Verwaltungsrecht

Heterosexuelle Ehe mit gemeinsamen Kindern – Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft

Aktenzeichen  M 27 K 17.49104

Datum:
13.8.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 33777
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 1, § 3a Abs. 1 Nr. 2,§ 3b Abs. 1 Nr. 4, § 77 Abs. 1 S. 1, § 83 b
RL 2011/95/EU Art. 10 Abs. 1 Buchst. d
VwGO § 67 Abs. 4 S. 4 u. 7,§ 102 Abs. 2, § 113 Abs. 1 S. 1, Abs. 5 S. 1, § 154 Abs. 1
RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Buchst. d

 

Leitsatz

Tenor

I.    Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 19. Oktober 2017 wird in den Ziffern 1 und 3 bis 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. 
II.    Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.    Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Das Gericht konnte über die Klage verhandeln und entscheiden, obwohl nicht alle Beteiligten in der mündlichen Verhandlung anwesend oder vertreten waren. Denn in den ordnungsgemäßen Ladungen ist auf diese Möglichkeit hingewiesen worden (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 13. März 2017 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Dieser hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG.
1. Nach § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG besteht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft dann, wenn sich der Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will und er keine Ausschlusstatbestände erfüllt. Eine Verfolgung i. S. v. § 3 Abs. 1 AsylG liegt nach § 3a AsylG bei Handlungen vor, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1959 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte bestehen, die so gravierend sind, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Als Verfolgung im Sinne des Abs. 1 können unter anderem gemäß § 3a Abs. 2 AsylG die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden oder auch unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung gelten. Dabei muss zwischen den genannten Verfolgungsgründen und den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen gemäß § 3a Abs. 3 AsylG eine Verknüpfung bestehen.
2. Das Gericht ist unter dem Eindruck der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass der Kläger homosexuell ist und deshalb zu einer sozialen Gruppe gehört, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG). Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung seine homosexuelle Orientierung auf Nachfrage des Gerichts hinreichend deutlich machen können. Er hat deshalb eine flüchtlingsrechtlich relevante staatliche Verfolgung in der Form der Gruppenverfolgung zu befürchten.
Homosexuelle bilden in Nigeria eine soziale Gruppe i.S. des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Nach dieser Vorschrift gilt eine Gruppe insbesondere dann als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemeinsam haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird; als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet. Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter. Diese gesetzlichen Vorgaben entsprechen auch dem europäischen Recht, wie es Niederschlag in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der RL 2011/95/EU (im Folgenden: Qualifikationsrichtlinie) gefunden hat.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, U.v. 7.11.2013 – Rs C-199/12) ist Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der RL 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie a.F.) dahin auszulegen, dass das Bestehen strafrechtlicher Bestimmungen, die spezifisch Homosexuelle betreffen, die Feststellung erlaubt, dass diese Personen als eine bestimmte soziale Gruppe anzusehen sind. Zwar stelle allein der Umstand, dass homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, als solcher noch keine Verfolgungshandlung i.S. d. Art. 9 Abs. 1 i.V.m. Art. 9 Abs. 2 Buchst. c der Qualifikationsrichtlinie a.F. (vgl. auch § 3a Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 3 AsylG) dar. Werden hingegen homosexuelle Handlungen mit Freiheitsstrafen bedroht und werden sie im Herkunftsland, das eine entsprechende strafrechtliche Regelung erlassen hat, auch tatsächlich verhängt, so ist dies als unverhältnismäßige diskriminierende Bestrafung zu betrachten und stellt somit eine Verfolgungshandlung dar (EuGH, U.v. 7.11.2013 a.a.O. Rn. 61). Auf die Frage, ob der Betroffene selbst in seinem Heimatland vor dessen Verlassen in Konflikt mit Sicherheitsbehörden und Polizei aufgrund seiner Homosexualität geraten ist bzw. ob eine zielgerichtete Verfolgung gerade seiner Person durch Polizeibehörden stattgefunden habe, kommt es demgegenüber nicht an.
Bei Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft können die zuständigen Behörden ferner nicht erwarten, dass der Schutzsuchende seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden (EuGH, U.v. 7.11.2013 a.a.O. Rn. 71). Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (VGH BW, U.v. 7.3.2013 – A 9 S 1873/12 – juris Rn. 120) bedarf es unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung des EuGH hierbei keiner Gesamtwürdigung der verfolgten Person und seines gesellschaftlichen Lebens und darauf aufbauend einer individuellen Gefahrenprognose. Diese Rechtsprechung des EuGH ist auch bei Auslegung von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der RL 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) anzuwenden.
Ausgehend davon, dass die Homosexualität als eine für die Identität einer Person so bedeutsames Merkmal darstellt, dass sie nicht zu einem Verzicht darauf gezwungen werden sollte, erlaubt ferner das Bestehen strafrechtlicher Bestimmungen in Nigeria, die spezifisch Homosexuelle betreffen (§§ 214 und 217 des nigerianischen Strafgesetzbuchs [Criminal Code], vgl. VGH BW, U.v. 7.3.2013 – A 9 S 1873/12 – juris Rn. 62), die Feststellung, dass diese Personen eine deutlich abgegrenzte Gruppe bilden, die von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Hinzu kommt, dass im Januar 2014 der damalige Präsident Nigerias ein weiteres Gesetz mit dem Namen „Same Sex Marriage (Prohibition) Bill“ unterzeichnet hat. Danach droht Homosexuellen eine Freiheitsstrafe von bis zu vierzehn Jahren, wenn sie einen (verbotenen) Ehevertrag oder eine (verbotene) zivilrechtlich eingetragene gleichgeschlechtliche Partnerschaft eingehen. Personen, die an einer solchen Zeremonie teilnehmen oder sie unterstützen, droht zehn Jahre Haft. Wer öffentlich die Liebesbeziehung zu einem Menschen gleichen Geschlechts „direkt oder indirekt zeigt“, muss mit einer ähnlich hohen Haftstrafe rechnen (vgl. zum Ganzen VG Aachen, U.v. 20.2.2019 – 2 K 1522/17.A – juris Rn. 38 ff. m.w.N).
Hiervon ausgehend droht dem Kläger in Nigeria von staatlicher Seite eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG wegen einer unverhältnismäßigen und diskriminierenden Strafverfolgung durch staatliche Akteure im Sinne der § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 2 und 3, § 3c Nr. 1 AsylG. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 16. Januar 2020 (S. 5, 13) sind homosexuelle Handlungen jeglicher Art unabhängig vom Geschlecht der betroffenen Person nach säkularen Recht strafbar. Strafrechtliche Verfolgungen einvernehmliche homosexuelle Handlungen sind, wenn auch selten, bekannt. Im Januar 2014 habe der frühere Präsident die sogenannte „Same Sex Marriage Bill“ unterzeichnet, wonach um sexuelle Handlungen mit Haftstrafen von bis zu 14 Jahren geahndet werden können. Diese sei bisher von rund 10 Bundesstaaten in ihr landesrechtliches Strafgesetzbuch übernommen worden. Die bloße Mitwisserschaft von Homosexualität sei strafbar, im Ausland eingegangene gleichgeschlechtliche Partnerschaften oder Ehen würden in Nigeria nicht anerkannt. Unterstützer von LGBTI-Organisationen könnten nunmehr mit bis zu 10 Jahren Haft bestraft werden. Im Juli 2017 und im Juli 2018 sei es im Bundesstaat Lagos zu Massenverhaftungen von homosexuellen Männern gekommen. Die Rechtsänderung habe jedoch bisher nicht zu einer flächendeckenden verschärfenden Strafverfolgung geführt. Bisher sei es nach Kenntnis der Botschaft noch nicht zu Verurteilungen nach dem neuen Gesetz gekommen.
Unter Berücksichtigung des gesetzlichen Rahmens und der gerichtlichen Praxis handelt es sich bei der Ahndung homosexueller Handlungen um eine unverhältnismäßige, diskriminierende Strafverfolgung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG. Darüber hinaus besteht aufgrund der Gesetzeslage und unter Berücksichtigung des Verfolgungsschicksals des Klägers auch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Nigeria gesetzlichen, administrativen und justiziellen Maßnahmen ausgesetzt sein wird, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewendet werden im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 2 AsylG. Der Kläger wäre bei einer Rückkehr nach Nigeria gezwungen, seine sexuelle Orientierung zu verheimlichen. Vor diesem Hintergrund ist nicht auszuschließen, dass er seine Homosexualität mehr oder weniger offen lebt und sich zu dieser bekennt und daher der konkreten Gefahr von Verfolgungshandlungen nach § 3a Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 2 und 3 AsylG ausgesetzt wäre.
Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass derzeit für den Kläger eine interne Schutzmöglichkeit i.S. von § 3e Abs. 1 AsylG besteht. Nach der derzeitigen Erkenntnislage ist nicht ersichtlich, dass in größeren Städten oder urbanen Zentren in Nigeria Homosexualität toleriert wird. Dem steht zum einen die bereits oben ausgeführte Rechtslage auch im Hinblick auf Personen, die von homosexuellen Beziehungen Kenntnisse haben, entgegen. Zum anderen lässt sich den Erkenntnisquellen entnehmen, dass hinsichtlich der Verfolgungsgefahr kein signifikanter Unterschied mehr zwischen größeren Städten und dem übrigen Land besteht, wenn eine Homosexualität bekannt wird (VG Aachen, U.v. 20.2.2019 – 2 K 1522/17.A – juris Rn. 65 m.w.N).
3. Aus diesen Gründen war die Beklagte im genannten Umfang zu verpflichten. Über die hilfsweise gestellten Anträge des Klägers auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus und Feststellung von Abschiebungsverboten brauchte in Hinblick auf diesen weitergehenden internationalen Schutzstatus nicht gesondert entschieden werden (vgl. § 2 Abs. 2 AsylG).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83 b AsylG nicht erhoben.


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