Verwaltungsrecht

Gebärdensprache, Nachteilsausgleich, Befreiung von zweiter Fremdsprache, Vorwegnahme der Hauptsache

Aktenzeichen  W 2 E 21.1145

Datum:
9.9.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 42447
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123
BayEUG Art. 52 Abs. 5
GSO § 15

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung, sie vom Schulfach Latein zu befreien und stattdessen das Fach Deutsch als erste Fremdsprache anzuerkennen und sie ohne Vorbehalt in die 8. Klassenstufe zu versetzen.
Die 13jährige, seit ihrer Geburt gehörlose Antragstellerin ist Schülerin des …Gymnasiums in B … und besuchte dort im Schuljahr 2020/2021 die 7. Klassenstufe. Als erste Fremdsprache belegte sie Englisch, als zweite Fremdsprache Latein.
Mit Schreiben vom 29. April 2019 beantragten die Eltern der Antragstellerin beim Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus, die Deutsche Gebärdensprache als Muttersprache für ihre Tochter anzuerkennen. Seit ihrer Geburt sei mit ihr in Gebärdensprache kommuniziert worden. Deutsch sei für sie eine Fremdsprache, die sie seit der 1. Klasse lerne. Ziel sei es, dass Deutsch für die Antragstellerin als erste Fremdsprache und Englisch als zweite Fremdsprache gewertet werde, so dass das Erlernen einer weiteren Fremdsprache entfallen würde.
Mit Schreiben vom 15. Juli 2021 teilte das Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus den Eltern der Antragstellerin mit, dass dem Antrag nicht entsprochen werden könne. Ein Auswechseln des Fachs Deutsch durch das Fach Deutsche Gebärdensprache sei nicht möglich. Das Fach Deutsch sei für alle Schülerinnen und Schüler an allen Schularten verbindliches Pflichtfach und eine Ersetzung durch andere Fächer sei ebenso ausgeschlossen wie eine Anpassung des lehrplanmäßigen Inhalts an Vorkenntnisse und individuelle Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler. Individuelle Unterstützung, Nachteilsausgleich und Notenschutz dienten dazu, Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigungen auf ihrem schulischen Bildungsweg zu unterstützen, damit diese einen ihren Fähigkeiten und Begabungen entsprechenden schulischen Bildungsweg verfolgen und entsprechende Abschlüsse erwerben könnten. Die Regelungen in Art. 52 Abs. 5 des Bayerischen Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) i. d. F. d. Bek. v. 31.5.2000 (GVBl. S. 414, 632, BayRS 2230-1-1-K), zuletzt geändert durch G. v. 23.7.2021 (GVBl. S. 432) und §§ 31ff. der Bayerischen Schulordnung (BaySchO) vom 1.7.2016 (GVBl. S. 164, 241, BayRS 2230-1-1-1-K), zuletzt geändert durch V. v. 8.7.2021 (GVBl. S. 479), regelten die Voraussetzungen für einen Nachteilsausgleich und Notenschutz abschließend. Eine Ersetzung eines Kernfachs der Stundentafel des Gymnasiums sei ausweislich des Wortlauts und des Zwecks der Bestimmungen nicht möglich. Für die weiteren Einzelheiten wird auf das Schreiben vom 15. Juli 2021 verwiesen.
Im Jahreszeugnis vom 29. Juli 2021 wurden die Leistungen der Antragstellerin im Fach Latein mit der Note „ungenügend“ bewertet. Das Zeugnis enthält die Bemerkung, dass die Schülerin die vorläufige Erlaubnis zum Besuch der Jahrgangsstufe 8 erhält.
Mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 31. August 2021, bei Gericht eingegangen am selben Tag, begehrte die Antragstellerin den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass sowohl ein Anordnungsanspruch als auch ein Anordnungsgrund bestehe. Die Deutsche Gebärdensprache sei seit 2002 als eigenständige Sprache gesetzlich anerkannt, § 6 Abs. 1 des Gesetzes zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz – BGG) vom 27.4.2002 (BGBl. I S. 1468), zuletzt geändert durch G. v. 2.6.2021 (BGBl. I S. 1387). Diese sei bei der Antragstellerin als Muttersprache anzusehen und nicht lediglich als „besondere Ausdrucksform“ der Deutschen Sprache. Die Antragstellerin müsse beim Erwerb der deutschen Laut- und Schriftsprache in einer gleichen Weise umlernen wie jemand, der sich eine fremde Sprache erstmals aneigne. Sie müsse also nicht drei, sondern vier Sprachen beherrschen. Das Erlernen dreier Fremdsprachen stelle eine Ungleichbehandlung dar, welche zu einer schulischen Mehrbelastung führe, die sich auch negativ auf den Lernfortschritt in den anderen Fächern auswirke. Gemäß Art. 24 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention – UN-BRK) vom 13. Dezember 2006 (BGBl. 2008 II S. 1419) müsse, ausgehend vom Prinzip der Gleichberechtigung, ein einbeziehendes, inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen gewährleistet werden. Behinderte Menschen dürften nicht aufgrund ihrer Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden. Ihnen sei gleichberechtigt Zugang zum Bildungssystem zu gewährleisten. Die UN-BRK habe in Deutschland Gesetzeskraft und gehe den landesrechtlichen Bestimmungen der §§ 31ff. BaySchO und Art. 52 BayEUG vor. Diese Vorschriften zum Nachteilsausgleich und Notenschutz seien vor diesem Hintergrund nicht abschließend, sondern müssten stets daraufhin überprüft werden, ob sie das Ziel einer Gleichstellung Behinderter tatsächlich erreichten. Es werde nicht mehr begehrt als die Gleichstellung mit Schülern mit Migrationshintergrund, bei denen Deutsch als erste Fremdsprache anerkannt werde, sofern sie in der Spracherwerbsphase mit einer anderen Muttersprache aufgewachsen seien. Da die Antragstellerin bei sachgemäßer Anwendung der UN-BRK bereits bei Eintritt in die 7. Klassenstufe vom Erfordernis des Erlernen einer dritten Fremdsprache hätte befreit werden müssen, sei die Benotung im Fach Latein aus dem Zeugnis der 7. Klasse ersatzlos zu streichen und die Antragstellerin vorbehaltlos in die 8. Klassenstufe zu versetzen. Ein Anordnungsgrund sei gegeben, weil der Antragstellerin weiterhin die Nichtversetzung aufgrund der schlechten Note in Latein drohe. Zudem habe sie seit mehr als 18 Monaten keine Klarheit darüber, welche Anforderungen sie erfüllen müsse. Es bestehe eine Überlastungssituation und damit eine Benachteiligung gegenüber ihren hörenden Mitschülern, die nur zwei Fremdsprachen erlernen müssten. Dieser Nachteil verfestige sich, je länger die Situation andauere. Dieser Nachteil könne bei einem Abwarten der Hauptsacheentscheidung nicht mehr ausgeglichen werden. Damit sei auch eine teilweise Vorwegnahme der Hauptsache gerechtfertigt. Auf den weiteren Inhalt der Antragsschrift wird Bezug genommen.
Die Antragstellerin beantragt,
1.die Antragstellerin bis zur Entscheidung in der Hauptsache vom Schulfach Latein zu befreien und stattdessen das Fach „Deutsch“ als erste Fremdsprache anzuerkennen sowie
2.die Antragstellerin ohne Vorbehalt in die 8. Klassenstufe zu versetzen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dass die Forderungen der Antragstellerin dem Notenschutz zuzuordnen seien. Dieser sei abschließend in Art. 52 Abs. 5 BayEUG und § 34 BaySchO geregelt. Die eingeforderte Maßnahme sei dort nicht vorgesehen. Auch durch eine Auslegung lasse sich kein Anspruch konstruieren. Es gehe vorliegend nicht darum, ob die Deutsche Gebärdensprache die Muttersprache sei. Maßgeblich sei allein, dass aus der Schulordnung für die Gymnasien in Bayern nicht abgeleitet werden könne, dass die Antragstellerin statt im Fach Deutsch Unterricht im Fach Deutsche Gebärdensprache erhalten müsse. Aus dem Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG folgten generell keine Ansprüche auf behindertengerechten Notenschutz. Ein Anspruch wegen der behaupteten Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes scheide ebenfalls aus. Dieser verbiete es vielmehr, von den allgemeinen Grundsätzen der Leistungserhebung abzuweichen. Art. 24 der UN-Behindertenrechtskonvention sei nicht unmittelbar anwendbar und daher ebenfalls keine Rechtsgrundlage für den behaupteten Anspruch. Für die weiteren Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 6. September 2021 verwiesen.
Mit weiterem Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 8. September 2021 ließ die Antragstellerin ihr bisheriges Vorbringen ergänzen und vertiefen. Auf den Inhalt des Schriftsatzes wird verwiesen.
Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte verwiesen.
II.
Der Antrag ist teilweise bereits unzulässig, jedenfalls aber unbegründet.
Nach § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag, auch schon vor Klageerhebung, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Voraussetzung für eine einstweilige Anordnung ist demnach das Vorliegen eines Rechts, dessen Sicherung die Anordnung dient (Anordnungsanspruch) sowie die drohende Vereitelung oder Erschwerung dieses Anspruchs (Anordnungsgrund). Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind vom Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Wegen der Eilbedürftigkeit des Anordnungsverfahrens sind die Anforderungen an das Beweismaß und somit auch an den Umfang der Ermittlung von Sach- und Rechtslage geringer als im Hauptsacheverfahren. Es genügt eine nur summarische Überprüfung der Sach- und Rechtslage (Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 123 Rn. 23 ff.).
1. Soweit die Antragstellerin begehrt, sie ohne Vorbehalt in die 8. Klassenstufe zu versetzen, ist der Antrag bereits unzulässig, weil ihm das Rechtsschutzbedürfnis fehlt. Die Antragstellerin verfolgt damit das Ziel, eine mögliche Zurückverweisung nach Ablauf der Probezeit zu verhindern. Sie begehrt somit vorbeugenden Rechtsschutz gegen eine von ihr befürchtete Maßnahme der Schule. Für vorbeugenden Rechtsschutz besteht jedoch grundsätzlich kein Rechtsschutzbedürfnis, weil repressiv Rechtsschutz nach Erlass eines Verwaltungsakts begehrt werden kann, gegebenenfalls auch im Wege des Eilrechtsschutzes. Besondere Gründe, die hier ausnahmsweise den Erlass eines vorläufigen und vorbeugenden Regelung rechtfertigen könnten, sind weder ersichtlich noch vorgetragen.
Die Antragstellerin hat aufgrund der Note „ungenügend“ im Fach Latein gem. § 31 der Schulordnung für die Gymnasien in Bayern (Gymnasialschulordnung – GSO) vom 23.1.2007 (GVBl. S. 68, BayRS 2235-1-1-1-K), zuletzt geändert durch V. v. 8.7.2021 (GVBl. S. 479), die vorläufige Erlaubnis zum Besuch der Jahrgangsstufe 8 erhalten. Die Probezeit dauert bis zum 15. Dezember und kann in besonderen Fällen um höchstens zwei Monate verlängert werden. Die Lehrerkonferenz entscheidet, ob die Schülerin die Probezeit bestanden hat oder zurückverwiesen wird (§ 31 Abs. 3 GSO). Die Antragstellerin darf also mit Beginn des neuen Schuljahres die 8. Klassenstufe besuchen. Frühestens zum 15. Dezember 2021 wird über die Probezeit entschieden. Es ist nicht ersichtlich, wieso der Antragstellerin nicht zugemutet werden könnte, zunächst nur aufgrund der vorläufigen Erlaubnis die 8. Klasse zu besuchen und dann im Falle einer Zurückverweisungsentscheidung – die auf ihren eigenen, bis dahin erzielten Leistungen beruhen wird – Rechtsschutz zu beantragen.
Der Antrag wäre aber auch unbegründet, weil mit ihm keine vorläufige Regelung begehrt wird, sondern die endgültige, vorbehaltlose Versetzung in die 8. Klasse. Damit würde eine Entscheidung in der Hauptsache vorweggenommen werden. Dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht aber grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und der Antragstellerin nicht schon in vollem Umfang das gewähren, was sie nur einem Hauptsacheprozess erreichen könnte (Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 123 Rn. 13f.). Grundsätzlich ausgeschlossen ist es demnach, eine Regelung zu treffen, die rechtlich oder zumindest faktisch auf eine Vorwegnahme der Hauptsache hinausläuft. Würde das Gericht im Wege des Eilrechtsschutzes anordnen, die Antragstellerin „ohne Vorbehalt“, also endgültig in die 8. Klassenstufe zu versetzen, wäre dies keine vorläufige, sondern eine endgültige Regelung, die nicht mehr rückgängig gemacht werden könnte.
Eine Vorwegnahme der Hauptsache ist im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Gebot effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG nur dann zulässig, wenn sonst der Antragstellerin schwere und unzumutbare, nachträglich nicht mehr zu beseitigende Nachteile drohen und ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass der mit der Hauptsache verfolgte Anspruch auch begründet ist (Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 123 Rn. 66a).
Schwere und unzumutbare Nachteile, die nachträglich nicht mehr beseitigt werden können, hat die Antragstellerin hinsichtlich der vorbehaltlosen Versetzung nicht vorgetragen. Sie meint, dass sie bereits in der 7. Klassenstufe von dem Erfordernis des Erlernens einer dritten Fremdsprache hätte befreit werden müssen. Daher sei die Note „ungenügend“ im Wege des Folgenbeseitigungsanspruchs aus dem Zeugnis der 7. Klasse ersatzlos zu streichen und die Antragstellerin vorbehaltlos in die 8. Klassenstufe zu versetzen. Welcher unzumutbare Nachteil, der nachträglich nicht mehr beseitigt werden kann, mit dem Abwarten einer etwaigen Hauptsache – bis heute sind weder gegen das Jahreszeugnis noch gegen das Schreiben vom 15. Juli 2021 Rechtsmittel eingelegt worden – verbunden sein soll, ist diesem Vortrag nicht zu entnehmen und auch sonst nicht ersichtlich. Vielmehr erscheint es der Antragstellerin zumutbar, die 8. Klasse aufgrund der „vorläufigen Erlaubnis“ zu besuchen, da sie im schulischen Alltag hierdurch keinen gravierenden Nachteil erleidet.
Zudem spricht kein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg auch in der Hauptsache, da der geltendgemachte Folgenbeseitigungsanspruch in dieser Konstellation nicht einschlägig ist. Beim Folgenbeseitigungsanspruch geht es darum, den Vollzug eines rechtswidrigen, aufgehobenen Verwaltungsakts rückgängig zu machen (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Kein Anwendung findet er hingegen, wenn es nicht um die Wiederherstellung eines früheren Zustands geht, sondern um die Einräumung einer Rechtsstellung, die bisher nicht bestand (Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 113 Rn. 83). Die Antragstellerin begehrt die Befreiung vom Fach Latein als zweite Fremdsprache. Es geht ihr also um eine Erweiterung ihrer Rechtsposition und nicht um die Beseitigung der Folgen eines hoheitlichen Eingriffs. Zwar stellte sie den Antrag bereits in der 5. Klassenstufe, also bevor sie die zweite Fremdsprache belegen musste. Weshalb die Antragsgegnerin erst nach mehr als zwei Jahren über diesen Antrag entschieden hat, erschließt sich dem Gericht nicht und führte für die Antragstellerin zu einer langen Phase der Unsicherheit. Daraus lässt sich aber jedenfalls im Rahmen einer Folgenbeseitigung kein Anspruch auf rückwirkende Aufhebung der Benotung der 7. Klassenstufe ableiten.
2. Soweit die Antragstellerin begehrt, bis zur Entscheidung in der Hauptsache vom Schulfach Latein befreit zu werden unter Anerkennung des Fachs „Deutsch“ als erste Fremdsprache, ist der Antrag zwar zulässig, aber in der Sache unbegründet. Der geltendgemachte Anspruch erscheint nicht hinreichend wahrscheinlich. Zudem würde die Befreiung vom Fach Latein im Wege der einstweiligen Anordnung zu einer Vorwegnahme der Hauptsache führen.
a) Die Antragstellerin hat nicht glaubhaft gemacht, dass ihr ein Anspruch auf Befreiung vom Schulfach Latein zusteht.
Die Antragstellerin unterliegt nach den Regelungen der Art. 35ff. BayEUG der Schulpflicht und muss gem. Art. 50 Abs. 2 BayEUG den Unterricht in Pflichtfächern und in gewählten Fächern besuchen, soweit nicht in Rechtsvorschriften Ausnahmen vorgesehen sind. Nach der Stundentafel (§ 15 Abs. 1 Satz 1 GSO i.V.m. der Anlage 1 zur GSO) ist in der 8. Jahrgangsstufe das Belegen einer zweiten Fremdsprache zwingend. An dem von der Antragstellerin besuchten …Gymnasium kann als zweite Fremdsprache Latein oder Französisch gewählt werden. Die Antragstellerin hat Latein gewählt und muss diesen Unterricht dementsprechend zur Erfüllung ihrer Schulpflicht besuchen.
Um das Ziel zu erreichen, vom Erfordernis einer zweiten Fremdsprache befreit zu werden, kommt es nicht entscheidend darauf an, ob die Deutsche Gebärdensprache als Muttersprache der Antragstellerin anzusehen oder rechtlich anzuerkennen ist. Das Gericht verkennt nicht, dass die Deutsche Gebärdensprache eine natürliche Sprache ist, deren Eigenständigkeit in § 6 Abs. 1 BGG gesetzlich verankert ist. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin handelt es sich bei der Deutschen Gebärdensprache nicht nur um eine „besondere Ausdrucksform, in welcher man sich in der deutschen Sprache verständigen kann“. Als eigenständige Sprache kann sie Muttersprache sein und die deutsche Sprache dementsprechend Zweit- oder Fremdsprache.
Doch selbst wenn die Deutsche Gebärdensprache die Muttersprache der Antragstellerin ist, folgt daraus kein Anspruch auf Befreiung vom Schulfach Latein. Denn wie dargestellt, ist die Wahl einer zweiten Fremdsprache am Gymnasium unter dem Aspekt der Schulpflicht für die Antragstellerin zwingend, unabhängig von ihren individuellen Fähigkeiten und Vorkenntnissen. Auch Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund, für die Deutsch eine Fremdsprache ist, die sie erst nach ihrer Muttersprache erlernt haben, müssen grundsätzlich wie alle anderen Schülerinnen und Schüler auch die (Wahl-)Pflichtfächer im sprachlichen Bereich belegen. Soweit die Antragstellerin in diesem Zusammenhang meint, Schüler mit Migrationshintergrund könnten die zweite Fremdsprache durch die Muttersprache ersetzen, entspricht dies grundsätzlich nicht den geltenden schulrechtlichen Bestimmungen. Soweit im Einzelfall Ausnahmen zugelassen werden, beruhen diese auf einer gesetzlichen Grundlage wie etwa § 15 Abs. 3 GSO. Generell sind aber alle Schülerinnen und Schüler an bayerischen Gymnasien verpflichtet, eine „zweite Fremdsprache“ zu erlernen, auch wenn sie für die Einzelne oder den Einzelnen faktisch die dritte Fremdsprache darstellen mag.
Ein Anspruch auf Befreiung vom Fach Latein ist voraussichtlich nicht gegeben. Wie die Antragsgegnerin zutreffend ausführt, scheidet ein direkter Anspruch aufgrund der UN-Behindertenrechtskonvention aus, weil diese mangels hinreichender Bestimmtheit nicht unmittelbar anwendbar ist. Auch aus dem seitens der Antragstellerin zitierten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich nichts Anderes. Denn danach hat die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland zwar Gesetzeskraft und kann als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte herangezogen werden (vgl. BVerfG, B.v. 31.3.2021 – 1 BvR 413/20 – juris Rn. 36). Daraus folgt aber gerade nicht, dass die oder der Einzelne hieraus unmittelbare Ansprüche ableiten kann, sondern dass diese vor allem den Gesetzgeber bindet und zudem bei der Auslegung von Gesetzen beachtet werden muss.
Auch eine Befreiung als Maßnahme des Notenschutzes kommt nicht in Betracht, weil die einschlägigen Regelungen des § 34 BaySchO keine derartige Befreiung vorsehen. Angesichts ihres eindeutigen, abschließenden Wortlauts ist eine weitergehende Auslegung dieser Vorschriften nicht möglich, zumal eine solche wegen des Grundsatzes des Vorbehalt des Gesetzes problematisch wäre (vgl. dazu BVerwG, U. v. 29.7.2015 – 6 C 35/14 – juris Rn. 41ff.). Soweit die Antragstellerin meint, durch den Verweis des § 34 BaySchO auf Art. 52 Abs. 5 BayEUG ergebe sich, dass § 34 Abs. 4 BaySchO nicht abschließend sei, übersieht sie, dass nur hinsichtlich der weiteren Voraussetzungen des Notenschutzes auf Art. 52 Abs. 5 Satz 2 bis 4 BayEUG verwiesen wird.
Aus den Regelungen über den Nachteilsausgleichs gem. Art. 52 Abs. 5 Satz 1 BayEUG lässt sich ebenfalls kein Anspruch auf Befreiung vom Fach Latein ableiten. Denn im Rahmen des Nachteilsausgleichs geht es (nur) um eine Anpassung der Prüfungsbedingungen, die gleichzeitig aber das fachliche Anforderungsniveau der Leistungsanforderungen wahrt. Eine Modifizierung der Prüfungsinhalte scheidet daher aus (vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 7. Aufl. 2018, Rn. 259 m.w.N.).
Soweit § 20 Abs. 3 Satz 1 BaySchO die Möglichkeit einer Befreiung vom Unterricht in einzelnen Fächern vorsieht, lässt sich hierauf der geltendgemachte Anspruch nicht stützen. Denn der Schule steht bei dieser Entscheidung ein Ermessensspielraum zu, so dass die Antragstellerin jedenfalls nur einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung hat. Ein Anspruch auf die konkret begehrte Entscheidung durch den Antragsgegner ergäbe sich nur dann, wenn das Ermessen auf Null reduziert wäre und die begehrte Entscheidung damit die einzig rechtmäßige Entscheidung darstellen würde. Eine solche Ermessensreduzierung auf Null ist hier schon angesichts der strikten Geltung der Schulpflicht und des verpflichtenden Lehrplans nicht anzunehmen, trotz der Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention. Denn auch wenn diese unstreitig das Ziel eines integrativen Bildungssystems auf allen Ebenen vorgibt, also Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden dürfen, so kann daraus kein Anspruch auf Befreiung von einem bestimmten Schulfach abgeleitet werden. Auch wenn es die Antragstellerin aufgrund ihrer Gehörlosigkeit im regulären Gymnasium ungleich schwerer hat als ihre hörenden Mitschülerinnen und Mitschüler und sie vielfach einen wesentlich höheren Aufwand leisten muss, so ist auch zu berücksichtigen, dass die Befreiung vom Fach Latein erhebliche Auswirkungen auf die Aussagekraft des Schulabschlusses und möglicherweise sogar auf die Chancengleichheit der Antragstellerin selbst hätte. Denn sie würde letztlich über ein Abiturzeugnis verfügen, obwohl sie – zusätzlich zu den generellen Auswirkungen des Notenschutzes – über ein geringeres Qualifikationsniveau hinsichtlich der verpflichtenden Fremdsprachen verfügt.
b) Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist auch deshalb unbegründet, weil die Befreiung vom Schulfach Latein einer unzulässigen Vorwegnahme der Hauptsache gleich käme. Denn durch die Befreiung würden im Hinblick auf ein etwaiges Hauptsacheverfahren irreversible Zustände geschaffen werden, da die Nicht-Belegung des Faches Latein (mindestens) in der 8. Jahrgangsstufe faktisch nicht mehr rückgängig gemacht werden könnte. Eine ausnahmsweise Zulässigkeit der Vorwegnahme der Hauptsache kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil wie dargelegt kein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache spricht. Zudem erscheint eine sofortige Befreiung nicht zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes schlechterdings notwendig. Zwar muss die Antragstellerin so von Beginn des Schuljahres an den Unterricht im Fach Latein besuchen mit dem entsprechenden Lernaufwand. Allerdings ist damit noch keine endgültige Entscheidung getroffen über die Frage, ob die Leistungen auch tatsächlich bewertet werden und ins Jahreszeugnis Eingang finden. Auch so könnte dem Rechtsschutzbedürfnis Rechnung getragen werden.
Nach alledem war der Antrag abzulehnen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG in Verbindung mit Ziffer 1.5 des Streitwertkatalogs.


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