Verwaltungsrecht

Kein Abschiebungsverbot aus Gründen des Familienschutzes

Aktenzeichen  21 B 17.31035

Datum:
8.10.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 26772
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK Art. 8

 

Leitsatz

Inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse sind nicht vom Bundesamt im Asylverfahren, sondern von der Ausländerbehörde im Vollstreckungsverfahren zu berücksichtigen.  (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 10 K 16.31552 2017-03-29 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 29. März 2017 wird hinsichtlich der Kläger zu 1) bis 3) geändert:
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 9. März 2016 wird in den Nrn. 6 und 7 aufgehoben. Im Übrigen werden die Klagen abgewiesen.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
II. Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.
Die Kläger, kosovarische Staatsangehörige, begehren die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten. Die Kläger zu 1) und 2) sind die Eltern der im Jahre 2010 geborenen Klägerin zu 3).
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) lehnte mit Bescheid vom 9. März 2016 die Asylanträge der Kläger und der im Jahr 2012 geborenen Tochter als offensichtlich unbegründet ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4), drohte die Abschiebung in den Kosovo innerhalb einer Woche an (Nr. 5) und befristete ein gem. § 11 Abs. 7 AufenthG angeordnetes Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 10 Monate ab dem Tag der Ausreise (Nr. 6) sowie das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 7).
Hiergegen erhoben die Kläger und die im Jahr 2012 geborene Tochter – im verwaltungsgerichtlichen Verfahren die Klägerin zu 4) – Klage. Mit Beschluss vom 12. Oktober 2016 (M 10 S 16.31553) ordnete das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der gegen den Bescheid vom 9. März 2016 erhobenen Klagen an.
Das Verwaltungsgericht verpflichtete die Beklagte mit Urteil vom 29. März 2017 unter Aufhebung der Nrn. 4 bis 7 des Bescheids festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Kosovo vorliegen und wies die Klagen im Übrigen ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, in der Person der Klägerin zu 4) lägen aus gesundheitlichen Gründen die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor. Auch hinsichtlich der Kläger zu 1) bis 3) lägen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor. Wegen des Schutzes der Familie nach Art. 6 GG sei es nicht möglich, die Familie auseinander zu reißen und teilweise in den Kosovo zurückzuschicken. Die Geschwister bedürften der gemeinsamen elterlichen Sorge und Zuwendung. Der Familienverband im Bundesgebiet sei aufrecht zu erhalten.
Mit der vom Senat zugelassenen Berufung wendet sich die Beklagte gegen dieses Urteil, soweit es die Kläger zu 1) bis 3) betrifft. Hinsichtlich der Klägerin zu 4) im verwaltungsgerichtlichen Verfahren wurde das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig. Die Beklagte macht geltend, dass individualbezogene Anhaltspunkte für das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen bei den Klägern zu 1) bis 3) nicht erkennbar seien und entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse – wie etwa der Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG – keinen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots begründen.
Die Beklagte beantragt,
unter Abänderung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung die Klagen abzuweisen, soweit ihr bezüglich der Kläger zu 1) bis 3) stattgegeben wurde.
Die Kläger haben keinen Antrag gestellt. Sie ließen mitteilen, dass die im Jahre 2012 geborene Tochter sowie eine weitere im Jahre 2016 geborene Tochter Inhaberinnen von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25 Abs. 3 AufenthG seien.
Mit gerichtlichem Schreiben vom 28. Juni 2018 wurden die Beteiligten zu einer Entscheidung nach § 130a VwGO angehört.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen verwiesen.
II.
Die zulässige Berufung der Beklagten hat größtenteils Erfolg.
Der Senat entscheidet nach vorheriger Anhörung der Beteiligten über die Berufung gemäß § 130a VwGO durch Beschluss, weil er sie einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält (§ 130a Satz 2, § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO).
1. Die Berufung ist größtenteils begründet. Die Kläger haben – nach rechtskräftiger Ablehnung des Anspruchs auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes – entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts im Urteil vom 29. März 2017 – keinen Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 S. 1 AufenthG in Bezug auf den Kosovo (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Die in den Nrn. 6 und 7 des Bescheids getroffenen Entscheidungen gem. § 11 Abs. 1 und 7 AufenthG sind hingegen in dem gem. § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt rechtswidrig, so dass deren Aufhebung im Urteil des Verwaltungsgerichts im Ergebnis zutrifft (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Insoweit ist daher die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
1.1 Den Klägern steht der begehrte nationale Abschiebungsschutz (§ 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG) nicht zu. Bei diesen nationalen Abschiebungsverboten handelt es sich – bezogen auf den jeweiligen Abschiebezielstaat – um einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Streitgegenstand (BVerwG, U.v. 24.6.2008 – 10 C 43.07 – juris). Das Verwaltungsgericht hat zu Unrecht ein Abschiebungsverbot für die Kläger zu 1) bis 3) allein aus dem „Schutz der Familie nach Art. 6 GG“ und der Aufrechterhaltung des Familienverbandes im Bundesgebiet hergeleitet, weil es hinsichtlich der im Jahre 2012 geborenen Tochter bzw. Schwester der Kläger aus gesundheitlichen Gründen die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots gem. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bejaht hat. Darüber hinaus wurden weder im verwaltungsgerichtlichen Verfahren noch im Berufungsverfahren sonstige Umstände vorgetragen, aus denen sich nationaler Abschiebungsschutz in der Person der Kläger zu 1) bis 3) ergeben könnte.
1.1.1 Die Kläger haben keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens).
§ 60 Abs. 5 AufenthG verweist auf die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten lediglich insoweit, als sich daraus Abschiebungsverbote ergeben, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen (sog. zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote). Konsequenterweise kann das Bundesamt im verwaltungsgerichtlichen Asylrechtsstreit auch nur im Hinblick auf zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote zur Feststellung verpflichtet werden (vgl. BVerwG, U.v. 11.11.1997 – 9 C 13.96 – BVerwGE 105,322 zur Vorgängervorschrift des § 53 Abs. 4 AuslG). Die Ausländerbehörde bleibt demgegenüber für die Durchführung der Abschiebung und dabei auch für die Entscheidung über alle inlandsbezogenen und sonstigen tatsächlichen Vollstreckungshindernisse zuständig. Zu einem solchen ausschließlich von der Ausländerbehörde zu prüfenden Vollstreckungshindernis zählt auch ein etwaiges Verbot durch Abschiebung eine mit Art. 6 GG nicht vereinbare Trennung von Familienmitgliedern zu bewirken (vgl. BVerwG, B.v. 10.10.2012 – 10 B 39.12 – juris). Der Schutz des Familienlebens im Bundesgebiet nach Art. 8 EMRK begründet deshalb kein Abschiebungsverbot, das im Asylverfahren berücksichtigungsfähig ist. Etwaige durch Art. 8 EMRK geschützte Bindungen der Kläger im Bundesgebiet sind allein von der Ausländerbehörde im aufenthaltsrechtlichen Verfahren zu prüfen (vgl. etwa BVerwG, U.v. 27.6.2006 – 1 C 14.05 – juris; VGH BW, U.v. 13.12.2012 – A 2 S 1995/12 – juris).
1.1.2 Auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Kosovo liegen nicht vor. Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht (§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG). In der Person der Kläger zu 1) bis 3) sind diese tatbestandlichen Voraussetzungen nicht vorgetragen und nicht ersichtlich. Soweit es um die Aufrechterhaltung des Familienverbandes der Kläger zu 1) bis 3) mit den im Jahre 2012 und 2016 geborenen Töchtern geht, die Aufenthaltserlaubnisse gem. § 25 Abs. 3 AufenthG besitzen, berufen sich die Kläger auf ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, weil der Vollzug der Abschiebung die Verletzung eines geschützten Rechtsguts im Bundesgebiet bedeuten könnte. Derartige Vollstreckungshindernisse sind jedoch – wie ausgeführt – nicht vom Bundesamt im Asylverfahren, sondern von der Ausländerbehörde im Vollstreckungsverfahren zu berücksichtigen.
1.2 Die Abschiebungsandrohung in Nr. 5 des Bescheids ist rechtmäßig. Die ursprünglich gesetzte Ausreisefrist von einer Woche (§ 36 Abs. 1 AsylG) endet, nachdem das Verwaltungsgericht den Eilanträgen stattgegeben hat (Beschluss vom 12. Oktober 2016 – M 10 S 16.31553), 30 Tage nach unanfechtbarem Abschluss des Verfahrens (§ 37 Abs. 2 Satz 2 AsylG).
1.3 Soweit sich die Berufung gegen die Aufhebung der Anordnungen in den Nrn. 6 und 7 des Bescheids (Einreise- und Aufenthaltsverbote) durch das Verwaltungsgericht richtet, ist sie unbegründet. Der Bescheid ist insoweit rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die Voraussetzungen des in Nr. 6 des Bescheids angeordneten Einreise – und Aufenthaltsverbots gem. § 11 Abs. 7 AufenthG liegen im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) nicht vor, da die Asylanträge der Kläger wegen der nur einfach unbegründeten Klageabweisung nicht als „offensichtlich unbegründet“ i.S. des § 11 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 AufenthG abgelehnt wurden. Auch wurden im Rahmen der Ermessensentscheidung, die im Rahmen des § 114 VwGO der gerichtlichen Kontrolle unterliegt, wesentliche Erwägungen, wie schutzwürdige Belange der Kläger aufgrund ihrer im Bundesgebiet einen Aufenthaltsstatus (§ 25 Abs. 3 AufenthG) besitzenden Töchter bzw. Schwestern nicht berücksichtigt. An diesem Ermessensfehler leidet auch die Befristungsentscheidung des gesetzlichen Einreise – und Aufenthaltsverbots gem. § 11 Abs. 1 bis 4 AufenthG.
2. Die Kosten beider Instanzen haben die Kläger zu tragen, da die Beklagte nur zu einem geringen Teil unterlegen ist (§ 154 Abs. 1, § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO). Das Verfahren ist gem. § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
3. Die Revision wird nicht zugelassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 vorliegt.


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