Verwaltungsrecht

Gelingensprognose im Abschiebungshaftverfahren: Erwartbarkeit der Beseitigung oder des Wegfalls des Abschiebungshindernisses innerhalb der maßgeblichen Höchstfrist für die Haftdauer

Aktenzeichen  XIII ZB 7/19

Datum:
15.12.2020
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BGH
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:BGH:2020:151220BXIIIZB7.19.0
Normen:
§ 62 Abs 3 S 3 AufenthG
Spruchkörper:
13. Zivilsenat

Leitsatz

Für die Anordnung von Sicherungshaft ist auch Raum, wenn die Sachverhaltsermittlung und -bewertung ergibt, dass zwar keine exakte Zeitangabe möglich ist, jedoch erwartet werden kann, dass innerhalb der maßgeblichen Höchstfrist für die Dauer der Haft eine Beseitigung oder ein Wegfall des Abschiebungshindernisses erfolgen wird.

Verfahrensgang

vorgehend LG Frankfurt, 13. November 2017, Az: 2-29 T 258/17vorgehend AG Frankfurt, 23. Oktober 2017, Az: 934 XIV 1432/17 B

Tenor

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 29. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main vom 13. November 2017 wird auf Kosten des Betroffenen zurückgewiesen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Gründe

1
I. Der Betroffene, ein tunesischer Staatsangehöriger, reiste im Jahr 2003 in das Bundesgebiet ein und erhielt in der Folge mehrere befristete Aufenthaltserlaubnisse. Aufgrund seiner Hinwendung zu radikal-salafistischen Kreisen und seiner Unterstützung des “Islamischen Staats” (IS) ordnete das Hessische Ministerium des Innern und für Sport wegen der vom Betroffenen ausgehenden Gefahr eines terroristischen Anschlags in Deutschland mit Verfügung vom 1. August 2017 nach § 58a Abs. 1 AufenthG seine Abschiebung nach Tunesien an. Gegen die Abschiebungsanordnung stellte der Betroffene einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes bei dem Bundesverwaltungsgericht, das diesen mit Beschluss vom 19. September 2017 (1 VR 8.17, juris) mit der Maßgabe ablehnte, dass die Abschiebung nur unter der Bedingung vollzogen werden dürfe, dass eine tunesische Regierungsstelle zusichere, dass im Fall der Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe gegen den Betroffenen die Möglichkeit einer Überprüfung der Strafe mit der Aussicht auf Umwandlung oder Herabsetzung der Haftdauer bestehe.
2
Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 23. Oktober 2017 die – mit Beschluss vom 18. August 2017 bis zum 23. Oktober 2017 gegen den Betroffenen angeordnete – Haft zur Sicherung seiner Abschiebung nach Tunesien bis zum 23. Januar 2018 verlängert. Die dagegen gerichtete Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Betroffene, der nach Ablauf der angeordneten Haftzeit mit der Rechtsbeschwerde die Feststellung begehrt, dass ihn die Haftanordnung in seinen Rechten verletzt habe.
3
II. Das zulässige Rechtsmittel hat in der Sache keinen Erfolg.
4
1. Das Beschwerdegericht meint, die Haft sei zu Recht verlängert worden. Ein Haftgrund liege weiterhin vor, da die Voraussetzungen des § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1a AufenthG in der hier noch maßgeblichen, bis zum 20. August 2019 geltenden Fassung (fortan: aF) erfüllt seien, indem die Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG aufgrund der von dem Bundesverwaltungsgericht geforderten, aber noch nicht vorliegenden Zusicherung nicht unmittelbar vollzogen werden könne. Die Erlangung dieser Zusicherung und die anschließende Durchführung der Abschiebung seien innerhalb des verlängerten Haftzeitraums realistisch. Die Unterbringung des Betroffenen in einer allgemeinen Justizvollzugsanstalt – getrennt von Strafgefangenen – sei nach § 62a Abs. 1 Satz 2 AufenthG aF zulässig.
5
2. Das hält rechtlicher Nachprüfung stand.
6
a) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde fällt unter die in § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1a AufenthG aF genannte Haftvoraussetzung, dass die Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG “nicht unmittelbar vollzogen werden kann”, nicht nur die Konstellation, dass der Vollzug auf Grund eines gegen die Abschiebungsanordnung gerichteten und noch anhängigen verwaltungsgerichtlichen Verfahrens (vorübergehend) ausgeschlossen ist. Erfasst sind vielmehr auch Fallkonstellationen, in denen andere Gründe die Durchführung der Abschiebung hindern, so auch die hier vorliegende Situation, dass die Übermittlung der für eine Abschiebung notwendigen Zusicherungen des Zielstaates noch aussteht.
7
Aus Sinn und Zweck der Norm folgt, dass die Anordnung von Sicherungshaft nicht auf Fälle der Nichtvollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung während eines gegen die Abschiebungsanordnung gerichteten und noch anhängigen verwaltungsgerichtlichen Verfahrens beschränkt ist. Denn die mit der Abschiebungsanordnung nach § 58a Abs. 1 AufenthG festgestellten Gefahren geben im Regelfall auch Anlass zu der Annahme, dass sich der Betroffene der Abschiebung durch Flucht entziehen könnte, stellen nach der Vorstellung des Gesetzgebers also einen typisierten Fall von Fluchtgefahr dar, zu deren Abwehr mit § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1a AufenthG aF die Möglichkeit der Anordnung von Sicherungshaft geschaffen wurde (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 6. Oktober 2020 – XIII ZB 13/20, z. Veröff. best.). Die in den Fällen einer Abschiebungsanordnung nach § 58a Abs. 1 AufenthG typischerweise bestehende Fluchtgefahr beschränkt sich jedoch nicht auf die Situation eines gegen die Abschiebungsanordnung gerichteten verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, sondern ist gleichermaßen anzunehmen, wenn die Anordnung aus anderen Gründen vorübergehend nicht vollzogen werden kann (vgl. BeckOK AuslR/Kluth [1.10.2020], § 62 AufenthG Rn. 33; Bergmann/Dienelt/Winkelmann, Ausländerrecht, 13. Aufl., § 62 AufenthG Rn. 100; Hailbronner in ders., AuslR [April 2020], § 62 AufenthG Rn. 108; HK-AuslR/Keßler, 2. Aufl., § 62 AufenthG Rn. 27; Kaniess, Abschiebungshaft, Teil C Rn. 88).
8
b) Die vom Beschwerdegericht angestellte Gelingensprognose (§ 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG) ist ebenfalls nicht zu beanstanden.
9
aa) Nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts bestand wegen der unmittelbar nach Erlass des Beschlusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. September 2017 durch die beteiligte Behörde in die Wege geleiteten diplomatischen Verhandlungen zwischen dem Auswärtigen Amt und der Repu-blik Tunesien die Aussicht auf eine Zusicherung der tunesischen Regierung, dass das Begnadigungsrecht des Staatspräsidenten die Umwandlung rechtskräftig verhängter lebenslanger Freiheitsstrafen in zeitige Freiheitsstrafen umfasse. Dafür, dass eine solche Zusicherung der vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Maßgabe nicht genügen würde, bestanden weder zu diesem noch zu einem späteren Zeitpunkt hinreichende Anhaltspunkte.
10
bb) Auch der Mangel an Erfahrungswerten der deutschen Behörden im Hinblick auf den für den Erhalt solcher Zusicherungen benötigten Zeitraum hinderte die Stellung einer positiven Gelingensprognose nicht. Für die Anordnung von Sicherungshaft ist auch Raum, wenn die Sachverhaltsermittlung und -bewertung ergibt, dass zwar keine exakte Zeitangabe möglich ist, jedoch erwartet werden kann, dass innerhalb der maßgeblichen Höchstfrist für die Dauer der Haft eine Beseitigung oder ein Wegfall des Abschiebungshindernisses erfolgen wird (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. Juni 2010 – V ZB 205/09, juris Rn. 9; vom 19. Mai 2011 – V ZB 122/11, juris Rn. 14, und vom 1. März 2012 – V ZB 206/11, InfAuslR 2012, 271 Rn. 18, jeweils mwN; BVerfG, NJW 2009, 2659 Rn. 19 und 22).
11
c) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde hat sich das Beschwerdegericht auch mit der Frage der Anwendbarkeit milderer Mittel auseinandergesetzt. Es hat ausgeführt, die Verlängerung der Sicherungshaft diene der Überbrückung des Zeitraums bis zur Erlangung der Zusicherung aus Tunesien und der Abwehr der vom Betroffenen ausgehenden erheblichen Gefahren. Insoweit hat es zulässigerweise auf die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts Bezug genommen, wonach eine hinreichende Wahrscheinlichkeit bestand, dass der Betroffene einen Terroranschlag in Deutschland begehen werde. Damit hat das Beschwerdegericht der Sache nach mildere Mittel gegenüber der Anordnung von Sicherungshaft rechtsfehlerfrei als nicht geeignet angesehen, um zu verhindern, dass sich der Betroffene der Abschiebung entzieht.
12
d) Schließlich war im Streitfall auch der Vollzug der Abschiebungshaft in der allgemeinen Justizvollzugsanstalt Frankfurt am Main I rechtmäßig. Insoweit wird auf den Beschluss des Senats vom heutigen Tage (XIII ZB 3/19, z. Veröff. best.) verwiesen, der die Haftanordnung gegen den Betroffenen zum Gegenstand hat.
13
3. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen.
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