Verwaltungsrecht

Hinsichtlich Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfolgreiche Klage syrischer Flüchtlinge aus dem ehemals IS-besetzten Deir-Er-Zor

Aktenzeichen  W 2 K 18.31905

Datum:
26.11.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 36337
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 1, § 3a Abs. 1 Nr. 1
EMRK Art. 3, Art. 15 Abs. 2

 

Leitsatz

Im Fall einer Rückkehr nach Syrien werden die Wiedereinreisenden im Rahmen einer strengen Einreisekontrolle durch verschiedene Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt, wobei die Sicherheitsbeamten auch Einblick in die Computerdatenbanken nehmen, um zu prüfen, ob die Wiedereinreisenden von den Behörden gesucht werden. Die Behörden haben zudem eine „carte blanche“, die sie ermächtigt, bei jedem Verdacht gegen eine Person alles aus ihrer Sicht erforderliche zu tun.  (Rn. 20 – 22) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen. Der Bescheid vom 22. August 2018 (Gz. 7575115-475) wird in Ziffer 2 aufgehoben.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Gemäß § 101 Abs. 2 VwGO kann das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Entsprechende Einverständniserklärungen liegen mit dem Schreiben des Klägerbevollmächtigten vom 30. Oktober 2018 und der allgemeinen Prozesserklärung des Bundesamts für … vom 27. Juni 2017 vor.
Die Klage ist sowohl zulässig, als auch begründet.
Die Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 Abs. 1 AsylG ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
Die Kläger haben einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Sie befinden sich nach Überzeugung des Gerichts aus begründeter Furcht vor Verfolgung durch den syrischen Staat wegen ihrer vermuteten politischen Überzeugung außerhalb Syriens.
Ihnen droht zur Überzeugung des Gerichts auch ohne Vorverfolgung bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch den syrischen Staat. Gem. § 28 Abs. 1a AsylG kann die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat.
Eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG liegt vor, wenn den Klägern bei verständiger (objektiver) Würdigung der gesamten Umstände ihres Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihnen nicht zuzumuten ist, in den Herkunftsstaat zurückzukehren. Die „verständige Würdigung aller Umstände“ hat dabei eine Prognose über die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe zum Inhalt. Im Rahmen dieser Prognose ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es ist maßgebend, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage der Kläger Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne begründete Furcht vor einem Ereignis kann deshalb auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen“ Betrachtungsweise weniger als 50 v.H. Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb dann anzunehmen, wenn bei der im Rahmen der Prognose vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist in dieser Hinsicht damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage der Kläger nach Abwägung aller bekannten Umstände eine (hypothetische) Rückkehr in den Herkunftsstaat als unzumutbar erscheint. Ergeben die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer politischen Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen (vgl. BVerwG, EuGH-Vorlage v. 7.2.2008 – 10 C 33.07 – juris Rn. 37 und zu Art. 16a GG U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – juris Rn. 17).
Nach diesem Maßstab und der Erkenntnislage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ist es zur Überzeugung des Gerichts beachtlich wahrscheinlich, dass den Klägern bei einer Einreise über den Flughafen Damaskus oder eine andere staatliche Kontrollstelle menschenrechtswidrige Maßnahmen drohen, insbesondere Folter als schwerwiegende Verletzung eines grundlegenden Menschenrechts (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG, Art. 15 Abs. 2, Art. 3 EMRK).
Auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof geht in seinen Urteilen vom 12. Dezember 2016 (Az. 21 B 16.30338, 21 B 16.30364, 21 B 16.30372) davon aus, dass im Fall einer Rückkehr nach Syrien die Wiedereinreisenden im Rahmen einer strengen Einreisekontrolle durch verschiedene Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt werden (BayVGH, a.a.O.). Die Sicherheitsbeamten würden dabei auch Einblick in die Computerdatenbanken nehmen, um zu prüfen, ob die Wiedereinreisenden von den Behörden gesucht würden. Es könne davon ausgegangen werden, dass die Sicherheitskräfte eine „carte blanche“ hätten, um zu tun, was immer sie tun wollen, wenn sie jemanden aus irgendeinem Grund verdächtigen würden (vgl. BayVGH, a.a.O., m.w.N.). Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof kommt jedoch zu dem Ergebnis, dass die syrischen Sicherheitskräfte bei zurückkehrenden erfolglosen Asylbewerbern selektiv vorgehen und erst zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmale oder Umstände die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung begründen. Erst dann hätten – so der Bayerische Verwaltungsgerichtshof – die für eine Verfolgungsgefahr sprechenden Gründe größeres Gewicht als die dagegen sprechenden Gründe.
Da im Fall der Kläger signifikante, gefahrerhöhende Umstände im Sinne der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vorliegen, kommt es hier nicht darauf an, ob den aktuellen Erkenntnismitteln eine andere – weitergehende – Risikobewertung zu entnehmen ist.
So geht das erkennende Gericht auf der Grundlage der aktuellen Erkenntnismittel davon aus, die Kläger alleine aufgrund ihrer Herkunft aus dem ehemals ISbesetzten Deir-Er-Zor sowie der nahen Verwandtschaft zu mindestens einem flüchtigen wehrdienstpflichtigem Enkel und einer aus dem Staatsdienst geflohenen Tochter flüchtlingsrechtlich beachtlichen Verfolgungsrisiko bei der Sicherheitsbefragung anlässlich ihrer Einreise ausgesetzt sind.
Amnesty International führt in seiner Auskunft 20. September 2018 an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof im Verfahren § A 638/17. A (S. 2f.) aus:
„Recherchen von Amnesty International seit Beginn der Krise im Jahre 2011 haben ergeben, dass jeder, der als Regierungsgegner angesehen werden könnte, der Gefahr ausgesetzt ist, willkürlich festgehalten zu werden oder Opfer des „Verschwindenlassens“ zu werden und Folter oder anderen Misshandlungen, sowie möglichem Tod in Gewahrsam ausgesetzt zu sein. Wie weit verbreitet das „Verschwindenlassen“ durch syrische Sicherheitskräfte praktiziert wird, hat Amnesty International im Bericht „Between Prison an the Grave: Enforced Disappearances in Syria“ beschrieben. Unter den dokumentierten Fällen befinden sich aus „friedliche Mitglieder der Opposition“, sowie „Menschen, die als illoyal gegenüber der syrischen Regierung gelten“. Dies sind beispielsweise „Zivilisten, die in Nachbarschaften oder Städten leben, in denen bewaffnete oppositionelle Gruppen angesiedelt sind“. […] Insbesondere Menschen, die aus oppositionellen Gebieten stammen, werden von den Behörden unter Generalverdacht gestellt. […].“
In einer weiteren Stellungnahme an das Verwaltungsgericht Magdeburg führt Amnesty konkret zu Deir-Er-Zor aus (Stellungnahme v. 13. September 2018 zum Verfahren 7 A 671/16 MD, S. 4):
„Turke Ali Al-Saleh, ein Verwaltungsbeamter und Buchhalter einer großen Grundschule in Deir al-Zour, wurde am 31.12.2013 verhaftet, als er von einem Gebiet, das von der Opposition kontrolliert wird, in ein Regierungsgebiet reiste. Er fuhr nach Deir al-Zour, um dort seinen Lohn abzuholen. Er war zuvor aus Deir al-Zour geflohen und hatte in Hajin gelebt. Ein entlassener Gefangener berichtete später, dass Al-Saleh von 40 Tagen in Haft an mindestens 30 Tagen gefoltert wurde, und in Folge dessen nicht mehr gehen konnte. Ein anderer entlassener Häftling berichtete seiner Familie, dass Al-Saleh in Haft verstorben sei.Im Bericht ‘Between prison and the grave’: Enforced disappearances in Syria (2015) hat Amnesty International zusätzlich zahlreiche Fälle dokumentiert, in denen Personen an Grenzübergängen und Kontrollpunkten der Regierung oder des Militärs verhaftet wurden. Die betroffenen Personen hatten nach ihrem Wiederauftauchen sichtbare körperliche Merkmale von Folter oder anderen Misshandlungen. Viele Inhaftierte sind bis heute verschwunden.“
In einem FAZ-Bericht zum Entwurf des neuen, noch nicht finalisierten Lageberichts des Auswärtigen Amtes wird zum Aspekt der Sippenhaft ausgeführt:
„Laut RND zeichnet der 28-seitige Lagebericht ein düsteres Bild der Sicherheits- und Menschenrechtslage in Syrien. „Folter macht in Syrien auch vor Kindern nicht halt.“ So seien „zahllose Fälle dokumentiert, bei denen einzelne Familienmitglieder, nicht selten Frauen und Kinder, für vom Regime als feindlich angesehene Aktivitäten anderer Familienmitglieder inhaftiert und gefoltert wurden“.“
Vor dem Hintergrund dieser aktuellen Erkenntnisse erachtet das erkennende Gericht die bisherige Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs für überholt, die Herkunft aus einem von einer oppositionellen Gruppierung beherrschten Gebiet oder die Gefahr der Sippenhaft nicht als flüchtlingsrechtlich relevant zu bewerten. Angesichts der nunmehr vorliegenden Informationen ist das Gericht weiterhin davon überzeugt, dass auch das vergleichsweise hohe Alter der Kläger nicht signifikant gefahrenmindern zu berücksichtigen ist.
Mithin besteht für die Kläger zur Überzeugung des Gerichts eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, im Fall einer Rückkehr in die Arabische Republik Syrien über den Flughafen Damaskus von staatlichen Stellen wegen einer (unterstellten) oppositionellen Gesinnung verfolgt zu werden.
Eine innerstaatliche Fluchtalternative steht den Klägern nicht zur Verfügung, da sie bei einer Einreise über den Flughafen Damaskus keinen (möglicherweise) sicheren Landesteil sicher und legal erreichen können, vgl. § 3e Abs. 1 AsylG.
Die Kläger erfüllen damit die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Ihrer Klage ist stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Gerichtsverfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11 und 711 ZPO.


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