Verwaltungsrecht

Freizügigkeitsrecht, Verlustfeststellung, Gefahrenprognose

Aktenzeichen  10 ZB 21.1021

Datum:
29.3.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 8508
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FreizügG/EU § 6 Abs. 1, Abs. 2
FreizügG/EU § 5 Abs. 4 S. 1

 

Leitsatz

Verfahrensgang

M 9 K 17.4051 2021-02-26 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.
IV. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Bevollmächtigten für das Rechtsmittelverfahren wird abgelehnt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger, ein polnischer Staatsangehöriger, seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 3. August 2017 in der Fassung vom 26. Februar 2021 weiter, mit dem festgestellt wurde, dass er sein Recht auf Einreise und Aufenthalt verloren hat, sowie ihm die Einreise und der Aufenthalt im Bundesgebiet für fünf Jahre untersagt und die Abschiebung nach Polen angedroht wurde.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich nicht die zwar nicht ausdrücklich, aber der Sache nach geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; BVerfG, B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Die von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO geforderte Darlegung dieses Zulassungsgrundes erfordert eine konkret fallbezogene und hinreichend substantiierte Auseinandersetzung mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung; es muss dargelegt werden, dass und weshalb das Verwaltungsgericht entscheidungstragende Rechts- und Tatsachenfragen unrichtig entschieden hat (siehe dazu Roth in Posser/Wolff, BeckOK VwGO, Stand 1.1.2022, § 124a Rn. 72 f.; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124a Rn. 62 ff.).
Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU kann der Verlust des Rechts eines Unionsbürgers auf Einreise und Aufenthalt (§ 2 Abs. 1 FreizügG/EU) u. a. aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit festgestellt werden. Die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt für sich allein nicht, um die in § 6 Abs. 1 FreizügG/EU genannten Entscheidungen oder Maßnahmen zu begründen. Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zu Grunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Es muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (§ 6 Abs. 2 FreizügG/EU), wobei diese Feststellung im Allgemeinen bedeutet, dass eine Neigung des Betroffenen bestehen muss, das Verhalten in Zukunft beizubehalten (EuGH, U.v. 22.5.2012 – C-348/09 – juris). Auch sind bei der Entscheidung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen (§ 6 Abs. 3 FreizügG/EU).
Gemessen an diesen Vorgaben begründet das Vorbringen des Klägers keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Verlustfeststellung.
Das Verwaltungsgericht ist auf der Grundlage der beigezogenen Akten, des Eindrucks vom Kläger in der mündlichen Verhandlung und unter Berücksichtigung seiner persönlichen Verhältnisse zu der Überzeugung gekommen, dass er auch in Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit Straftaten im Bereich der Eigentums- und Körperverletzungsdelikte begehen wird. Es hat diese Gefahrenprognose im Wesentlichen folgendermaßen begründet (UA Rn. 29-35): Der Kläger sei seit seiner Einreise 2015 in einer Vielzahl von Fällen mit enorm hoher Rückfallgeschwindigkeit und mit erheblicher krimineller Energie straffällig geworden und habe im Rahmen der Delikte sowohl seine Missachtung fremden Eigentums wie auch der körperlichen Unversehrtheit anderer zum Ausdruck gebracht. Von vorangegangenen Verurteilungen sowie einer Strafaussetzung zur Bewährung habe er sich völlig unbeeindruckt gezeigt. Auch die zahlreichen Haftaufenthalte hätten ihn nicht dazu veranlasst, sein Leben und Verhalten zu überdenken. Nach seiner Haftentlassung im April 2020 sei er Ende September 2020 erneut festgenommen worden und befinde sich seither in Untersuchungshaft. Innerhalb dieser kurzen Zeit in Freiheit sei er mindestens fünf Mal strafrechtlich in Erscheinung getreten, dabei sei er zumeist erheblich alkoholisiert gewesen. Dass der Kläger nach wie vor sein bisheriges Verhalten nicht reflektiert und aufgearbeitet habe, werde durch den Haftführungsbericht vom 28. Dezember 2020 bestätigt, aus dem sich ergebe, dass er als aufdringlich fordernd, aggressiv, überheblich und drohend wahrgenommen werde. Gegen ihn sei auch innerhalb kürzester Zeit nach Haftantritt bereits am 18. November 2020 eine Disziplinarmaßnahme ausgesprochen worden, weil er das geordnete Zusammenleben über Tage hinweg mehrfach gestört habe; trotz dieser verhängten Disziplinarmaßnahme sei er nur wenige Tage später erneut und wiederholt negativ aufgefallen, was weitere Verwarnungen zur Folge gehabt habe. Dieses Bild habe sich auch in der mündlichen Verhandlung am 26. Februar 2021 bestätigt; der Kläger sei dem Gericht sowie der Dolmetscherin gegenüber in einer extrem aggressiven, aufbrausenden und entkoppelten Art und Weise aufgetreten, wobei deutlich geworden sei, dass er sein Verhalten nicht reflektiert habe und sich als Opfer der Staatsgewalt sowie seines Alkoholismus begreife.
Unabhängig davon habe der Kläger offensichtlich ein Alkoholproblem, verfüge jedoch nicht über eine abgeschlossene Alkoholtherapie. Er habe demnach nicht gelernt, wie er mit für ihn belastenden Situationen umgehe und den „richtigen Ausweg“ finde, ohne ihn in Alkohol oder Kriminalität zu suchen. Gerade bei Straftaten, die – wie vorliegend anzunehmen – jedenfalls auch auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhten, könne von einem Wegfall der erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Therapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht habe. Denn solange er sich nicht außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt habe, könne nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde. Die in der mündlichen Verhandlung geäußerte Absicht des Klägers, eine Alkoholtherapie machen zu wollen, und sein Antrag im Hinblick auf § 64 StGB reichten somit nicht aus, um die Wiederholungsgefahr abzumildern oder gar entfallen zu lassen. Auch mit Blick auf sein künftiges Arbeitsleben habe der Kläger in der mündlichen Verhandlung keine konkreten Absichten vorgetragen, so dass sich auch insofern keine stabilisierenden Faktoren abbildeten. Es bestehe nach Auffassung der Kammer unter Berücksichtigung der angeführten Umstände weiterhin die hinreichend wahrscheinliche Gefahr, dass der Kläger nach seiner Haftentlassung erneut Straftaten in bisheriger Manier begehen werde.
Das vom Kläger zu erwartende Verhalten stelle eine hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Dieses bestehe vorliegend in der Sicherung des friedlichen Zusammenlebens seiner Bürger unter Einhaltung der geltenden Rechtsordnung, insbesondere des darin gewährleisteten Eigentumsschutzes sowie des Schutzes der körperlichen Unversehrtheit. Die hinreichend schwere Gefährdung ergebe sich insbesondere aus der Schwere der Taten, der Umstände der Tatbegehung und der Vielzahl der Delikte.
Zur Begründung seines Antrags auf Zulassung der Berufung führt der Kläger an, dass die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts im Berufungsverfahrens einer Neubewertung zu unterziehen sein werde. Es sei zutreffend, dass der Kläger in der Vergangenheit sehr häufig straffällig geworden sei und auch eine schnelle Rückfälligkeit festzustellen gewesen sei. Auch habe allen Verurteilungen ein Handeln unter ganz erheblichem Alkoholeinfluss zugrunde gelegen; es sei unstreitig, dass der Kläger ein Alkoholproblem habe. Hinzu komme aber, dass er unter einer in den bisherigen strafrechtlichen Verfahren relativ unbeachtet gebliebenen ADHS-Symptomatik leide, die bis heute unbehandelt geblieben sei; dies führe auch zu dem oft aufbrausenden Verhalten des Klägers, was hier nicht unbedingt als Aggression misszuverstehen sei. Das ergebe sich aus dem Urteil des Amtsgerichts München vom 18. März 2021, in dem der Kläger für verschiedene Straftaten zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB angeordnet worden sei. In diesem Verfahren habe ein gerichtlicher Sachverständiger die Erfolgsaussichten einer solchen Maßregel bejaht; der Kläger habe seine Bereitschaft erklärt und sei hoch motiviert, sie erfolgreich zu absolvieren. Hierzu müsse ihm die Chance gegeben werden. Momentan sei daher von einer guten Prognose und einer Beseitigung der Wiederholungsgefahr auszugehen.
Mit diesem Vortrag kann der Kläger jedoch die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts nicht erfolgreich in Zweifel ziehen. Vielmehr wird diese sogar noch untermauert, wenn er vorträgt, dass er am 18. März 2021 – also nur wenige Tage nach dem hier angefochtenen Urteil – vom Amtsgericht München erneut zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt wurde (nach Angaben der Beklagten wegen Raubes). Es ist auch nicht ersichtlich, wie sich die in diesem Strafverfahren thematisierte ADHS-Symptomatik auf die Gefahrenprognose auswirken sollte; das klägerische Vorbringen ist wohl dahin zu verstehen, dass insoweit zusätzlicher Therapiebedarf zu sehen ist. Ebenso ist die nunmehr angeordnete Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und der Umstand, dass sich der Kläger (nach Aktenlage) derzeit im Maßregelvollzug befindet, nicht geeignet, bereits die bestehende Wiederholungsgefahr auszuschließen. Wie das Verwaltungsgericht zu Recht ausgeführt hat, kann nach ständiger Rechtsprechung (vgl. zuletzt etwa BayVGH, B.v. 2.2.2022 – 10 ZB 21.3030 – juris Rn. 3; B.v. 1.3.2021 – 10 ZB 21.251 – juris Rn. 4) von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Kläger eine notwendige Therapie nicht erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftig straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat, indem er sich insbesondere außerhalb des Straf- oder Maßregelvollzugs bewährt hat. Davon kann beim Kläger, der eine Therapie offenbar erst angetreten hat und über deren Verlauf keinerlei Informationen vorliegen, nicht die Rede sein. Er selbst spricht auch lediglich von einer „Chance“, die ihm eingeräumt werden solle.
Zu der gemäß § 6 Abs. 1 und Abs. 3 FreizügG/EU zu treffenden Ermessensentscheidung (UA. Rn. 36) sowie zu einem Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt auch nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU (UA Rn. 27-28) enthält die Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung keinerlei Ausführungen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 1 und 2 GKG.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe war abzulehnen, weil die der Antrag auf Zulassung der Berufung aus den dargelegten Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§ 166 Abs. Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 114 ff. ZPO).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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