Verwaltungsrecht

Fortsetzung des Rechtsstreits nach Rücknahmefiktion

Aktenzeichen  22 B 16.611

Datum:
6.6.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 92 Abs. 2 S. 1, § 130 Abs. 2 Nr. 2

 

Leitsatz

1 Die Rücknahmefiktion des § 92 Abs. 2 S. 1 VwGO setzt eine rechtmäßige Betreibensaufforderung voraus. Die hierfür erforderlichen Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses müssen im Zeitpunkt der gerichtlichen Aufforderung vorgelegen haben (Fortführung von BVerfG BeckRS 2012, 59274). (redaktioneller Leitsatz)
2 Zweifel am Rechtsschutzinteresse können sich aus der Verletzung prozessualer Mitwirkungspflichten ergeben. Dies ist bei einer fehlenden Klagebegründung innerhalb einer vom Gericht verlängerten Begründungsfrist grundsätzlich nicht der Fall. (redaktioneller Leitsatz)
3 Wiederholte Fristverlängerungsanträge rechtfertigen für sich genommen allein nicht den Schluss, an der Erlangung einer gerichtlichen Sachentscheidung nicht mehr interessiert zu sein. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

16 K 15.3205 2015-12-03 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I.
Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 3. Dezember 2015 wird einschließlich des ihm vorausgegangenen Verfahrens aufgehoben.
II.
Die Streitsache wird zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
III.
Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Das Urteil konnte gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung ergehen, da die Klägerin mit Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 6. Mai 2016 und die Beklagte mit Schreiben vom 18. Mai 2016 einer solchen Verfahrensgestaltung zugestimmt haben.
Die Berufung hat mit der Maßgabe Erfolg, dass in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens von der durch § 130 Abs. 2 Nr. 2 VwGO eröffneten Möglichkeit der Zurückverweisung der Streitsache an die Vorinstanz Gebrauch gemacht wird.
Das Verwaltungsgericht ging zu Unrecht davon aus, dass der Rechtsstreit aufgrund der Klagerücknahmefiktion des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO beendet sei. Dem Eintritt dieser Rechtsfolge steht entgegen, dass im Zeitpunkt des gerichtlichen Schreibens vom 1. April 2015 (vgl. zur Maßgeblichkeit der damals bestehenden Verhältnisse BVerfG, B. v. 17.9.2012 – 1 BvR 2254/11 – NVwZ 2013, 136 Rn. 26; BVerwG, B. v. 7.7.2005 – 10 BN 1.05 – juris Rn. 4) die Voraussetzungen für eine auf diese Vorschrift gestützte Betreibensaufforderung nicht vorlagen. Dies aber ist – neben dem weiteren Erfordernis, dass der Kläger innerhalb der durch § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO statuierten Zweimonatsfrist die Gesichtspunkte, aus denen sich der Fortbestand seines Rechtsschutzinteresses ergibt, nicht substantiiert dargelegt hat – notwendig, damit die in dieser Vorschrift bezeichnete Rechtsfolge eintritt (siehe auch dazu BVerfG, B. v. 17.9.2012 a. a. O. Rn. 26).
Da § 92 Abs. 2 VwGO noch erheblich weitergehende Konsequenzen auslöst als bloße Präklusionsvorschriften, sind der Auslegung und Anwendung dieser Bestimmung verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt; insbesondere ist ihr strenger Ausnahmecharakter zu beachten (BVerfG, B. v. 19.5.1993 – 2 BvR 1972/92 – DVBl 1993, 1000/1001 zur vergleichbaren Vorschrift des § 33 AsylVfG i. d. F. vom 16.7.1982, BGBl I S. 946). Eine auf § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO gestützte Aufforderung, das Verfahren zu betreiben, darf nur dann ergehen, wenn bestimmte, sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers bestehen (BVerfG, B. v. 27.10.1998 – 2 BvR 2662/95 – DVBl 1999, 166/167; BVerwG, U. v. 23.4.1985 – 9 C 48.84 – BVerwGE 71, 213/218; B. v. 12.4.2001 – 8 B 2.01 – NVwZ 2001, 918). Hinreichend konkrete dahingehende Zweifel können sich aus dem fallbezogenen Verhalten des Rechtsschutzsuchenden, insbesondere daraus ergeben, dass er prozessuale Mitwirkungspflichten verletzt hat (BVerfG, B. v. 17.9.2012 – 1 BvR 2254/11 – NVwZ 2013, 136 Rn. 26; BVerwG, B. v. 5.7.2000 – 8 B 119.00 – NVwZ 2000, 1297/1298; B. v. 12.4.2001 a. a. O.; B. v. 7.7.2005 – 10 BN 1.05 – juris Rn. 4). Entscheidend ist jedoch stets, ob sich aus einem solchen Verhalten das Desinteresse des Rechtsschutzsuchenden an der weiteren Verfolgung seines Begehrens herleiten lässt (BVerwG, B. v. 12.4.2001 a. a. O.), wenngleich ein dahingehender, über begründete Zweifel hinausgehender sicherer Schluss nicht erforderlich ist (BVerwG, B. v. 7.7.2005 a. a. O.).
Im vorliegenden Fall vermag der Verwaltungsgerichtshof unter Berücksichtigung der strengen verfassungsrechtlichen Anforderungen hinreichend konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin spätestens am 1. April 2015 das Interesse an der von ihr erhobenen Klage verloren hatte, nicht zu erkennen. Insbesondere kann nicht davon gesprochen werden, sie habe bis dahin prozessuale Mitwirkungspflichten oder -obliegenheiten verletzt. Zwar hatte sie bis zum 1. April 2015 die Klage noch nicht begründet. Hieraus dürfen jedoch deswegen keine ihr nachteiligen Schlüsse gezogen werden, da das Verwaltungsgericht den wiederholten Anträgen ihrer Bevollmächtigten, die Klagebegründungsfrist zu verlängern, jeweils stattgegeben hat. In einem solchen Fall kann ein Rechtsschutzsuchender die ihm seitens des Gerichts zugestandene Zeitspanne voll ausschöpfen.
Auch unabhängig hiervon rechtfertigten die wiederholten Fristverlängerungsanträge nicht den Schluss, der Klägerin sei nicht mehr an der Erlangung einer gerichtlichen Sachentscheidung gelegen gewesen. Diese Gesuche zeigen im Gegenteil, dass sie und ihre Bevollmächtigten die Angelegenheit nicht „aus den Augen verloren“ hatten, sondern sie sich der Notwendigkeit bewusst waren, die Klage zu begründen, um dem Gericht die erforderlichen „wirkungsvollen Hinweise“ dafür zu geben, warum die angefochtene Prüfungsentscheidung aus ihrer Sicht keinen Bestand haben kann (vgl. zu der auch im gerichtlichen Verfahren bestehenden Pflicht des Prüflings, fachliche Unrichtigkeiten der Prüfungsbewertung mit „wirkungsvollen Hinweisen“ aufzuzeigen, d. h. sie substantiiert mit einer nachvollziehbaren Begründung darzulegen, BVerwG, U. v. 4.5.1999 – 6 C 13.98 – NVwZ 2000, 915/918). Wenn die Klagebevollmächtigten im Zusammenhang mit den Verlängerungsanträgen nicht mehr auf das Akteneinsichtsgesuch vom 17. Dezember 2014 zurückkamen, so stellt dieser Umstand kein hinreichend gewichtiges Indiz für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses der Klägerin dar. Denn er kann seine Ursache z. B. auch darin finden, dass die Klagebevollmächtigten damals hofften, die für die Klagebegründung erforderlichen Informationen unmittelbar von der Klägerin im Rahmen der angestrebten Besprechung des Rechtsfalles mit ihr zu erhalten. Denn die Klägerin hatte nicht nur bereits vor der Einlegung des Widerspruchs persönlich Einsicht in die Prüfungsunterlagen genommen; nach glaubhafter Darstellung im Widerspruchsbescheid und in der Berufungserwiderung hat ihr die Beklagte darüber hinaus die von ihr eingeholten Stellungnahmen der Prüfer übersandt.
Fehlt es vorliegend aber bereits an den rechtlichen Voraussetzungen für den Erlass einer Betreibensaufforderung im Sinn von § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO, kann dahinstehen, ob das Verwaltungsgericht von dem durch diese Bestimmung eröffneten Ermessensspielraum deswegen in nicht rechtskonformer Weise Gebrauch gemacht hat, weil das Akteneinsichtsgesuch der Klagebevollmächtigten bis zum 1. April 2015 nicht verbeschieden worden war.
Die Zurückverweisung der Streitsache an das Verwaltungsgericht erscheint im vorliegenden Fall deshalb ermessensgerecht, weil die Aufklärung, wie sich der Ablauf der mündlichen Prüfung am 9. Juli 2014 darstellte, ob insbesondere die Behauptungen zutreffen, die die Klägerin diesbezüglich in der Widerspruchsbegründung aufgestellt hat, noch ganz am Anfang steht und nicht ohne einen gewissen Aufwand möglich ist. In solchen Fällen obliegt die Sachverhaltsaufklärung nach der Aufgabenverteilung zwischen den Verwaltungs- und den Oberverwaltungsgerichten, wie sie ihren gesetzlichen Niederschlag in den §§ 47 f. und den §§ 124 f. VwGO gefunden hat, in erster Linie den Gerichten des ersten Rechtszugs. Dass eine zügige und verfahrensökonomische Durchführung des Rechtsstreits durch die Zurückverweisung im vorliegenden Fall gewährleistet ist, ist nicht zweifelhaft. Der nach § 130 Abs. 2 VwGO erforderliche Zurückverweisungsantrag wenigstens eines Verfahrensbeteiligten liegt vor.
Wie in dieser Bestimmung vorgesehen, war der kassatorische Ausspruch auch auf das dem angefochtenen Urteil vorausgegangene Verfahren zu erstrecken. Hierdurch wird u. a. klargestellt, dass die Aufforderung vom 1. April 2015 und der Beschluss vom 16. Juni 2015 keine Rechtswirkungen mehr entfalten.
Ein Kostenausspruch ist bei einer Zurückverweisung nach § 130 Abs. 2 VwGO nicht veranlasst (vgl. z. B. Rudisile in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Oktober 2015, § 130 Rn. 12; Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 130 Rn. 19).
Die Revision war nicht zuzulassen, da Zulassungsgründe im Sinn von § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.
Rechtsmittelbelehrung
Nach § 133 VwGO kann die Nichtzulassung der Revision durch Beschwerde zum Bundesverwaltungsgericht in Leipzig angefochten werden. Die Beschwerde ist beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (in München Hausanschrift: Ludwigstraße 23, 80539 München; Postfachanschrift: Postfach 34 01 48, 80098 München; in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach) innerhalb eines Monats nach Zustellung dieser Entscheidung einzulegen und innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieser Entscheidung zu begründen. Die Beschwerde muss die angefochtene Entscheidung bezeichnen. In der Beschwerdebegründung muss die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts, von der die Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden.
Vor dem Bundesverwaltungsgericht müssen sich die Beteiligten, außer in Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und Rechtslehrern an den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Hochschulen mit Befähigung zum Richteramt nur die in § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen. Für die in § 67 Abs. 4 Satz 5 VwGO genannten Angelegenheiten (u. a. Verfahren mit Bezügen zu Dienst- und Arbeitsverhältnissen) sind auch die dort bezeichneten Organisationen und juristischen Personen als Bevollmächtigte zugelassen. Sie müssen in Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht durch Personen mit der Befähigung zum Richteramt handeln.
Beschluss:
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren und – insoweit unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 3. Dezember 2015 – auch für das Verfahren im ersten Rechtszug auf jeweils 5.000 Euro festgesetzt.
Gründe:
Die Entscheidung beruht auf § 52 Abs. 2 GKG in Verbindung mit § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG. Es entspricht gefestigter Spruchpraxis des Verwaltungsgerichtshofs, den Streitwert von Verfahren, die – wie hier der Fall – „nicht berufseröffnende“ Prüfungen (d. h. solche Prüfungen, deren Bestehen nicht Voraussetzung für die Aufhebung einer subjektiven Zulassungsschranke für die Aufnahme einer bestimmten beruflichen Tätigkeit ist), zum Gegenstand haben, in Übereinstimmung mit der Empfehlung in der Nummer 36.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit mit dem Auffangwert anzusetzen (BayVGH, B. v. 23.5.2012 – 22 C 12.791 – juris Rn. 2; B. v. 8.5.2014 – 22 C 14.1018 – juris Rn. 6 f.; B. v. 16.12.2015 – 22 ZB 15.2189 – juris Rn. 21; B. v. 29.4.2016 – 22 C 16.439 – juris; B. v. 29.4.2016 – 22 C 16.530 – juris Rn. 6 – 11). Gründe, von dieser Handhabung im vorliegenden Fall abzuweichen, sind nicht ersichtlich.


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