Verwaltungsrecht

Furcht vor Verfolgung aus religiösen Gründen wegen ernsthaften und glaubhaften Abfalls vom Islam ohne Hinwendung zu einer anderen Religion

Aktenzeichen  W 1 K 18.30052

Datum:
23.4.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 9410
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1, Abs. 8 S. 1
AsylG § 3, § 3b, § 3c
RL 2011/95/EU Art. 9 Abs. 1a
GRCh Art. 10 Abs. 1
EMRK Art. 15 Abs. 2
GG Art. 16a Abs. 1

 

Leitsatz

1. Aufgrund eines ernsthaften und glaubhaften Abfalls vom muslimischen Glauben kann auch ohne Hinwendung zu einer anderen Religion im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan eine Verfolgung iSd § 3a Abs. 1 AsylG drohen. Der Kläger wäre im Falle der Rückkehr nach Afghanistan gezwungen, seine Apostasie zu verbergen, auch im privaten Umfeld, und an religiösen Handlungen der muslimischen Mehrheitsbevölkerung aktiv teilzunehmen, da anderenfalls schwerwiegende Übergriffe durch staatliche oder nicht-staatliche Akteure nicht ausgeschlossen werden können. (Rn. 18 – 30) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein dauerhaft staatlicher Schutz vor Repressionen gegen Konvertiten ist derzeit – auch nur in bestimmten Landesteilen, inbesondere in den Städten Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif – nicht erreichbar. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. Januar 2017 wird aufgehoben, soweit er dieser Verpflichtung entgegensteht.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Die zulässige Klage, über die trotz des Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung verhandelt und entschieden werden konnte (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist auch begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1, Abs. 4 AsylG. Der Ablehnungsbescheid des Bundesamtes vom 12. Januar 2017 ist daher, soweit er noch Gegenstand der Klage ist und der Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entgegensteht, rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Rechtsgrundlage der begehrten Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist vorliegend § 3 Abs. 4 und Abs. 1 AsylG. Danach wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, soweit er keinen Ausschlusstatbestand nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt. Ein Ausländer ist Flüchtling i.S.d. Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Konvention – GK), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Nach § 77 Abs. 1 AsylG ist vorliegend das Asylgesetz in der ab 6. August 2016 geltenden, durch Art. 6 des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 2016 (BGBl. I S. 1939 ff.) geschaffenen Fassung anzuwenden. Dieses Gesetz setzt in §§ 3 bis 3e AsylG – wie die Vorgängerregelungen in §§ 3 ff. AsylVfG – die Vorschriften der Art. 6 bis 10 der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Amtsblatt Nr. L 337, S. 9) – Qualifikationsrichtlinie (QRL) im deutschen Recht um. Nach § 3a Abs. 1 AsylG gelten als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 – EMRK (BGBl 1952 II, S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylG muss die Verfolgung an eines der flüchtlingsrelevanten Merkmale anknüpfen, die in § 3b Abs. 1 AsylG näher beschrieben sind, wobei es nach § 3b Abs. 2 AsylG ausreicht, wenn der betreffenden Person das jeweilige Merkmal von ihren Verfolgern zugeschrieben wird. Nach § 3c AsylG kann eine solche Verfolgung nicht nur vom Staat, sondern auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen.
Gemessen an diesen Maßstäben befindet sich der Kläger nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Religion außerhalb seines Herkunftslandes. Aufgrund seines ernsthaften und glaubhaften Abfalls vom Islam droht ihm im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan eine Verfolgung i.S.d. § 3a Abs. 1 AsylG. Dem Kläger steht auch keine interne Schutzmöglichkeit i.S.d. § 3e AsylG zur Verfügung.
Eine Verfolgung i.S.d. Art. 9 Abs. 1a QRL, der durch § 3a Abs. 1 AsylG umgesetzt wurde, kann nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, U.v. 5.9.2012 – Y und Z, C – 71/11 und C – 99/11 – BayVBl 2013, 234, juris Rn. 57 ff.) sowie der höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 21 ff.; VGH Baden-Württemberg, U.v. 12.6.2013 – A 11 S 757/13 – juris Rn. 41 ff.; OVG NRW, U.v. 7.11.2012 – 13 A 1999/07.A – juris Rn. 23 ff.) auch in einer schwerwiegenden Verletzung des in Art. 10 Abs. 1 GR-Charta verankerten Rechtes auf Religionsfreiheit liegen, die den Betroffenen erheblich beeinträchtigt. Die „erhebliche Beeinträchtigung“ muss nicht schon eingetreten sein, es genügt bereits, dass ein derartiger Eingriff unmittelbar droht (BVerwG, a.a.O., Rn. 21). Zur Qualifizierung eines Eingriffs in das Recht aus Art. 10 Abs. 1 GR-Charta als „erheblich“ kommt es nicht auf die im Rahmen des Art. 16a Abs. 1 GG sowie des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 maßgebliche Unterscheidung an, ob in dem Kernbereich der Religionsfreiheit, das „religiöse Existenzminimum“ (forum internum) eingegriffen wird oder ob die Glaubensbetätigung in der Öffentlichkeit (forum externum) betroffen ist (vgl. BVerwG, U.v. 20.1.2004 – 1 C 9/03 – BVerwGE 120, 16/20 f., juris Rn. 12 ff. m.w.N.). Vielmehr kann ein gravierender Eingriff in die Freiheit, den Glauben im privaten Bereich zu praktizieren, ebenso zur Annahme einer Verfolgung führen wie ein Eingriff in die Freiheit, diesen Glauben öffentlich zu leben (EuGH, a.a.O. Rn. 62 f.; BVerwG, a.a.O., Rn. 24 ff.; VGH Baden-Württemberg a.a.O. Rn. 43; OVG Nordrhein-Westfalen a.a.O. Rn. 29 ff.). Für die Frage der Erheblichkeit der Beeinträchtigungen ist daher abzustellen auf die Art der Repressionen und deren Folge für den Betroffenen (EuGH, a.a.O., Rn. 65 ff.), mithin auf die Schwere der Maßnahmen und Sanktionen, die dem Ausländer drohen (BVerwG, a.a.O., Rn. 28 ff.; VG Baden-Württemberg, a.a.O.; OVG Nordrhein-Westfalen a.a.O.). Dieser Rechtsprechung hat sich das erkennende Gericht in ständiger Rechtsprechung angeschlossen (vgl. VG Würzburg, U.v. 24.2.2017 – W 1 K 17.30673 – juris; U.v. 30.9.2016 – W 1 K 16.31087 – juris; U.v. 19.5.2015 – W 1 K 14.30534 – juris).
Das Grundrecht aus Art. 10 Abs. 1 GR-Charta umfasst auch die sogenannte negative Religionsfreiheit, d.h. die Freiheit, eine bestimmte religiöse Überzeugung nicht zu teilen bzw. nicht an religiösen Handlungen teilzunehmen (Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 2. Aufl. 2013, Art. 10 Rn. 10; Bernsdorff in Meyer, Charta der Grundrechte der EU, 4. Aufl. 2014, Art. 10 Rn. 12), weshalb insoweit dieselben o.g. Maßstäbe gelten wie bei der Beurteilung eines Eingriffs in die positive Religionsfreiheit.
Die Beurteilung, wann eine Verletzung der Religionsfreiheit die erforderliche Schwere aufweist, um die Voraussetzungen einer Verfolgungshandlung i.S.v. Art. 9 Abs. 1 Buchst. a) QRL zu erfüllen, hängt von objektiven wie auch subjektiven Gesichtspunkten ab (EuGH, U.v. 5.9.2012 – Y und Z, C – 71/11 und C – 99/11 – juris Rn. 70; BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 28 ff.). Objektive Gesichtspunkte sind insbesondere die Schwere der dem Ausländer bei Ausübung seiner Religion drohenden Verletzung anderer Rechtsgüter wie z.B. Leib und Leben. Die erforderliche Schwere kann insbesondere – aber nicht nur – dann erreicht sein, wenn dem Ausländer durch die Teilnahme an religiösen Riten in der Öffentlichkeit die Gefahr droht, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Bei strafrechtsbewehrten Verboten kommt es insoweit maßgeblich auf die tatsächliche Strafverfolgungspraxis im Herkunftsland des Ausländers an, weil ein Verbot, das erkennbar nicht durchgesetzt wird, keine erhebliche Verfolgungsgefahr begründet (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 28 m.w.N.). Als relevanter subjektiver Gesichtspunkt ist der Umstand anzusehen, dass für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten gefahrenträchtigen religiösen Praxis zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist (EuGH, U.v. 5.9.2012 – Y und Z, C-71/11 und C-99/11 – juris Rn. 70; BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 29; VGH BW, U.v. 12.6.2013 – A 11 S 757/13 – juris Rn. 48; OVG NRW, U.v. 7.11.2012 – 13 A 1999/07.A – juris Rn. 35). Denn der Schutzbereich der Religionsfreiheit er-fasst sowohl die von der Glaubenslehre vorgeschriebenen Verhaltensweisen als auch diejenigen, die der einzelne Gläubige für sich selbst als unverzichtbar empfindet. Dabei kommt es auf die Bedeutung der religiösen Praxis für die Wahrung der religiösen Identität des einzelnen Ausländers an, auch wenn die Befolgung einer solchen religiösen Praxis nicht von zentraler Bedeutung für die betreffende Glaubensgemeinschaft ist (BVerwG, B.v. 9.12.2010 – 10 C 19.09 – BVerwGE 138, 270, juris Rn. 43; VGH BW a.a.O.). Maßgeblich ist dabei, wie der einzelne Gläubige seinen Glauben lebt und ob die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für ihn persönlich nach seinem Glaubensverständnis unverzichtbar ist (BVerwG, U.v. 20.2.2013 a.a.O. Rn. 29). Dieser Maßstab setzt nicht voraus, dass der Betroffene innerlich zerbrechen oder jedenfalls schweren seelischen Schaden nehmen würde, wenn er auf eine entsprechende Praktizierung seines Glaubens verzichten müsste (BVerwG a.a.O. Rn. 30). Jedoch muss die konkrete Glaubenspraxis ein zentrales Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar sein. Demgegenüber reicht nicht aus, dass der Asylbewerber eine enge Verbundenheit mit seinem Glauben hat, wenn er diesen – jedenfalls im Aufnahmemitgliedstaat – nicht in einer Weise lebt, die ihn im Herkunftsstaat der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde. Maßgeblich für die Schwere der Verletzung der religiösen Identität ist die Intensität des Drucks auf die Willensentscheidung des Betroffenen, seinen Glauben auszuüben oder hierauf zu verzichten (BVerwG a.a.O.; VGH BW a.a.O. Rn. 49).
Die Tatsache, dass er die unterdrückte religiöse (Nicht-)Betätigung für sich selbst als verpflichtend empfindet, um seine religiöse Identität zu wahren, muss der Asylbewerber zur vollen Überzeugung des Gerichts nachweisen (BVerwG, U.v. 25.8.2015 – 1 B 40/15 – juris Rn. 13; U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 30; B.v. 9.12.2010 – 10 C 19.09 – BVerwGE 138, 270, juris Rn. 43; OVG NRW, B.v. 11.10.2013 – 13 A 2041/13.A – juris Rn. 7; U.v. 7.11.2012 – 13 A 1999/07.A – juris Rn. 13). Da es sich um eine innere Tatsache handelt, lässt sich die religiöse Identität nur aus dem Vorbringen des Asylbewerbers sowie im Wege des Rückschlusses von äußeren Anhaltspunkten auf die innere Einstellung des Betroffenen aufgrund einer ausführlichen Anhörung in der mündlichen Verhandlung feststellen (BVerwG, B.v. 25.8.2015, a.a.O. Rn. 14; U.v. 20.2.2013, a.a.O. Rn. 31; VGH Baden Württemberg, U.v. 12.6.2013 – A 11 S 757/13 – juris Rn. 50).
Gemessen an diesen Grundsätzen liegen im Falle des Klägers zur vollen Überzeugung des Gerichts die erforderliche objektive und subjektive Schwere der ihm im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan drohenden Verletzung seiner negativen Religionsfreiheit vor. Der Kläger wäre im Falle der Rückkehr nach Afghanistan gezwungen, seinen Abfall vom muslimischen Glauben zu verbergen, auch im privaten Umfeld, und an religiösen Handlungen der muslimischen Mehrheitsbevölkerung aktiv teilzunehmen, da anderenfalls schwerwiegende Übergriffe durch staatliche oder nicht-staatliche Akteure nicht ausgeschlossen werden können. Dauerhaft staatlicher Schutz vor derartigen Übergriffen ist derzeit – auch nur in bestimmten Landesteilen – nicht erreichbar; insoweit gelten die Annahmen des erkennenden Gerichts für zum Christentum konvertierte ehemalige Muslime entsprechend auch für den Kläger, der sich durch seinen Abfall vom Islam der sogenannten Apostasie aus Sicht der muslimischen Mehrheitsbevölkerung schuldig gemacht hat. Ihm droht deshalb aufgrund eines anzuerkennenden subjektiven Nachfluchtgrundes mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrelevante Verfolgung i.S.d. §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3a Abs. 1 und 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG.
Dies ergibt sich aus Folgendem:
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan erklärt den Islam zur Staatsreligion. Zwar wird den Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften das Recht eingeräumt, im Rahmen der Gesetze ihren Glauben auszuüben und ihre religiösen Bräuche zu pflegen. Somit gewährleistet die Verfassung grundsätzlich das Recht auf freie Religionsausübung. Dieses Grundrecht umfasst jedoch nicht die Freiheit, vom Islam zu einer anderen Religion zu konvertieren, und schützt somit nicht die freie Religionswahl (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Afghanistan, Stand 19.10.2016, S. 10 f; Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Hamburg v. 22.12.2004 Az. 508-516.80/43288; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update – die aktuelle Sicherheitslage, September 2015, S. 19). Im Fall des Wechsels vom Islam zu einer anderen Religion kommt Scharia-Recht zur Anwendung. Der Abfall vom Islam, d.h. die sogenannte Apostasie, wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht. Die Todesstrafe wegen Konversion wurde zwar nach Kenntnissen des Auswärtigen Amtes bisher nie vollstreckt (Lagebericht Auswärtiges Amt a.a.O., S. 12). Konvertiten und Apostaten drohen jedoch Gefahren oft auch aus dem familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld, da der Abfall vom Islam in der streng muslimisch geprägten Gesellschaft als Schande für die Familienehre angesehen wird (Lagebericht a.a.O.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, zusammenfassende Übersetzung vom 24.3.2011, S. 6; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update – die aktuelle Sicherheitslage, September 2015, S. 19; Internationale Gesellschaft für Menschenrechte – IGFM, Situation christlicher Konvertiten in Afghanistan – Stellungnahme vom 27.2.2008, S. 1, 8. ff.; Dr. Mostafa Danesch, Gutachten vom 13.5.2004 an das VG Braunschweig, S. 1 ff.). Nach den in Afghanistan vorherrschenden (sunnitischen und schiitischen) Rechtsschulen muss ein vom Islam Abgefallener zur Reue aufgefordert werden. Der Betroffene hat dann drei Tage Bedenkzeit. Widerruft er bis dahin seinen Glaubenswechsel nicht, so ist sein Leben nach islamischer Rechtsauffassung verwirkt (IGFM, Stellungnahme v. 27.2.2008, S. 8; UNHCR-Richtlinien 2011, S. 6). Konvertierte Moslems sind in Afghanistan daher für den Fall, dass sie ihren Glauben nicht ablegen bzw. nicht verleugnen wollen und nicht zur Wahrung des äußeren muslimischen Anscheins an muslimischen Riten, wie dem fünfmal täglichen Gebet, den Moscheebesuch oder islamischen Feierlichkeiten teilnehmen wollen, der Gefahr erheblicher Repressalien auch im privaten Umfeld bis hin zu Ehrenmorden ausgesetzt (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 22.12.2004, S. 2; UNHCR-Richtlinien 2011, S. 6; Schweizerische Flüchtlingshilfe a.a.O., S. 19; IGFM a.a.O. S. 5, 8 f.; Dr. Danesch a.a.O., S. 1 f., 3 ff.). Dies gilt nach der Überzeugung des Gerichts entsprechend für vom islamischen Glauben abgefallene, aber nicht zum Christentum konvertierte Muslime, weil der maßgebliche Anknüpfungspunkt der Verfolgungsmaßnahmen nicht die Hinwendung zum Christentum ist, sondern die Apostasie, d.h. der Abfall vom muslimischen Glauben (vgl. VG Magdeburg, U.v. 30.9.2014 – 5 A 193/13 MD – juris). Diese Einschätzung wird auch durch die aktuellen Erkenntnismittel vollumfänglich bestätigt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Afghanistan vom 19.10.2016, S. 10 f.; Auswärtiges Amt, Lagebeurteilung vom 28.7.2017, S. 9; UNHCR-Richtlinien vom 19.4.2016, S. 61; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update – Die aktuelle Sicherheitslage, S. 26; EASO, Country of Origin Information Report – Individuals targeted under societal an legal norms. Dezember 2017, S. 23 ff.).
Im Falle des Klägers liegt auch die erforderliche subjektive Schwere vor, weil es nach der aufgrund der mündlichen Verhandlung gewonnenen Überzeugung des Gerichts ein unverzichtbarer Bestandteil seiner religiösen Identität ist, sich nicht mehr mit dem muslimischen Glauben zu identifizieren und nicht an muslimischen Riten, insbesondere dem öffentlichen täglich fünfmaligen Gebet, dem Moscheebesuch oder islamischen Feierlichkeiten, teilzunehmen.
Da es bei einem Abfall vom Islam ohne Hinwendung zu einer anderen Religion an einem formalen bestätigenden Akt wie der Taufe fehlt, ist maßgeblich auf die Glaubhaftigkeit des Vortrags des Betroffenen zu den Gründen seiner Abwendung vom bisherigen Glauben abzustellen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass für die Annahme einer Verfolgungsgefahr und damit für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erforderlich ist, dass der Abfall vom Islam, insbesondere wenn er erst nach der Ausreise aus dem Herkunftsland durchgeführt wurde, nicht rein aus asyltaktischen Gründen vorgetragen wird, sondern auf einem ernsthaften, dauerhaften religiösen Einstellungswandel beruht und nunmehr die religiöse Identität des Betroffenen prägt (vgl. zur Konversion BVerwG, B.v. 25.8.2015 – 1 B 40/15 – juris Rn. 14; U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 29; BayVGH, B.v. 20.4.2015 – 14 ZB 13.30257 – juris Rn. 4; B.v. 9.4.2015 – 14 ZB 14.3044 – juris Rn. 7; HessVGH, U.v. 26.7.2007 – 8 UE 3140/05.A – juris Rn. 20 ff.; B.v. 26.6.2007 – 8 UZ 1463/06.A – juris Rn. 12 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen, U.v. 7.11.2012 – 13 A 1999/07.A – juris Rn. 37 ff.; VG Magdeburg, U.v. 30.9.2014 – 5 A 193/13 MD – juris). Als maßgebliches Indiz für die Glaubhaftigkeit eines vorgetragenen Abfalls vom Islam, der sich nicht anhand objektiver Tatsachen wie der auch nach außen erkennbaren Hinwendung zu einer anderen Religionsgemeinschaft objektiv nachweisen lässt, sind nach der Überzeugung des erkennenden Gerichts die Kriterien der Rechtsprechung zur Überprüfung einer Gewissensentscheidung heranzuziehen. Maßgeblich ist daher, dass der Betroffene eine innere Umkehr nachvollziehbar vorträgt, die auf einem bestimmten bedeutsamen Schlüsselerlebnis oder einem längerfristigen inneren Wandlungsprozess beruhen kann (vgl. BVerwG, U.v. 2.3.1989 – 6 C 10/87 BVerwGE 81, 294 ff., juris Rn. 13).
Gemessen daran hat der Kläger seinen Glaubenswechsel überzeugend und glaubwürdig dargelegt. Er hat das Gericht aufgrund des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Gesamteindrucks davon überzeugt, dass sein Abfall vom muslimischen Glauben mittlerweile dergestalt identitätsprägend ist, dass davon auszugehen ist, dass er seine nunmehrige Weltanschauung bei einer Rückkehr in sein Heimatland leben und praktizieren wird. Nach dem Eindruck, den das Gericht aufgrund der mündlichen Verhandlung vom Kläger gewonnen hat, hat dieser sich dauerhaft, ernsthaft und mit innerer Überzeugung vom Islam abgewandt und lebt nunmehr eine nicht muslimische religiöse Grundhaltung.
Der Kläger hat nachvollziehbar seine Motive dargestellt, die eine Abkehr vom bisherigen Glauben lebensgeschichtlich zu erklären geeignet sind. Er hat insoweit überzeugend ausgeführt, dass er bereits zu der Zeit, als er noch im Iran gelebt habe, nicht streng gläubig gewesen sei. Man habe dort jedoch keine Alternativen gehabt und Zweifel hinsichtlich des Glaubens nicht äußern können. Aufgrund seiner fehlenden Bildung habe der Kläger bei seiner Ankunft in Deutschland zunächst – auch aufgrund seiner bisherigen ausschließlich islamisch geprägten Lebenserfahrungen in Afghanistan und im Iran – gar nicht gewusst, dass er auch eine andere Religion annehmen bzw. keiner Religion folgen könne. Er habe dann in der Folgezeit in Deutschland eine Vielzahl von neuen Erfahrungen gesammelt und habe seine jetzige atheistisch geprägte Einstellung insbesondere im Rahmen seines Aufenthalts in einer Pflegefamilie angenommen, wo er von Ende Dezember 2014 bis zum Mai 2016 gelebt habe. Dort sei ihm vermittelt worden, dass es allein wichtig sei, dass er seine Mitmenschen respektiere und im Herzen ein guter Mensch sei. Demgegenüber sei eine Religion nicht von Bedeutung. Aufgrund dieser Erfahrungen und Erkenntnisse beruhe seine innere Überzeugung allein darauf, dass man einen Menschen so akzeptieren müsse, wie er sei.
Der Kläger hat darüber hinaus vermocht, in sehr eindrücklicher und nachvollziehbarer Weise zu schildern, aus welchem Grunde er vom islamischen Glauben abgefallen ist und nunmehr in identitätsprägender Weise religiöse Einstellungen für sich selbst ablehnt. So hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung glaubhaft geschildert, dass er seine Eltern und Geschwister, allesamt schiitische Muslime, im Alter von fünf Jahren bei einem Bombenanschlag auf die schiitische Moschee, in der sich seine Familie mit Ausnahme von ihm selbst, da er damals noch zu klein gewesen sei, aufgehalten habe, durch die (sunnitischen) Taliban verloren habe. Es sei ihm durch die religiösen Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten seine gesamte Familie genommen worden. Aufgrund dieser Erfahrung sei es für ihn in keiner Weise nachvollziehbar und tolerierbar, dass Menschen sich im Namen der Religion gegenseitig umbringen würden. Ebenso schrecklich empfinde er, dass man – wie es teilweise geschehe – im Namen der Religion auch noch eine Belobigung erhalte, wenn man Menschen anderen Glaubens bzw. einer anderen Glaubensrichtung umbringe. Darüber hinaus hat der Kläger dargelegt, dass er während seines Aufenthalts im Iran als Afghane geschlagen worden sei, was auch vielen anderen Afghanen widerfahren sei. Grund hierfür sei gewesen, dass die Iraner den Afghanen pauschal vorgehalten hätten, dass sie im Gegensatz zu ihnen Sunniten seien. Dies habe ihnen als Rechtfertigung dafür gedient, die Afghanen schlecht zu behandeln und zu schlagen. Der damalige Hinweis des Klägers, dass er selbst ebenfalls Schiite sei, sei hierbei als Ausrede abgetan worden. Aufgrund dieser eigenen Lebenserfahrung sei er zu dem Schluss gekommen, dass ihm durch seine ursprüngliche Religion, dem Islam, niemals etwas Gutes, sondern nur Schlechtes widerfahren sei. Nachdem er dies in Deutschland reflektiert hatte, hat der Kläger sodann den Entschluss getroffen, sich vom Islam abzuwenden und fortan eine atheistisch geprägte Lebensweise anzunehmen.
Der Kläger hat darüber hinaus noch weitere prägende Beispiele benannt, die eindrücklich zeigen, dass er sich mit der Frage der eigenen religiösen Einstellung tiefgründig befasst und einen ernsthaften inneren Wandlungsprozess vollzogen hat. So hat er in der mündlichen Verhandlung geschildert, dass er in der Schule ein Referat über die Lebensverhältnisse in Afghanistan vor 60 Jahren gehalten habe. Damals sei das Land viel freier und im Grunde wie Europa gewesen; es habe Religionsfreiheit geherrscht. Mittlerweile gebe es dort aber seit 40 Jahren Krieg und das Land liege darnieder, nur weil sich die Menschen auf Grund der Religion bekämpften. Im vergangenen Jahr sei es in Afghanistan zudem zu einem Vorfall gekommen, bei dem eine junge Frau gesteinigt worden sei, nachdem ihr ein Mullah fälschlicherweise vorgeworfen habe, dass sie ungläubig sei. Schließlich seien auch die islamistischen Anschläge in Europa in den vergangenen Jahren seiner Auffassung nach auf die islamische Religion zurückzuführen. Der Kläger hat diese Beispiele nachvollziehbar zum Nachweis dafür benannt, zu welch negativen Konsequenzen Religion, insbesondere hier die islamische, nach seiner Überzeugung führe.
Das Gericht geht von der Glaubhaftigkeit der klägerischen Angaben aus, die dieser substantiiert, lebensnah und ohne Übertreibungen in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung auch persönlich einen sehr überzeugenden und glaubwürdigen Eindruck hinterlassen. Auf Befragen und Vorhalte des Gerichts konnte der Kläger stets ohne Zögern nachvollziehbare und authentische Antworten geben. Er hat bereits beim Bundesamt angegeben, dass er im Alter von fünf Jahren seine gesamte Familie durch die Taliban verloren habe; in der mündlichen Verhandlung hat der Kläger nunmehr dieses Ereignis weiter konkretisiert und näher lebensgeschichtlich eingeordnet. Darauf, dass er im Iran geschlagen worden sei, hat der Kläger ebenfalls bereits beim Bundesamt hingewiesen. Schließlich steht der Glaubhaftigkeit des klägerischen Vortrags auch nicht entgegen, dass er bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt die nunmehr vorgetragene Apostasie noch nicht geltend gemacht hat. Der Kläger hat auf entsprechenden Vorhalt des Gerichts hierzu erklärt, dass er seinerzeit wörtlich angegeben habe, dass er Muslim nur auf dem Papier sei; dies stehe so in seinem Ausweis (Aufenthaltsgestattung). Der Entscheider habe auf diesen Hinweis hin gelacht und dann niedergelegt, was im Ausweis gestanden habe. Darin sei die schiitische bzw. muslimische Religion aufgrund der Tatsache enthalten, dass der Kläger nach seiner Einreise nach Deutschland schlicht seine bisherige Religion angegeben habe, was lebensgeschichtlich in jeder Hinsicht nachvollziehbar erscheint. Er habe bei der Bundesamtsanhörung seinerzeit nicht gewusst, dass er dort auch einen Abfall vom Islam und eine atheistische Einstellung hätte preisgeben müssen. Für ihn hätten die Erlebnisse in Afghanistan und im Iran sowie seine schulischen und beruflichen Leistungen in Deutschland im Vordergrund gestanden, was ihm auch sein Vormund stets eingeschärft habe. Dieses Vorbringen erscheint dem erkennenden Einzelrichter nicht zuletzt aufgrund des persönlichen Eindrucks des Klägers und der Art und Weise seines Vorbringens in der mündlichen Verhandlung glaubhaft und überzeugend. Sein Bevollmächtigter hat in diesem Zusammenhang auch nachvollziehbar erläutert, dass auch er den Kläger im Gespräch aktiv nach seiner religiösen Einstellung habe fragen müssen, nachdem dieser diesen Aspekt – wie viele andere afghanische Mandanten auch – als private Angelegenheit betrachte, zumal hier auch keine Hinwendung zu einer anderen Religion stattgefunden habe.
In vollem Einklang mit dem vom Kläger angegebenen Abfall vom Islam, hat er gegenüber dem erkennenden Einzelrichter glaubhaft versichert, dass er in Deutschland zu keiner Zeit die Moschee besucht bzw. sich hier auch nicht mehr an die anderweitigen islamischen Glaubensregeln gehalten habe. Er esse vielmehr auch Schweinefleisch und trinke Alkohol; es sei ihm egal, was der Koran hierzu sage. Er tue damit niemandem weh; jeder müsse für sich selbst entscheiden, ob er einer Religion und den daraus erwachsenden Geboten folge oder nicht. Die Glaubhaftigkeit des klägerischen Vortrags wird zusätzlich dadurch bestärkt, dass er seinen Abfall vom Islam offen gegenüber anderen Moslems in Deutschland vertritt, wofür ihm bereits des Öfteren vorgeworfen worden sei, dass er ein Ungläubiger sei. Der Kläger nimmt demzufolge für seine atheistische Einstellung auch Ausgrenzung und Anfeindungen durch sein Umfeld in Kauf, was die Ernsthaftigkeit und Tiefe seines Einstellungswandels bekräftigt.
Aufgrund der klägerischen Ausführungen steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass dieser spätestens seit seiner Ankunft in Deutschland einen bewussten Prozess des inneren Einstellungswandels begonnen hat, der in nachvollziehbarer Weise durch eine Vielzahl neuer Eindrücke, Erfahrungen und Lernprozesse, insbesondere in der Zeit, die der Kläger in einer Pflegefamilie verbracht hat, sowie durch die Reflexion seines eigenen lebensgeschichtlichen Hintergrundes unterstützt und gefestigt wurde. Der nunmehr schon länger währende prägende Aufenthalt des Klägers in der westlichen, durch Religionsfreiheit sowie weitgehende Trennung von Staat und Kirche geprägten Gesellschaft hat es dem Kläger ermöglicht, das afghanische/iranische Gesellschaftsmodell sowie das westliche Gesellschaftsmodell einander gegenüber zu stellen, wozu sicherlich gerade auch der Austausch mit den Pflegeeltern, weiteren deutschen Kontaktpersonen sowie der Schulbesuch des Klägers beigetragen haben. Aufgrund der nach Einschätzung des Gerichts sehr hohen intellektuellen Fähigkeiten des Klägers (er hat in der mündlichen Verhandlung die deutsche Sprache hervorragend beherrscht und hat – ohne vorher jemals die Schule besucht zu haben – in Deutschland bereits nach kurzer Zeit den qualifizierenden Hauptschulabschluss erworben und absolviert derzeit erfolgreich eine Lehre als Mechatroniker) steht auch fest, dass er die Unterschiede der beiden Gesellschaftsmodelle reflektiert und diese in einen Bezug zu seiner religiösen Erziehung gestellt hat. Auf diese Weise ist der Kläger zu der Überzeugung gelangt, dass nicht die Religion, sondern gegenseitiger Respekt und Akzeptanz sowie die Menschlichkeit die entscheidenden Handlungsmaximen darstellen sollen.
Nach alledem bestehen für das Gericht keine Zweifel daran, dass der Kläger über einen längeren Prozess hinweg aus seiner festen, ernst gemeinten inneren Überzeugung eine vom Islam abweichende – atheistische –Überzeugung i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG angenommen und er sein Leben danach ausgerichtet hat. Bestärkt wurde dieser tiefgreifende Einstellungswandel in überzeugender Weise insbesondere durch die aus religiösen Gründen erfolgte Ermordung seiner Familie sowie die ebenfalls auf religiöse Unterschiede zurückzuführenden Benachteiligungen und Schläge im Iran sowie die in Deutschland gemachten Erfahrungen, u.a. im Hinblick auf die Religionsfreiheit. Mit den nunmehr vom Kläger gelebten Verhaltensweisen und Überzeugungen würde dieser in der muslimisch geprägten Gesellschaft Afghanistans unweigerlich auffallen und landesweit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erheblichen Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt sein. Er hat glaubhaft gemacht, auch in Afghanistan unter Inkaufnahme von Risiken nicht mehr als gläubiger Moslem leben zu können, da ihm die islamische Religion die wichtigsten Menschen, die er gehabt habe, nämlich seine Familie, genommen habe. Es steht somit fest, dass der Kläger sich zur Wahrung seiner religiösen Identität auch in Afghanistan zu seiner neuen atheistischen Einstellung bekennen würde. Es wäre ihm deshalb im Herkunftsland nicht möglich, seinen Überzeugungen entsprechend zu leben, ohne der Gefahr einer Verfolgung durch staatliche oder nicht-staatliche Akteure i.S.d. § 3c Nr. 1, 3 AsylG ausgesetzt zu sein. Ein wirksamer Schutz vor Verfolgung gemäß § 3d AsylG durch den afghanischen Staat ist hierbei nicht zu erwarten.
Dem Kläger steht auch keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung. Die oben geschilderten Gefahren für vom Glauben abgefallene Muslime drohen in Afghanistan landesweit, auch in den Städten Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif. Zwar mögen insbesondere nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes Repressionen gegen Konvertiten in städtischen Gebieten aufgrund der größeren Anonymität weniger als in Dorfgemeinschaften zu befürchten seien. Selbst dort würde aber ein vom Glauben abgefallener Muslim unweigerlich auffallen und selbst im privaten, familiären Umfeld bedroht sein (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Würzburg vom 13.5.2012 im Verfahren W 2 K 11.30269). Schutz vor Übergriffen ist jedoch in keinem Landesteil Afghanistans dauerhaft zu erreichen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 22.12.2004, S. 2; Schweizerische Flüchtlingshilfe, a.a.O., S. 19; IGFM, a.a.O., S. 1). In der Rechtsprechung wird diese Einschätzung teilweise geteilt (z.B. OVG Nordrhein-Westfalen, U.v. 19.6.2008 – 20 A 3886705.A – InfAuslR 2008, 411, juris Rn. 33 ff., dort auch explizit zu Kabul; VG Würzburg, U.v. 24.2.2017 – W 1 K 16.30673; U.v. 19.5.2015 – W 1 K 14.30534 – juris Rn. 36 m.w.N.; VG Augsburg, U.v. 8.4.2013 – AU 6 K 13.30004 – juris Rn. 27 ff.; U.v. 18.1.2011 – AU 6 K 10.30647 – juris Rn. 46; eine Fluchtalternative in Kabul bejahend VG Augsburg, U.v. 22.6.2012 – AU 6 K 11.30345 – juris Rn. 20 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen, B.v. 12.4.2013 – 13 A 2819/11.A – juris Rn. 26). Der Bayer. Verwaltungsgerichtshof hat diese Frage, soweit ersichtlich, in Bezug auf Konvertiten offen gelassen (vgl. BayVGH, B.v. 16.5.2013 – 13a ZB 12.30297 – juris Rn. 3 f.); in der genannten Entscheidung war dies nicht ent-scheidungserheblich. Das erkennende Gericht schließt sich im vorliegenden Verfahren aufgrund der Ausführungen in den zitierten Erkenntnismitteln der Auffassung an, wonach eine innerstaatliche Fluchtalternative für glaubhaft vom Islam abgefallene ehemalige Moslems in Afghanistan ausscheidet, wenn sie nicht bereit sind, entgegen ihrer inneren Überzeugung an religiösen Riten und Feierlichkeiten teilzunehmen (vgl. VG Würzburg, U.v. 31.1.2018 – W 1 K 16.32648; U.v. 9.1.2018 – W 1 K 16.32453; U.v. 24.2.2017 – W 1 K 16.30673; U.v. 30.9.2016 – W 1 K 16.31087 – juris; U.v. 26.4.2016 – W 1 K 16.30268 – juris; U.v. 19.5.2015 – W 1 K 14.30534 – juris; U.v. 19.12.2014 – W 1 K 12.30183 – juris). Ein derartiges Verhalten wäre dem Kläger nicht zumutbar, da es, wie in der mündlichen Verhandlung deutlich wurde, seine religiöse Identität verletzen würde.
Nach alledem war der Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei, § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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