Verwaltungsrecht

Gleichzeitige Entscheidung über einen Antrag auf Prozesskostenhilfe und einen Sachantrag

Aktenzeichen  4 C 16.2565

Datum:
9.1.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
ZPO ZPO § 114 Abs. 1 S. 1, § 127 Abs. 4
VwGO VwGO § 80 Abs. 5, § 166
BayUnterbrG BayUnterbrG Art. 1 Abs. 1, Art. 5, Art. 10 Abs. 1, Abs. 2
BGB BGB § 1906

 

Leitsatz

1 In Fällen großer Eilbedürftigkeit kann gleichzeitig über einen Sachantrag und einen Prozesskostenhilfeantrag entschieden werden. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Maßstäbe für den Erfolg der jeweiligen Anträge unterschiedlich sind (Parallelentscheidung zu HmbOVG LSK 2016, 107311). (redaktioneller Leitsatz)
2 Eine den Anforderungen von § 166 VwGO iVm § 114 Abs. 1 S. 1 ZPO genügende hinreichende Erfolgsaussicht ist anzunehmen, wenn eine gewisse Wahrscheinlichkeit des Erfolgs der beabsichtigten oder bereits eingeleiteten Rechtsverfolgung besteht.  (redaktioneller Leitsatz)
3 Obdachlose Personen, die ein unbequemes und störendes Verhalten an den Tag legen, sind nicht pauschal als nicht unterbringungsfähig anzusehen. Vielmehr darf insofern kein kleinlicher Maßstab angelegt werden (Weiterentwicklung von VGH München BeckRS 2015, 50354). (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

RO 4 S 16.1812 2016-12-01 Bes VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

Nr. I. des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 1. Dezember 2016 wird aufgehoben. Dem Antragsteller wird für das Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt S., Regensburg, beigeordnet.

Gründe

I. Der Antragsteller begehrte vor dem Verwaltungsgericht vorläufigen Rechtsschutz gegen die Beendigung der Zuweisung einer von ihm seit Oktober 2015 bewohnten Obdachlosenunterkunft. Für ihn wurde im Dezember 2015 vom Amtsgericht Regensburg eine Betreuung unter anderem für die Bereiche Aufenthaltsbestimmung und Wohnungsangelegenheiten angeordnet.
Im Laufe des Sommers 2016 kam es zu einer Fülle von Nachbarschaftsbeschwerden gegen den Antragsteller wegen nächtlicher Ruhestörung, Herumschreiens und Entfachens von Feuern im Garten vor der Obdachlosenunterkunft. Am 30. Oktober 2016 wurde der Antragsteller von der Polizei zwangsweise im Bezirksklinikum Regensburg untergebracht. Im polizeilichen Bericht vom 30. Oktober 2016 ist unter anderem festgehalten, dass der Antragsteller im Haus herumgeschrien habe. Vor der Eingangstür habe eine verkohlte Blechschüssel mit etwas Wasser gestanden. In den Räumlichkeiten sei noch Geruch nach verbrannten Holzresten wahrzunehmen gewesen. Ein Spirituskocher und fünf teilweise noch halbvolle Spiritusflaschen hätten auf dem Boden gestanden. Eine Holzablage im Schlafzimmer neben dem Bett des Antragstellers sei verkohlt gewesen. Das Amtsgericht Regensburg genehmigte mit Beschluss vom 31. Oktober 2016 (nur) bis längstens 11. Dezember 2016 die Unterbringung des Antragstellers durch den Betreuer in der geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses unter anderem zur Durchführung einer medizinisch notwendigen Operation.
Nach einer ergebnislosen Besprechung zwischen Betreuer des Antragstellers, Antragsgegnerin und Vertretern des Landratsamtes erließ die Antragsgegnerin am 3. November 2016 einen Bescheid, mit dem sie die Zuweisung der Obdachlosenunterkunft an den Antragsteller mit sofortiger Wirkung beendet. Gleichzeitig wird in diesem Bescheid ein früherer Bescheid vom 7. Oktober 2016, der die Verlängerung der Zuweisung der Unterkunft bis zum 31. Dezember 2016 zum Inhalt hatte, mit sofortiger Wirkung aufgehoben. Zudem wurde die sofortige Vollziehung dieser Anordnungen angeordnet.
Im unmittelbaren Anschluss an das Gespräch vom 2. November 2016 stellte der Betreuer des Antragsstellers einen Antrag beim Betreuungsgericht auf Unterbringung des Antragstellers nach § 1906 BGB. Das Betreuungsgericht stellte bereits am 7. November 2016 einen Verfahrenspfleger für das Unterbringungsverfahren und erteilte Gutachtensauftrag für ein (weiteres) psychiatrisches Fachgutachten, das dann am 29. November 2016 vorlag.
Am 22. November 2016 erhob der Bevollmächtigte des Antragstellers Klage gegen den Bescheid vom 3. November 2016, stellte einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage und stellte zudem Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe. Bereits in der Klageschrift ist ausgeführt, dass der Antragsteller demnächst aus dem Bezirksklinikum entlassen werden müsse und der Antragsteller ohne Anordnung der aufschiebenden Wirkung auf der Straße landen würde. Der Bevollmächtigte wies auch darauf hin, dass der Betreuer des Antragstellers einen Antrag auf zivilrechtliche Unterbringung gestellt habe, eine aktuelle Rückmeldung des begutachtenden Arztes aber gegen die Voraussetzungen einer solchen Unterbringung spräche. Eine öffentlich-rechtliche Unterbringung sei durch das Landratsamt (Gesundheitsamt) bisher nicht angestoßen worden.
Mit weiterem Schriftsatz vom 30. November 2016 wies der Bevollmächtigte des Antragstellers auf die Entwicklungen im Unterbringungsverfahren hin. Er betonte dabei, dass der Betreuer keine anderen Möglichkeiten zu einer zwangsweisen Unterbringung des Antragstellers habe.
Mit Beschluss vom 1. Dezember 2016 lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts ab. Zugleich lehnte es auch den gestellten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der vom Bevollmächtigten des Klägers am 22. November 2016 erhobenen Klage gegen den Bescheid vom 3. November 2016 ab. Die von der Behörde geltend gemachten Interessen an der sofortigen Vollziehung ihres Bescheids seien mit dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs abzuwägen, wobei die Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu berücksichtigen seien. Die Hauptsacheklage sei nach summarischer Überprüfung voraussichtlich nicht erfolgreich. Der Antragsteller könne wegen fehlender Unterbringungsfähigkeit und fehlender Unterbringungswilligkeit nicht nach Obdachlosenrecht untergebracht werden. Nach dem Unterbringungsbericht der Polizei vom 30. Oktober 2016 ergebe sich, dass nicht auszuschließen sei, dass der Antragsteller insbesondere im Umgang mit Feuer nicht die erforderliche Sorgfalt verwende. Es bestehe daher eine konkrete Gefahr für den Antragsteller selbst und die umliegende Nachbarschaft. Der Antragsteller sei zudem auch alkoholisiert und gegenüber den Polizeibeamten aggressiv gewesen. Es sei nicht Aufgabe der Antragsgegnerin, für eine dem Betreuungsbedarf des Antragstellers genügende Unterbringung Rechnung zu tragen.
Mit seiner Beschwerde verfolgt der Antragsteller seinen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe weiter. Unbestritten sei der Antragsteller keine einfache Person. Die Ursache dafür liege in einer psychischen Erkrankung, wegen der der Antragsteller zu 80% schwerbehindert sei. Inzwischen liege auch ein Gutachten eines psychiatrischen Sachverständigen vom 29. November 2016 vor. Dieses Gutachten sei im Rahmen eines Verfahrens auf betreuungsrechtliche Genehmigung einer Unterbringung nach § 1906 BGB ergangen. Diesem Gutachten sei zu entnehmen, dass eine derartige Unterbringung jedenfalls aus Gesichtspunkten der Selbstgefährdung nicht zu begründen sei. Auch der im Betreuungsverfahren für den aktuellen Unterbringungsantrag beigeordnete Verfahrenspfleger habe nach eigenen Feststellungen keine eigen- oder fremdgefährdende Aggression des Antragstellers feststellen können. Dabei sei in den aktuellen Gutachten sehr wohl auf das „offene Feuer“, das vom Verwaltungsgericht als besondere Gefährdungslage gesehen worden sei, eingegangen worden. Der Antragsteller koche mangels einer anderen Kochgelegenheit auf einem Spirituskocher. Es sei fehlerhaft der Eindruck vermittelt worden, der Antragsteller würde völlig verantwortungslos nach Belieben Feuer legen oder zündeln. Der Antragsteller stelle sich somit sowohl als unterbringungsfähig als auch unterbringungswillig dar.
II. 1. Mangels anderer Anhaltspunkte geht der Senat davon aus, dass in Nr. I des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 1. Dezember 2016 der Prozesskostenhilfeantrag nur bezüglich des Eilverfahrens gemäß § 80 Abs. 5 VwGO abgelehnt worden ist und damit nur insoweit den Beschwerdegegenstand bildet.
2. Das Verwaltungsgericht hat im Eilverfahren zeitgleich über den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO und den Prozesskostenhilfeantrag entschieden. Das ist in Fällen mit großer Eilbedürftigkeit nicht zu beanstanden. Allerdings ist dabei zu beachten, dass die Maßstäbe für den Erfolg der jeweiligen Anträge unterschiedlich sind und die Annahme, dass wegen der Ablehnung des Sachantrages die hinreichende Erfolgsaussicht nach § 166 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO fehle, fehlerhaft sein kann. Denn die Prozesskostenhilfe soll nicht den Erfolg im Sachantrag prämieren, sondern nur den Rechtsschutz ermöglichen (OVG Hamburg, B. v. 28.7.2016 – 1 So 42/16 – juris).
Hinreichende Erfolgsaussicht ist bereits dann anzunehmen, wenn eine gewisse Wahrscheinlichkeit des Erfolgs der beabsichtigten oder bereits eingeleiteten Rechtsverfolgung besteht. Hier liegen andere Umstände vor als in der Fallgestaltung des vom Verwaltungsgericht zitierten Beschlusses des Senats vom 6. August 2015 (Az. 4 C 15.1578 – juris). Im vorliegenden Fall sieht der eingesetzte Betreuer selbst keine Eigen- oder Fremdgefährdung durch den Antragsteller. Auch sitzt im vorliegenden Fall ein Vertreter der Unterbringungsbehörde bei Besprechungen mit der Antragsgegnerin mit am Tisch (etwa bei der Besprechung am 2. November 2016) und ist über den Fall vollständig informiert. Dennoch ist bisher kein Antrag nach Art. 5 des Unterbringungsgesetzes (UnterbrG) gestellt worden, was nur verständlich ist, wenn die Unterbringungsbehörde keine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung „in erheblichem Maß“ (vgl. Art. 1 Abs. 1 UnterbrG) sieht. Schon bei der zwangsweisen Unterbringung ab dem 30. Oktober 2016 hat das Betreuungsgericht eine klare (und enge) zeitliche Grenze gesetzt. Der Betreuer hat unabhängig davon auch noch ein Unterbringungsverfahren nach § 1906 BGB betrieben, das schon vor Einreichung des Antrages nach § 80 Abs. 5 VwGO anhängig war.
In einer solchen Situation spricht viel für eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung und damit für die hinreichende Erfolgsaussicht, zumindest bis der Antragsteller nicht tatsächlich nach § 1906 BGB untergebracht wird. Denn bei winterlichen Witterungsverhältnissen ist ein Verbleib auf der Straße gefährlich für Leib und Leben.
Die Entscheidung des Senats vom 6. August 2015 (a. a. O.), in der der dortige Betreuer trotz eigener Bejahung einer Selbst- und Fremdgefährdung nicht einmal eine einstweilige Unterbringung (vgl. Art. 10 Abs. 1 und 2 UnterbrG, § 1906 Abs. 2 Satz 2 BGB) versucht hat, darf nicht dahingehend verstanden werden, dass selbst Personen, bei denen eine solche Gefährdung ausgeschlossen ist, als nicht unterbringungsfähig angesehen und unter Gefährdung von Leib und Leben auf die Straße gesetzt werden dürften. Nach der Erfahrung des Senats sind viele Obdachlose gerade deshalb obdachlos, weil sie ein unbequemes oder störendes Verhalten an den Tag legen. Beim Umgang mit diesem schwierigen Personenkreis darf kein kleinlicher Maßstab angelegt werden. Bei erheblichen Unzuträglichkeiten für die umliegende Bevölkerung kann die Gemeinde als Sicherheitsbehörde andere Orte der Unterbringung in Betracht ziehen (vgl. Ehmann, Obdachlosigkeit, 2. Aufl. 2006, S. 32 Nr. 3.1.5 am Ende).
3. Die subjektiven Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe sind ausweislich der vorgelegten Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Antragstellers erfüllt.
Eine Kostenentscheidung und eine Streitwertfestsetzung sind entbehrlich. Kosten werden nach § 166 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO nicht erstattet.


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