 – BVerwG 2 C 12.92 – BVerwGE 95, 86 ). Das ist nicht nur für die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, sondern auch für die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte anerkannt (vgl. Beschluss vom 24. Mai 1995 – BVerwG 1 B 60.95 – Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 32), gilt aber auch für Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, dessen Rechtsprechung in Vorabentscheidungsverfahren nach dem eigenen Selbstverständnis nicht konstitutiver, sondern rein deklaratorischer Natur ist (vgl. EuGH, Urteil vom 12. Februar 2008 – Rs. C-2/06, Kempter – Slg. 2008, I-00411 Rn. 35).“
Wie sich dem Urteil des EuGH vom 19. November 2020 entnehmen lässt, beruht dieses auf einem Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Hannover gemäß Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), das beim Gerichtshof am 20. März 2019 einging. Wie oben ausgeführt, sind Entscheidungen in diesen Verfahren rein deklaratorisch und führen zu keiner Änderung der Rechtslage. Es gibt auch keine gesetzlichen Bestimmungen, die die Gesetzeskraft dieser Entscheidungen, anders als z.B. gemäß § 31 Abs. 2 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) bezüglich bestimmter Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, anordnen. Schließlich geht auch der EuGH davon aus, dass eine Vorabentscheidung nicht konstitutiver, sondern rein deklaratorischer Natur ist (vgl. z.B. EuGH vom 12.2.2008 Az. C-2/06).
2. Das Urteil des EuGH vom 19. November 2020 ist auch keine „neue Erkenntnis“ im Sinne des Art. 33 Abs. 2 Buchstabe d der RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes. Nach dieser Vorschrift können die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz nur dann als unzulässig betrachten, wenn es sich um einen Folgeantrag handelt, bei dem keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zu der Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der RL 2011/95/EU als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind.
Eine „neue Erkenntnis“ im Sinne dieser Vorschrift kann auch unter Berücksichtigung des Urteils des EuGH vom 14. Mai 2020 (Az. C-924/19 PPU und C-925/19 PPU) nicht angenommen werden. Insoweit nimmt das Gericht zunächst auf die folgenden Ausführungen in dieser Entscheidung Bezug:
„Als Zweites ist zu prüfen, ob die RL 2013/32 in Verbindung mit Art. 18 der Charta und dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) dem entgegensteht, dass, wenn ein erster Antrag auf internationalen Schutz unter Verstoß gegen das Unionsrecht abgelehnt wurde und diese Entscheidung durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung bestätigt wurde, ein neuer Asylantrag desselben Antragstellers auf der Grundlage von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der RL 2013/32 als „Folgeantrag“ im Sinne von Art. 2 Buchst. q der RL 2013/32 für unzulässig erklärt werden kann.
Insoweit ist festzustellen, dass das Vorliegen einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung, mit der die Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz aus einem unionsrechtswidrigen Grund bestätigt wurde, den Betroffenen nicht daran hindert, einen Folgeantrag im Sinne von Art. 2 Buchst. q der RL 2013/32 zu stellen. Dieser kann sein in Art. 18 der Charta verankertes und in den Richtlinien 2011/95 und 2013/32 konkretisiertes Recht auf Anerkennung als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz also trotz einer solchen Entscheidung noch durchsetzen, sofern die entsprechenden unionsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind.
Nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der RL 2013/32 kann ein solcher Folgeantrag zwar für unzulässig erklärt werden, wenn bei ihm keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zu den Voraussetzungen der Anerkennung als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind.
Die Existenz eines Urteils des Gerichtshofs, mit dem die Unvereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem Unionsrecht festgestellt wird, nach der ein Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig zurückgewiesen werden kann, weil der Antragsteller in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats durch einen Staat eingereist ist, in dem er keiner Verfolgung ausgesetzt war und in dem für ihn auch nicht die Gefahr bestand, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, oder in dem ein angemessener Schutz gewährleistet war, stellt aber im Sinne von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der RL 2013/32 eine neue Erkenntnis im Hinblick auf die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz dar, so dass der Folgeantrag nicht auf der Grundlage dieser Bestimmung abgelehnt werden kann.
Dies gilt auch dann, wenn die Person, die internationalen Schutz beantragt, nicht auf die Existenz eines solchen Urteils des Gerichtshofs hinweist.
Im Übrigen würde die praktische Wirksamkeit des oben in Rn. 192 genannten Rechts der Person, die internationalen Schutz beantragt, schwer beeinträchtigt, wenn ein Folgeantrag aus dem in Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der RL 2013/32 genannten Grund für unzulässig erklärt werden könnte, obwohl der frühere Antrag unter Verstoß gegen das Unionsrecht zurückgewiesen worden ist.
Eine solche Auslegung dieser Bestimmung hätte nämlich zur Folge, dass sich die fehlerhafte Anwendung des Unionsrechts bei jedem neuen Antrag auf internationalen Schutz wiederholen könnte, ohne dass es möglich wäre, zu gewährleisten, dass der Antrag des Antragstellers ohne Verstoß gegen das Unionsrecht geprüft wird. Ein solches Hindernis für die effektive Anwendung der Regeln des Unionsrechts über das Verfahren der Zuerkennung internationalen Schutzes kann bei vernünftiger Betrachtung nicht durch den Grundsatz der Rechtssicherheit gerechtfertigt werden (vgl. entsprechend Urteil vom 2. April 2020, CRPNPAC und Vueling Airlines, C-370/17 und C-37/18, ECLI:EU:C:2020:260, Rn. 95 und 96).
Folglich ist Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der RL 2013/32 dahin auszulegen, dass er auf einen Folgeantrag im Sinne von Art. 2 Buchst. q dieser Richtlinie nicht anwendbar ist, wenn die Asylbehörde im Sinne von Art. 2 Buchst. f dieser Richtlinie feststellt, dass die bestandskräftige Ablehnung des früheren Antrags unionsrechtswidrig ist. Dies gilt zwingend, wenn sich die Unionsrechtswidrigkeit der Ablehnung des ersten Asylantrags wie hier aus einem Urteil des Gerichtshofs ergibt oder von einem nationalen Gericht inzident festgestellt worden ist.“
Das Urteil des EuGH vom 19. November 2020 ist schon deshalb keine neue Erkenntnis, weil er in diesem nicht die Unvereinbarkeit einer oder mehrerer nationaler Regelungen mit dem Unionsrecht festgestellt hat. Vielmehr setzt sich der EuGH damit auseinander, wie bestimmte Vorschriften der RL 2011/95/EU im Hinblick auf Wehrpflichtige aus Syrien auszulegen sind. Dem Urteil lässt sich nicht entnehmen, dass das relevante nationale Recht – insb. §§ 3 ff. AsylG – unvereinbar mit dem Unionsrecht ist, vielmehr gibt der EuGH nur Auslegungshilfen in Bezug auf diese Vorschriften (vgl. auch OVG NRW vom 12.4.2021 a.a.O.). Daher geht er auch davon aus, dass die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte in Anbetracht sämtlicher von der um internationalen Schutz nachsuchenden Person vorgetragener Anhaltspunkte die Plausibilität der Verknüpfung zwischen zumindest einem der in Art. 2 Buchstabe d der RL 2011/95/EU genannten Gründe (vgl. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) und der Strafverfolgung oder Bestrafung zu prüfen haben, mit der der Betroffene im Fall der Verweigerung des Militärdienstes zu rechnen hat (vgl. Rdnr. 56). Die Unvereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem Unionsrecht lässt sich dem nicht entnehmen, vielmehr hat der EuGH damit lediglich deklaratorische Feststellungen zur Auslegung der RL 2011/95/EU getroffen (vgl. auch VG Stuttgart vom 4.3.2021 Az. 7 K 244/19). Ferner lässt sich der Entscheidung auch nicht die Unionsrechtswidrigkeit der Ablehnung des ersten Asylantrags entnehmen, da die zuständigen Behörden und Gerichte in ihrem Prüfungsumfang nicht beschränkt sind (s.o.). Damit liegt der Fall jedoch anders als in dem Verfahren Az. C-924/19 PPU und C-925/19 PPU, in dem der EuGH das ungarische Konzept des „sicheren Transitstaats“ als Unzulässigkeitsgrund als unionsrechtswidrig und damit konkrete Vorschriften des ungarischen Rechts als mit dem Gemeinschaftsrecht als nicht vereinbar ansah.
III. Wiederaufnahmegründe im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 2, 3 VwVfG wurden nicht geltend gemacht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; die Regelung der vorläufigen Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO, §§ 708 ff. ZPO.
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei, § 83b AsylG.


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