Verwaltungsrecht

Gruppenverfolgung aller Personen mit Zugehörigkeit zur sunnitischen Glaubensrichtung – Grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache

Aktenzeichen  4 ZB 17.31091

Datum:
21.9.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 128096
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 1, § 78 Abs. 3 Nr. 1, Nr. 3
VwGO § 78 Abs. 3, § 86 Abs. 1, Abs. 3, § 101 Abs. 1, Abs. 2, § 108 Abs. 2, § 138 Nr. 3

 

Leitsatz

1 Im Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Die Einverständniserklärung ist als Prozesshandlung grundsätzlich unwiderruflich. (Rn. 2) (redaktioneller Leitsatz)
2 Verstöße gegen die Sachaufklärungspflicht des Gerichts oder das Gebot der freien Beweiswürdigung können nur dann eine Versagung rechtlichen Gehörs darstellen, wenn die Beweiswürdigung willkürlich erscheint oder gegen Denkgesetze verstößt. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
3 Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung setzt voraus, dass eine konkrete, bisher höchstrichterlich noch nicht beantwortete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert wird, deren Klärung zur Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und der eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
4 Verfolgungshandlungen, denen der sunnitische Bevölkerungsteil ausgesetzt ist, weisen im Staat Irak die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche kritische Verfolgungsdichte nicht auf. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
5 Für die Annahme einer Gruppenverfolgung müssen die Verfolgungshandlungen im Verfolgungszeitraum und im Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und so um sich greifen, dass für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 4 K 17.37900 2017-06-19 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die Berufung ist weder gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG wegen eines in § 138 VwGO bezeichneten Verfahrensmangels noch gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.
1. Das Verwaltungsgericht hat den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör (§ 138 Nr. 3, § 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) nicht dadurch verletzt, dass es nicht aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden hat (§ 101 Abs. 1 VwGO). Denn mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 101 Abs. 2 VwGO). Ein solches Einverständnis hat der Prozessbevollmächtigte der Kläger im verwaltungsgerichtlichen Verfahren mit Schriftsatz vom 11. Mai 2017 (Bl. 27 der VG-Akte) erklärt. Die Einverständniserklärung ist eine Prozesshandlung, die grundsätzlich unwiderruflich ist (vgl. Geiger in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 101 Rn. 7). Ob ein Widerruf möglich ist, wenn sich die Prozesslage wesentlich ändert, kann offen bleiben, weil weder ein Widerruf noch eine wesentliche Änderung der Prozesslage hier vorliegt.
Zwar muss das Gericht unter bestimmten Umständen trotz erklärten Verzichts eine mündliche Verhandlung durchführen. Auch in einem solchen Fall liegt aber bei Erlass einer gerichtlichen Entscheidung ohne mündliche Verhandlung keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör vor, da die Beteiligten haben auch im schriftlichen Verfahren ausreichend Gelegenheit haben, das aus ihrer Sicht für ihre Rechtsverfolgung Notwendige sowohl im Tatsächlichen als auch im Rechtlichen vorzutragen.
Auch der in der Zulassungsbegründung geltend gemachte Verstoß gegen den Untersuchungsgrundsatz und die Aufklärungspflicht des § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1, Abs. 3 VwGO führt nicht zur Zulassung der Berufung. Eine Versagung des rechtlichen Gehörs im Sinne von § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG, § 138 Nr. 3 VwGO kann zwar auch in der Verletzung von Verfahrensvorschriften liegen, die der Wahrung des rechtlichen Gehörs dienen. Hierzu gehören allerdings regelmäßig nicht Verstöße gegen die Sachaufklärungspflicht des Gerichts (§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO) oder gegen das Gebot der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Anspruch auf rechtliches Gehör kann bei solchen Mängeln im Einzelfall allenfalls verletzt sein, wenn es sich um gewichtige Verstöße gegen Beweiswürdigungsgrundsätze handelt, weil etwa die Würdigung willkürlich erscheint oder gegen die Denkgesetze verstößt (vgl. BVerwG, B.v. 2.11.1995 – 9 B 710.94 – NVwZ-RR 1996, 359). Derartige gravierende Mängel sind aber hier weder dargelegt, noch liegen sie vor. Das Verwaltungsgericht hat im angefochtenen Urteil ausgeführt, die Kläger hätten sich vor dem Bundesamt in Widersprüche verwickelt, so dass das Gericht die vorgetragene Verfolgungsgeschichte nicht glaube. So habe der Kläger (zu 1) angegeben, er sei nach der Bedrohung zu einem Onkel gegangen, die Klägerin (zu 2) hingegen, der Kläger sei zu ihr gekommen. Unabhängig von der Frage, wann der Kläger zu seinem Onkel gegangen sein will, weichen die Angaben von Kläger und Klägerin zu dem Verhalten des Klägers nach der vorgebrachten Bedrohung ausweislich der Niederschriften über die Anhörungen der Kläger vor dem Bundesamt (jeweils S. 4) gravierend voneinander ab, so dass die Annahme einer Widersprüchlichkeit der Aussagen keinesfalls willkürlich ist.
Auf Widersprüche zwischen den Angaben von Kläger und Klägerin hierzu wurde bereits im Bescheid der Beklagten (S. 3 unten) hingewiesen, so dass insoweit auch keine Überraschungsentscheidung des Verwaltungsgerichts vorliegt. Eine solche liegt nur vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen braucht (BVerfG, B.v. 19.5.1992 – 1 BvR 986/91 – BVerfGE 86, 133 = juris Rn. 36; B.v. 31.5.1995 – 2 BvR 736/95 – juris Rn. 27; BVerwG, B.v. 1.2.1999 – 10 B 4.98 – juris Rn. 6; B.v. 26.2.2013 – 4 B 53.12 – juris Rn. 4; B.v. 1.7.2013 – 8 BN 1.13 – juris Rn. 10; B.v. 15.5.2014 – 9 B 57.13 – NVwZ-RR 2014, 657 Rn. 19).
Im Übrigen war die mangelnde Glaubhaftigkeit der Verfolgungsgeschichte des Klägers nicht entscheidungserheblich für die Klageabweisung durch das Verwaltungsgericht. Denn dieses hat unabhängig davon – selbstständig tragend – eine drohende Verfolgung der Kläger auch deshalb verneint, weil den Klägern im Irak eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung steht. Auch gebe es in Bagdad Stadtviertel mit sunnitischer Bevölkerung (UA S. 5 f.).
2. Eine grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) ist nicht ausreichend dargelegt (vgl. § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG), jedenfalls aber liegt sie nicht vor.
Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung setzt voraus, dass eine konkrete, bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert wird, die für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, deren Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und der eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann a.a.O. § 124a Rn. 72).
Bei einer auf tatsächliche Verhältnisse gestützten Grundsatzrüge muss der Rechtsmittelführer Erkenntnisquellen zum Beleg dafür angeben, dass die Feststellungen, Erkenntnisse und Einschätzungen des Verwaltungsgerichts unzutreffend oder zumindest zweifelhaft sind (vgl. OVG NW, B.v. 12.12.2016 – 4 A 2939/15.A – juris m.w.N.).
Die Kläger halten die grundsätzliche Tatsachenfrage für klärungsbedürftig,
„ob eine Gruppenverfolgung von Personen mit Zugehörigkeit zur sunnitischen Glaubensrichtung im Irak stattfindet“.
Unabhängig davon, ob die Kläger tatsächlich eine Gruppenverfolgung aller Personen mit Zugehörigkeit zur sunnitischen Glaubensrichtung im Irak (also auch der kurdischen Sunniten) oder nur der arabischen Sunniten geltend machen, ist diese Frage nicht klärungsbedürftig, sondern bereits durch die Rechtsprechung geklärt. Sie ist – auch wenn sich nach Medienberichten die Verhältnisse im Irak insbesondere durch das Zurückdrängen des sog. „IS“ auch mit Hilfe schiitischer Milizen im Vergleich zur Auskunftslage (Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak des Auswärtigen Amts vom 7.2.2017 und Amnesty International, Amnesty Report 2017 Irak vom 22.2.2017) geändert haben – nach wie vor zu verneinen.
Für die Annahme einer Gruppenverfolgung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 5 AsylG) ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, das daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (vgl. BVerwG, U.v. 31.4.2009 – 10 C 11.08 – AuAs 2009, 173; v. 1.2.2007 – 1 C 24.06 – NVwZ 2007, 590; v. 18.7.2006 – 1 C 15.05 – BVerwGE 126, 243 = BayVBl 2007, 151).
In der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist geklärt, dass die Verfolgungshandlungen, denen der sunnitische Bevölkerungsteil ausgesetzt ist, im Staat Irak die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche kritische Verfolgungsdichte nicht aufweisen (BayVGH, U.v. 9.1.2017 – 13a ZB 16.30740 – juris m.w.N.). Der Umfang der Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter, die an die sunnitische Religionszugehörigkeit anknüpfen, rechtfertigt in der Relation zu der Größe dieser Gruppe nicht die Annahme einer alle Mitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung. Das gilt auch, wenn man nur die Zahl der arabischen Sunniten betrachtet. Die irakische Bevölkerung setzt sich zu 60 bis 65% aus arabischen Schiiten, zu 17 bis 22% aus arabischen Sunniten und zu 15 bis 20% aus (überwiegend sunnitischen) Kurden zusammen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 7.2.2017 S. 7). Bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 36 Millionen Einwohnern (vgl. www.auswaertiges-amt.de – Länderinfos Stand März 2017) würde das bedeuten, dass sechs bis acht Millionen arabische Sunniten im Irak im oben geschilderten Sinn als Gruppe verfolgt würden. Für eine solche Annahme gibt es nicht annähernd ausreichende Hinweise.
Jedenfalls aber legen die Ausführungen in der Zulassungsbegründung der Kläger eine solche Verfolgungsdichte nicht dar (vgl. § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG). Soweit es sich nicht ohnehin um Quellen handelt, die in der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs bereits berücksichtigt wurden, ergibt sich daraus nicht annähernd eine kritische Verfolgungsdichte, wie sie für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlich ist.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
4. Dieser Beschluss, mit dem die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig wird (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG), ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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