Verwaltungsrecht

Kein Abschiebungsverbot nach Afghanistan

Aktenzeichen  M 26a S 20.30506

Datum:
7.8.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 20267
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5, § 123
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, § 71
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht davon aus, dass die allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan nicht derart ist, dass jede Überstellung dorthin notwendig Art. 3 EMRK verletzt. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Lage in Afghanistan ist für männliche arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige ohne Unterhaltsverpflichtungen, auch ohne familiäres oder soziales Netz, weiterhin nicht so ernst, dass eine Abschiebung ohne Weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und deshalb ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzunehmen wäre. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

I.
Der 1998 geborene Antragsteller ist afghanischer Staatsangehöriger vom Volk der Usbeken und muslimisch-sunnitischer Religionszugehörigkeit. Er reiste nach eigenen Angaben am … Februar 2016 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein.
Ein erster Asylantrag vom … August 2016 wurde mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 10. März 2017 abgelehnt, wobei die Abschiebung nach Afghanistan oder in einen anderen aufnahmebereiten Staat angedroht wurde. Die hiergegen erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht München mit Urteil vom 28. März 2019, rechtskräftig seit 2. August 2019, ab (Az. M 6 K 17.35442).
Am 21. Januar 2020 beantragte der Antragsteller die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens. Zur Begründung führte er unter anderem aus, er habe in Deutschland den westlichen Lebensstil, d.h. die Toleranz gegenüber abweichenden religiösen und weltanschaulichen Vorstellungen, kennen- und schätzen gelernt. Er bete nicht regelmäßig, halte sich nicht an Fastenregeln und wolle dazu auch durch niemanden gezwungen werden. Zudem hätten sich die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan weiter verschlechtert. Der Antragsteller sei als junger Mann im wehrfähigen Alter von Zwangsrekrutierung bedroht. Da er längere Zeit im westlichen Ausland gelebt habe, bestehe zunächst schon aufgrund seiner Sprachkenntnisse ein großes Interesse der Taliban daran, ihn zu einer Zusammenarbeit zu motivieren, was im Falle des Antragstellers nur durch Zwang und Ausübung oder Androhung von Gewalt möglich wäre, womit allerdings nach der Erkenntnislage zu rechnen sei. Der Antragsteller habe darüber hinaus eine Knieoperation gehabt und habe seitdem eine Differenz in der Länge des rechten und linken Beines. Wenn er zu lange stehe, bekomme er Rückenschmerzen. Zudem leide er an einer posttraumatischen Belastungsstörung und nehme Psychopharmaka. Es lägen schwere behandlungsbedürftige psychiatrische Erkrankungen vor.
Mit Bescheid vom 27. Januar 2020, per Einschreiben am 30. Januar 2020 zur Post gegeben, lehnte das Bundesamt den Folgeantrag als unzulässig ab (Nr. 1). Der Antrag auf Abänderung des Bescheids vom 10. März 2017 (Az.: 6910360-423) bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 des Aufenthaltsgesetzes – AufenthGwurde ebenfalls abgelehnt (Nr. 2).
Hiergegen ließ der Antragsteller am 14. Februar 2020 Klage erheben. Zugleich begehrt er die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes; er beantragt,
Die Antragsgegnerin wird im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, von einer Mitteilung an die Ausländerbehörde gem. § 71 Abs. 5 AsylG abzusehen.
Das Bundesamt beantragt unter Vorlage der Akten für die Antragsgegnerin,
den Antrag abzulehnen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der Antrag ist im wohlverstandenen Interesse des Antragstellers dahingehend auszulegen, dass er im Hauptantrag die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner bereits erhobenen Anfechtungsklage gegen die Ablehnung seines Folgeantrags als unzulässig begehrt sowie hilfsweise den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zur Sicherung seines Anspruchs auf Feststellung der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG.
Der Hauptantrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig, aber unbegründet. Der Hilfsantrag nach § 123 VwGO ist ebenfalls zulässig, aber unbegründet.
1. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist unbegründet.
Für einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Anfechtungsklage gegen eine Ablehnung eines Folgeantrags (§ 71 AsylG) als unzulässig gilt der Prüfungsmaßstab der „ernstlichen Zweifel“: Denn für Fälle, in denen mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG kein weiteres Asylverfahren durchgeführt wird, hat der Gesetzgeber durch die Regelungen in § 71 Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG kraft einfachen Rechts für das gerichtliche Eilverfahren den Maßstab des Art. 16a Abs. 4 Satz 1 GG bestimmt. Das Verwaltungsgericht darf einstweiligen Rechtsschutz daher nur gewähren, wenn es ernstliche Zweifel daran hat, dass die Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht vorliegen (BVerfG, B. v. 16.3.1999 – 2 BvR 2131/95 – juris Rn. 22). Ernstliche Zweifel liegen dann vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhalten wird (BVerfGE 94, 166, 194).
Vorliegend bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Nummer 1 des streitgegenständlichen Bescheids. Das Bundesamt hat den Folgeantrag zu Recht als unzulässig abgelehnt, weil die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nicht vorliegen (§§ 29 Abs. 1 Nr. 5, 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG):
Gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 VwVfG müssen sich die Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Antragstellers geändert haben (Nr. 1) oder neue Beweismittel vorliegen, die eine für ihn günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden (Nr. 2) oder Wiederaufnahmegründe nach § 580 ZPO bestehen (Nr. 3). § 51 Abs. 1 VwVfG fordert einen schlüssigen Sachvortrag, der nicht von vornherein nach jeder vertretbaren Betrachtung ungeeignet sein darf, zur Asylberechtigung (Art. 16a GG) oder zur Zuerkennung des internationalen Schutzes (§§ 3 ff., 4 AsylG) zu verhelfen. Es genügt schon die Möglichkeit einer günstigeren Entscheidung aufgrund der geltend gemachten Wiederaufnahmegründe (dazu BVerfG, B. v. 3.3.2000 – 2 BvR 39/98 – juris Rn. 32 m.w.N.). Außerdem ist der Antrag gemäß § 51 Abs. 2 und 3 VwVfG nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren geltend zu machen und er den Antrag binnen drei Monaten nach Kenntnis des Grundes für das Wiederaufgreifen gestellt hat.
Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird insoweit zunächst auf die Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamts verwiesen (vgl. § 77 Abs. 2 AsylG). Zusammenfassend bzw. ergänzend ist Folgendes festzustellen:
A. Neue Tatsachen oder Beweismittel, die eine günstigere Entscheidung hinsichtlich des Schutzbegehrens des Antragstellers möglich erscheinen lassen, hat der Antragsteller auch bis zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht vorgelegt.
b) Auch eine Änderung der Sach- und Rechtslage, die eine günstigere Entscheidung möglich erscheinen ließe, wurde nicht schlüssig vorgetragen. Soweit die Bevollmächtigte des Antragstellers auf eine Änderung der allgemeinen Verhältnisse in Afghanistan abhebt, beruft sie sich zur Begründung auf Erkenntnismittel aus den Jahren 2016 bis 2018, die das Verwaltungsgericht bereits in seinem Urteil vom März 2019 über den ersten Asylantrag des Antragstellers berücksichtigt hat und die zum Gegenstand bereits dieses Verfahrens zu machen waren. Der Vortrag, der Antragsteller habe einen westlichen Lebensstil angenommen und wolle sich nach seinem vierjährigen Aufenthalt in Deutschland nicht mehr den rigiden religiösen Verhaltensregeln in seinem Heimatland unterwerfen, erscheint zwar nachvollziehbar. Eine rechtliche Relevanz für den vorliegenden Asylfolgeantrag ergibt sich hieraus indes nicht. Denn es wird aus dem Vortrag nicht ersichtlich, dass der „westlich-freiheitliche“ Lebensstil des Antragstellers und eine ggf. tendenziell areligiöse Grundhaltung die Persönlichkeit des Antragstellers in einer derart tiefgreifenden Weise prägen und bestimmen würde, dass ihm die in seiner Heimat zur Vermeidung einer Verfolgung oder eines ernsthaften Schadens zweifelsohne erforderlichen „Arrangements“ mit den herrschenden gesellschaftlichen und religiösen Traditionen und Erwartungen bei Achtung seiner grundlegenden Menschen- und Freiheitsrechte nicht angesonnen werden dürften.
Auch der Vortrag des Antragstellers, die Taliban oder Milizen neuer und alter Warlords würden unter den Rückkehrern – ggf. zwangsweise – Kämpfer für ihre Partikularinteressen rekrutieren, führt zu keiner anderen rechtlichen Beurteilung. Zwar kommt es in Afghanistan tatsächlich zu Zwangsrekrutierungen, es handelt sich insoweit jedoch um Einzelfälle, die daher beim – nach den Feststellungen des Gerichts im Erstverfahren unverfolgt aus Afghanistan ausgereisten – Antragsteller nicht zu einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung oder unmenschlichen Behandlung führen (vgl. OVG NRW, B.v. 18.8.2016 – 13 A 1642/16.A – abrufbar unter: www.asyl.net; VG Lüneburg, U.v. 6.2.2017 – 3 A 140/16 – juris Rn. 19 m.w.N.; VG Augsburg, U.v. 20.1.2017 – Au 5 K 16.31721 – juris Rn. 39 f.).
Es ist auch zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung unter Berücksichtigung jüngster Erkenntnismittel wie insbesondere den UNHCR-Richtlinien vom 30. August 2018 und den jüngsten Berichten der UNAMA zum Schutz der Zivilbevölkerung im bewaffneten Konflikt vom Februar und Juli 2020 nicht festzustellen, dass sich die allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan seit dem Erstverfahren derart verschlechtert hat, dass von einer neuen Sachlage auszugehen wäre. Insbesondere sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nach wie vor nicht gegeben. Die allgemeine Gefährdungslage in Afghanistan bzw. in der Provinz Kabul, wohin wohl eine Abschiebung erfolgen würde und wohin der Antragsteller mangels familiärer Bindungen in Afghanistan wohl zurückkehren würde, erreicht auch unter Zugrundelegung der aktuellen Erkenntnismittel keine Intensität, aufgrund der bereits ohne das Vorliegen individueller gefahrerhöhender Umstände von der Erfüllung des Tatbestands des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG auszugehen wäre. Das Risiko, dort durch Anschläge Schaden an Leib oder Leben zu erleiden, ist nach den von der Rechtsprechung hierfür angelegten Maßstäben unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BayVGH, U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31918 – juris Rn. 14 ff.; BayVGH, B.v. 29.4.2019 – 13a ZB 19.31492 – juris Rn. 6 ff).
In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist geklärt, unter welchen Voraussetzungen eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG) besteht und dass es für die Feststellung der erforderlichen Gefahrendichte einer wertenden Gesamtbetrachtung auf der Grundlage einer quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos bedarf (vgl. BayVGH, U.v. 17.1.2017 – 13a ZB 16.30182 – juris Rn. 4 ff. m.w.N.). Eine Individualisierung der allgemeinen Gefahr kann auch dann, wenn individuelle gefahrerhöhende Umstände in der Person des Betroffenen fehlen, ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist somit ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich (BayVGH, U.v. 17.1.2017 a.a.O. Rn. 5 m.w.N.). Zur Ermittlung der für die Annahme einer erheblichen individuellen Gefahr ausreichenden Gefahrendichte ist dabei aufgrund aktueller Quellen die Gesamtzahl der in der Herkunftsprovinz lebenden Zivilpersonen annäherungsweise zu ermitteln und dazu die Häufigkeit von Akten willkürlicher Gewalt sowie der Zahl der dabei Verletzten und Getöteten in Beziehung zu setzen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist dabei ein Risiko von ca. 1:800 oder 0,125%, in der Herkunftsprovinz verletzt oder getötet zu werden, so weit von der Schwelle der für den subsidiären Schutz beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt, dass sich das Fehlen einer wertenden Gesamtbetrachtung neben der rein quantitativen Ermittlung nicht auszuwirken vermag (BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – juris Rn. 22 f.).
An diesen, in der höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung gefestigten Maßstäben gemessen, ist für den Antragsteller nicht davon auszugehen, dass die für die Feststellung einer individuellen Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts erforderliche Gefahrendichte auch nur möglicherweise annähernd erreicht wäre:
Zwar ist die Sicherheitslage anhaltend besorgniserregend und dauern die Kämpfe, die zahlreiche Opfer auch in der Zivilbevölkerung fordern, weiter an. Eine wesentliche Verschlechterung der Sicherheitslage gegenüber dem Erstverfahren kann aber nach den soeben dargelegten Maßstäben nicht festgestellt werden. Die im UNAMA-Jahresbericht 2019 vom 22. Februar 2020 (UNAMA, Afghanistan Annual Report on Protection of Civilians in Armed Conflict: 2019) ausgewiesenen zivilen Opferzahlen für das Jahr 2019 sind im Vergleich zum Vorjahr 2018 um 5 v.H. zurückgegangen und befinden sich auf dem niedrigsten Stand seit 2013. Bei einer Gesamtzahl konfliktbedingter ziviler Opfer im Jahr 2019 von 10.392 (3.403 Todesopfer; 6.989 Verletzte) und einer zugunsten der Antragsteller konservativ geschätzten Einwohnerzahl Afghanistans von nur etwa 27 Mio. Menschen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 2.9.2019, S. 20; die National Statistics and Information Authority Afghanistan – NSIA – geht für 2019/20 sogar von 32,2 Mio. Einwohnern Afghanistans aus) ergibt sich hieraus ein konfliktbedingtes Schädigungsrisiko von 1:2.598. Auch wenn man die Provinz Kabul zugrunde legt, für die UNAMA im Jahr 2019 die höchste absolute Zahl an zivilen Opfern registriert hat (1.563 zivile Opfer; UNAMA, S. 94), ergibt sich bei einer geschätzten Bevölkerungszahl der Provinz von 5.029.850 Menschen (BFA, Länderinformationsblatt Afghanistan, Gesamtaktualisierung v. 13.11.2019, S. 36) ein Schädigungsrisiko von1:3.218. Wenngleich ab Mai dieses Jahres von offizieller Seite über eine erneute Zunahme von Kampfhandlungen und Anschlägen im Vergleich zum ersten Quartal 2020 berichtet wird, registrierte die UNAMA im ersten Halbjahr 2020 landesweit 3458 zivile Opfer aufgrund der gewaltsamen Auseinandersetzungen, was einen Rückgang gegenüber dem Vorjahr um rund 13% bedeutet und der niedrigste Wert seit 2012 ist. Für die Provinz Kabul wurden 338 zivile Opfer gezählt, so dass sich hochgerechnet auf das gesamte Jahr ein Schädigungs- und Verletzungsrisiko von 0,014% ergibt. Diese Werte sind derart weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt, dass auch bei wertender Gesamtbetrachtung nicht von einer in Afghanistan oder Teilen hiervon aufgrund der Sicherheitslage jeder Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit tatsächlich drohenden Gefahr ausgegangen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – NVwZ 2012, 454 – juris Rn. 22 f. zu einem Schädigungsrisiko von 1:800). Ein sich in diesem Bereich bewegender Gefahrengrad vermag auch unter Berücksichtigung einer etwaigen Dunkelziffer bzw. Untererfassung der zivilen Opfer noch nicht die Annahme einer Situation außergewöhnlicher allgemeiner Gewalt zu begründen (vgl. HessVGH, U.v. 27.9.2019 – 7 A 1923/14.A – juris Rn. 117 m.w.N.; NdsOVG, U.v. 29.1.2019 – 9 LB 93/18 – juris Rn. 63).
Dass die UNAMA-Daten zu zivilen Konfliktopfern nicht hinreichend valide bzw. belastbar sein könnten, ist von Seiten des Antragstellers weder substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich. Insoweit ist klarzustellen, dass das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, B.v. 25.4.2018 – 2 BvR 2435/17 – NVwZ 2018, 1563 – juris Rn. 35) nicht etwa selbst im Hinblick auf die Belastbarkeit und Validität der UNAMA-Daten grundlegende allgemeine Bedenken erhoben hat, sondern lediglich ausgeführt hat, dass von dritter Seite – etwa vom Schweizerischen Bundesverwaltungsgericht – derartige Bedenken erhoben würden; zudem sind diese Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts im Kontext der gesteigerten Anforderungen an eine offensichtlich unbegründete Klage im Sinn des § 78 Abs. 1 AsylG erfolgt.
Auch die Vorlagen des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg an den Europäischen Gerichtshof zu § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG (VGH BW, B.v. 29.11.2019 – A 11 S 2374/19 und A 11 S 2375/19 – juris) führen zu keiner anderen Bewertung der konfliktbedingten Gefahrendichte in Afghanistan. Die Vorlagebeschlüsse beziehen sich bereits ausdrücklich auf solche Kläger, die aus der Provinz Nangarhar stammen und denen nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg deshalb kein interner Schutz nach § 3e AsylG zur Verfügung steht, weil es sich nicht um „erwachsene leistungsfähige Männer“, sondern um „Personen mit erhöhter Vulnerabilität“ handele; den vorgelegten Fällen lag ein alleinerziehender Witwer und verheirateter Kläger mit fünf Kindern zugrunde (a.a.O., juris Rn. 5, 13 ff. und 21 ff.). Der hiesige Antragsteller hingegen stammt nicht aus dieser Provinz und gehört zur Gruppe der volljährigen, alleinstehenden und arbeitsfähigen afghanischen Staatsangehörigen (siehe zum Gesundheitszustand bzw. zur Erwerbsfähigkeit des Antragstellers die nachfolgenden Ausführungen zu § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG). Unabhängig davon ist das Gericht der Auffassung, dass selbst dann, wenn man bei der Ermittlung der Gefahrendichte den vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg angedachten Bewertungsmaßstab einer „umfassenden Beurteilung auch anderer gefahrbegründender Umstände“ heranziehen wollte und dabei nicht auf eine (nach dem Verständnis des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg in der deutschen Rechtsordnung angenommene) „quantitative Mindestschwelle“ abstellen wollte, gemessen an den vorliegenden Erkenntnismitteln im Ergebnis unverändert davon auszugehen wäre, dass in Afghanistan und in der Provinz Kabul im Allgemeinen derzeit weiterhin keine hinreichende Gefahrendichte gegeben ist. Denn im Rahmen einer solchen umfassenden Beurteilung aller gefahrbegründenden Umstände würde sich letztlich durchgreifend auswirken, dass sich das konfliktbedingte Schädigungsrisiko mit 1:2.598 deutlich unter 1:800 und damit auf einem nicht hinreichend hohen Niveau befindet. Zudem erschließt sich dem Gericht auch nicht, welche entscheidende Relevanz der Lebenssituation der Binnenvertriebenen und Rückkehrer bei der Ermittlung der konfliktbedingten Gefahrendichte zukommen sollte (vgl. zum Ganzen: BayVGH, B.v. 17.1.2020 – 13a ZB 20.30107 – juris Rn. 14 f.).
Im Übrigen geht auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte davon aus, dass die allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan nicht derart ist, dass jede Überstellung dorthin notwendig Art. 3 EMRK verletzt (vgl. EGMR, U.v. 11.7.2017 – S.M.A./Netherlands, Nr. 46051/13 – Rn. 53; U.v. 11.7.2017 – Soleimankheel and others/Netherlands, Nr. 41509/12 – Rn. 51; U.v. 11.7.2017 – G.R.S./Netherlands, Nr. 77691/11 – Rn. 39; U.v. 11.7.2017 – E.K./Netherlands, Nr. 72586/11 – Rn. 67; U.v. 11.7.2017 – E.P. and A.R./Netherlands, Nr. 63104/11 – Rn. 80; U.v. 16.5.2017 – M.M./Netherlands, Nr. 15993/09 – Rn. 120; U.v. 12.1.2016 – A.G.R./Niederlande, Nr. 13442/08 – NVwZ 2017, 293 – Rn. 59). Insoweit hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 9. April 2013 (H. and B./United Kingdom, Nr. 70073/10 – Rn. 92 f.) festgestellt, dass es in Afghanistan keine allgemeine Gewaltsituation gibt, die zur Folge hätte, dass allein wegen der Abschiebung einer Person dorthin tatsächlich die Gefahr von Misshandlungen gegeben sei. In den vorgenannten Urteilen hat er angesichts der ihm mittlerweile vorliegenden Informationen an dieser Einschätzung festgehalten (vgl. zum Ganzen: BayVGH, B.v. 20.2.2018 – 13a ZB 17.31970 – juris Rn. 10).
Das Bestehen individueller, gefahrerhöhender Umstände, die eine Gefährdung im o.g. Sinne dennoch begründen könnten, ergibt sich für den Antragsteller nach dessen Vorbringen nicht. Auf obige Ausführungen wird Bezug genommen.
2. Der Antrag nach § 123 VwGO ist zulässig als (hilfsweiser) Antrag auf vorläufigen Rechtschutz zur Sicherung eines Anspruchs des Antragstellers auf Feststellung der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG.
Der Antrag ist aber unbegründet. Der Antragsteller hat einen zu sichernden materiellen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 ZPO).
Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG liegen nicht vor. Anhaltspunkte dafür, dass die Abschiebung des Antragstellers nach der Europäischen Menschenrechtskonvention unzulässig ist bzw. für den Antragsteller in Afghanistan eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht, sind nicht ersichtlich.
2.1. Die allgemeine Versorgungslage in Afghanistan stellt keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i. S. d. Art. 3 EMRK dar.
Zwar können schlechte humanitäre Bedingungen eine auf eine Bevölkerungsgruppe bezogene Gefahrenlage darstellen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führt. Eine Verletzung des Art. 3 EMRK aufgrund humanitärer Verhältnisse kommt jedoch nur in außergewöhnlichen Fällen in Betracht, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind (BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – juris). Der Gerichtshof der Europäischen Union stellt in seiner neueren Rechtsprechung zu Art. 4 GRCh darauf ab, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 89 ff.; U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris).
Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung ist die Lage in Afghanistan für männliche arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige ohne Unterhaltsverpflichtungen, auch ohne familiäres oder soziales Netz, weiterhin nicht so ernst, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und deshalb ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzunehmen wäre (BayVGH, U.v. 6.7.2020 – 13a B 18.32817 – juris; U.v. 28.11.2019 – 13a B 19.33361 – juris; U.v. 14.11.2019 – 13a B 19.31153, 13a B 19.33508 und 13a B 19.33359 – juris; VGH BW, U.v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17- juris; VGH BW, U.v. 11.4.2018 – A 11 S 924/17 – juris Rn. 336). In Übereinstimmung mit dieser Rechtsprechung geht das Gericht weiterhin davon aus, dass ein alleinstehender und arbeitsfähiger Mann regelmäßig auch ohne nennenswertes Vermögen im Fall einer zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland Afghanistan in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten etwa in seiner Heimatregion oder in Kabul ein kleines Einkommen zu erzielen und damit wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten. Trotz großer Schwierigkeiten bestehen grundsätzlich auch für Rückkehrer durchaus Perspektiven im Hinblick auf die Sicherung des Lebensunterhalts, insbesondere Rückkehrer aus dem Westen sind auf dem Arbeitsmarkt allein aufgrund ihrer Sprachkenntnisse in einer vergleichsweise guten Position. Auf ein stützendes Netzwerk in Afghanistan oder einen vorherigen Aufenthalt im Heimatland kommt es hierbei nicht an; ausreichend ist vielmehr, dass eine hinreichende Verständigung in einer der afghanischen Landessprachen möglich ist (siehe zum Ganzen: BayVGH, U.v. 28.11.2019 – 13a B 19.33361 – juris; U.v. 14.11.2019 – 13a B 19.31153, 13a B 19.33508 und 13a B 19.33359 – juris; U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31918 – juris Rn. 14, 22; B.v. 20.2.2018 – 13a ZB 17.31970 – juris Rn. 6 m.w.N.; B.v. 29.11.2017 – 13a ZB 17.31251 – juris Rn. 6; B.v. 19.6.2017 – 13a ZB 17.30400 – juris Rn. 13; B.v. 4.1.2017 – 13a ZB 16.30600 – juris Rn. 4; U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris).
Hieran hält das Gericht auch unter Berücksichtigung der aktuellsten Erkenntnismittel fest und folgt den diesbezüglichen Ausführungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs im Urteil vom 6. Juli 2020 (a.a.O.). Trotz der sich aus den neueren Erkenntnismitteln ergebenden besorgniserregenden humanitären Situation liegen keine Erkenntnisse vor, die hinreichend verlässlich den Schluss zuließen, dass jeder alleinstehende, arbeitsfähige männliche Rückkehrer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Afghanistan eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung zu erwarten hätte; die hohen Anforderungen aus Art. 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK sind daher weiterhin nicht erfüllt. Zudem liegen Erkenntnisse dahingehend, dass gerade auch leistungsfähige erwachsene männliche Rückkehrer in Afghanistan in großer Zahl oder sogar typischerweise von Obdachlosigkeit, Hunger, Krankheit betroffen oder infolge solcher Umstände gar verstorben wären, trotz hoher Rückkehrzahlen nicht vor (vgl. zum Ganzen bereits BayVGH, U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31918 – juris Rn. 32).
Dies gilt auch unter Berücksichtigung der aktuellen Entwicklung durch die Corona-Pandemie (vgl. VG Freiburg U.v. 19.5.2020 – A 8 K 9604/17 – beckonli-ne BeckRS 2020, 12454 Rn. 35f.).
Für den Antragsteller besteht weiterhin die Möglichkeit, sein Existenzminimum zumindest auf niedrigem Niveau zu sichern. Zwar sind in Afghanistan derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt (Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Kurzinformation der Staatendokumentation, COVID-19 Afghanistan; Stand 29.6.2020 – Milo). Dem Lockdown Folge zu leisten, „social distancing“ zu betreiben und zu Hause zu bleiben sei für viele aber keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können. Die Einschränkungen zur Bekämpfung der Pandemie seien weiterhin in Kraft, werden Berichten zufolge aber nicht konsequent umgesetzt (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Gruppe 62 – Informationszentrum Asyl und Migration, Briefing Notes vom 6. Und 27. Juli 2020). Zwischenzeitlich können beispielsweise die Bewohner von Kabul wieder ihrer Erwerbstätigkeit nachgehen (OCHA, Afghanistan – Brief No. 48 COVID-19, 28 May 2020, S. 3; OCHA, Afghanistan – Brief No. 55 COVID-19, 21 June 2020, S. 3f; BAMF, Briefing Notes Gruppe 62, 15. Juni 2020, S. 1; EASO Special Report: Asylum Trends and Covid-19, June 2020, S. 11). In den meisten Städten haben Geschäfte und Restaurants geöffnet (OCHA, Afghanistan – Strategic Situation Report: COVID-19, No. 65 (26 July 2020), S. 2). Nach einer dreimonatigen Pause und nach der Wiederaufnahme internationaler Flugverbindungen wurden nun auch Inlandsflugverbindungen wieder aufgenommen (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Gruppe 62 – Informationszentrum Asyl und Migration, Briefing Notes vom 27. Juli 2020).
Nach den Briefing Notes vom 27. Juli 2020 (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Gruppe 62 – Informationszentrum Asyl und Migration) ist davon auszugehen, dass der Höhepunkt der Pandemie noch nicht erreicht ist und die Zahl der bestätigten COVID-19-Fälle in den kommenden Wochen weiter ansteigen wird.
Die in Afghanistan tätigen Hilfsorganisationen können weiterhin ihrer Tätigkeit nachgehen (z.B. OCHA, Afghanistan – Strategic Situation Report: COVID-19, No. 65 (26 July 2020) S. 2; OCHA, Afghanistan, C-19 Access Impediment Report, covering period from 7 to 25 April 2020). Neben Hilfe bei der Bewältigung der Corona-Pandemie leisten sie auch humanitäre Hilfe für Rückkehrer (OCHA, Afghanistan – Brief No. 55 COVID-19, 21 June 2020, S. 2). Daneben ist eine Kultur der Großzügigkeit, des Freiwilligendienstes und der Fürsorge innerhalb der Gemeinschaft wieder zum Vorschein gekommen. Landesweit verzichten viele Vermieter auf die Miete, Schneider verteilen tausend selbstgemachte Gesichtsmasken, Sportler liefern Lebensmittel an Krankenhäuser und Familien in Not (Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Kurzinformation der Staatendokumentation – COVID 19 Afghanistan; Stand: 2.4.2020, S. 1f).
Eine durch die Corona-Pandemie drastische Verschärfung der Versorgungslage mit Nahrungsmitteln ist derzeit nicht feststellbar. Nahrungsmittel sind auf nahezu allen Märkten erhältlich (IPC, Afghanistan – Acute Food Insecurity Analysis April 2020 – November 2020, May 2020, S. 3, allgemein abrufbar unter https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-ipc-acute-food-insecurity-analysis-april-2020-november-2020-issued, Abruf am 7.8.2020). Allerdings wird in humanitären Geberkreisen von einer Armutsrate von 80% ausgegangen, und auch die Weltbank prognostiziert einen weiteren Anstieg ihrer Rate von 55% aus dem Jahr 2016, da das Wirtschaftswachstum durch die hohen Geburtenraten absorbiert wird und bedingt durch die Covid-19-Krise mit einer wirtschaftlichen Rezession zu rechnen ist (-8%; AA, Lagebericht vom 16.7.2020, Stand Juni 2020). UN-OCHA erwartet, dass 2020 bis zu 14 Millionen Menschen (2019: 6,3 Mio. Menschen) auf humanitäre Hilfe (u. a. mit Unterkunft, Nahrung, sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung) angewiesen sein werden (Lagebericht vom 16.7.2020, a.a.O.). Die Organisation OXFAM berichtet, dass mehr als 1/3 der Bevölkerung Afghanistans von Ernährungsunsicherheit betroffen sei. Von diesen seien fast 4 Millionen Menschen nur einen Schritt von der Hungersnot entfernt (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Gruppe 62 – Informationszentrum Asyl und Migration, Briefing Notes vom 6. Juli 2020 und vom 13. Juli 2020). Denn die Preise für Lebensmittel sind um durchschnittlich 10% – 20% gestiegen, während das Einkommen der Haushalte Corona bedingt wegen eingeschränkter Erwerbsmöglichkeiten gesunken ist, wobei Einwohner ländlicher Gebiete nicht so stark betroffen sind, da sie im Gegensatz zur städtischen Bevölkerung die Möglichkeit der Selbstversorgung haben (IPC, Afghanistan – Acute Food Insecurity Analysis April 2020 – November 2020, May 2020, S. 3, allgemein abrufbar unter https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-ipc-acute-food-insecurity-analysis-april-2020-november-2020-issued, Abruf am 7.8.2020; ACCORD, Afghanistan – COVID 19, 5. Juni 2020, S. 4). Es konnte aber erreicht werden, dass die Grenzübergänge in den Iran, nach Pakistan, Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan für den Güterverkehr weiterhin geöffnet sind (OCHA, Afghanistan – Strategic Situation Report: COVID-19, No. 65 (26 July 2020), S. 2). Kasachstan, der Hauptlieferant Afghanistans mit Weizen, hat seine Exportbeschränkungen inzwischen aufgehoben (IPC, Afghanistan – Acute Food Insecurity Analysis April 2020- November 2020, May 2020, S. 2). Lokale Führer profilieren sich zudem, in dem sie u.a. gegen Preistreiberei vorgehen. Auch hat eine Reihe von Religionsgelehrten und afghanische Bürger/innen die Geschäftswelt und die Händler aufgefordert, von Preistreiberei und Hamstern Abstand zu nehmen (Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Kurzinformation der Staatendokumentation – COVID-19 Afghanistan; Stand: 2.4.2020, S. 2). Wenngleich für den städtischen Bereich noch eine weitere Steigerung der Anzahl von Nahrungsmittelunsicherheit betroffener Personen erwartet wird, wird insgesamt nach der Ernte mit einer Verbesserung der Nahrungsmittelversorgung gerechnet (IPC, Afghanistan – Acute Food Insecurity Analysis April 2020- November 2020, May 2020, S. 3, a.a.O.).
Hiervon ausgehend kann trotz der schwierigen wirtschaftlichen Lage erwartet werden, dass der Antragsteller als leistungsfähiger junger Mann ohne Unterhaltsverpflichtungen in der Lage sein wird, durch eigene Erwerbsarbeit sein Existenzminimum zu sichern. Bei den Ausgangsbeschränkungen und wirtschaftlichen Einschränkungen wegen der Corona-Pandemie handelt es sich um ein temporäres Phänomen. Sie wurden zwischenzeitlich teilweise wieder aufgehoben bzw. gelockert, so dass die Aussicht besteht, dass sich die Erwerbsmöglichkeiten alsbald wieder verbessern. Der Antragsteller verfügt über eine grundlegende Schulbildung, womit er im Vergleich zu den noch immer vielen Analphabeten im Vorteil ist, sowie über Sprachkenntnisse und berufliche Erfahrungen als Elektriker. Als Rückkehrer kann er zudem von verschiedenen Rückkehrhilfen profitieren (z.B. im Rahmen der Programme Assisted Voluntary Return, REAG/GARP- und des ERRIN-Programms, vgl. auch Lagebericht vom 16.7.2020, S. 24), die neben finanziellen Hilfen zudem entweder für einen begrenzten Zeitraum selbst eine Unterkunft bereitstellen oder bei der Suche nach einer Unterkunft behilflich sind.
Dafür, dass der Antragsteller in der Arbeitsfähigkeit eingeschränkt wäre, ist auch vor dem Hintergrund der dem Verwaltungsgericht im Erstverfahren vorgelegten ärztlichen Unterlagen nichts ersichtlich, und neue ärztliche Unterlagen hat der Antragsteller auch bis zur gerichtlichen Entscheidung nicht vorgelegt. Soweit der Antragsteller geltend macht, an einer behandlungsbedürftigen psychiatrischen Erkrankung zu leiden, wurde dies durch keinerlei ärztliche Unterlagen belegt. Die ärztlicherseits festgestellten Folgen der stattgehabten Knieoperation wurden vom Erstgericht im Urteil vom März 2019 bereits umfassend gewürdigt: Der Antragsteller hat das Ausmaß seiner Bewegungseinschränkungen weder substantiiert dargelegt noch mit Hilfe ärztlicher Atteste weiter belegt. Die Angabe, „er habe Schmerzen und könne nicht schnell laufen“ ist zu unkonkret, um daraus Rückschlüsse auf seine Belastungsfähigkeit im Arbeitsalltag ziehen zu können. Unklar ist ebenfalls, ob die vom Antragsteller vorgetragenen Schmerzen dauerhaft oder vorübergehender Natur sind. Die Angaben des Antragstellers führen auch nicht dazu, dass das Gericht im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht weitere Beweiserhebungen oder Nachforschungen anstellen müsste. Es gehört zum Pflichtenkreis des Antragstellers, in Erfüllung seiner Mitwirkungspflichten gem. § 25 AsylG, dem Bundesamt und dem Gericht alle Informationen und Stellungnahmen zukommen zu lassen, die für die Entscheidung über seinen Asylantrag relevant sein könnten (zur Glaubhaftmachung von Erkrankungen vgl. auch § 60a Abs. 2c AufenthG, der auf die Beurteilung von erkrankungsbedingten Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG trotz fehlenden ausdrücklichen Verweises im Wesentlichen übertragbar sein dürfte, s. BayVGH, U.v. 6.7.2020, a.a.O., juris Rn. 72). Den von der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers mit Schreiben vom 29. April 2019 eingereichten Operationsberichten vom … Dezember 2017, … Januar 2018 und … Januar 2018 lässt sich keine Aussage dazu entnehmen, ob und inwieweit der Antragsteller gegenwärtig in seiner Bewegungs- oder Belastungsfähigkeit des linken Beines eingeschränkt ist. Aus den Operationsberichten ergibt sich lediglich, dass der Antragsteller wegen einer wachstumsbedingten Fehlstellung der Kniegelenke am linken Knie operiert wurde, sich bei der Operation allerdings eine postoperative Wundheilungsstörung mit einem infizierten Hämatom einstellte. Der Bericht vom … Januar 2018 gibt als klinischen Befund lediglich eine „reizlose Narbe ohne Schwellung oder Überwärmung oder Sekretion“ an. Die antibiotische Behandlung solle nach drei Tagen eingestellt und binnen einer Woche eine weitere Verlaufskontrolle erfolgen. Hinweise auf die vom Antragsteller angegebenen Bewegungseinschränkungen sind in den übermittelten Arztberichten nicht genannt.
Hiervon ausgehend sind daher aktuell keine relevanten Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit des Antragstellers substantiiert vorgetragen oder ersichtlich.
2.2. Auch ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist im Fall des Antragstellers nicht festzustellen.
Im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die einen Ausländer im Zielstaat erwarten – insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage – kann Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise beansprucht werden, wenn der Ausländer bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Die Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Der erforderliche hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Dies bedeutet nicht, dass im Fall der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 29.9.2011 – 10 C 23.10 – NVwZ 2012, 244 – juris Rn. 21 f.; B.v. 14.11.2007 – 10 B 47.07 u.a. – juris Rn. 3; vgl. BayVGH, U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31918 – juris Rn. 40 m.w.N; VGH BW, U.v. 26.6.2019 – A 11 S 2108/18 – juris Rn. 131 ff.; OVG NW, U.v. 18.6.2019 – 13 A 3930/18 – juris Rn. 313 ff.; NdsOVG, U.v. 29.1.2019 – 9 LB 93/18 – juris Rn. 188 ff.).
Unter Berücksichtigung obiger Grundsätze und der aktuellen Erkenntnismittel sind die Voraussetzungen aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Fall des Antragstellers nicht gegeben. Insoweit wird auf die vorstehenden Ausführungen zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK verwiesen. Insbesondere sind hinsichtlich allgemeiner Gefahren im Zielstaat die Anforderungen in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (eine mit hoher Wahrscheinlichkeit drohende Extremgefahr) höher als jene in § 60 Abs. 5 AufenthG (BVerwG, B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 13), so dass im Lichte des Nichtvorliegens eines Abschiebungsverbots aus Art. 60 Abs. 5 AufenthG erst recht die Voraussetzungen aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung nicht gegeben sind (vgl. BayVGH, U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31918 – juris Rn. 41 m.w.N.).
Es besteht auch kein Abschiebungsverbot aus gesundheitlichen Gründen. Wie bereits dargelegt wurde das Vorliegen einer psychischen Erkrankung lediglich unsubstantiiert behauptet, aber nicht mittels fachärztlichen Attests glaubhaft gemacht. Auch vor dem Hintergrund der sich auch in Afghanistan ausbreitenden Corona-Pandemie ist nichts dafür ersichtlich, dass der Antragsteller als internistisch gesunder, ca. 22-jähriger junger Mann bei einer Rückkehr nach Afghanistan so schwer an dem Virus erkranken könnte, dass er, auch aufgrund mangelhafter medizinischer Versorgung, in eine existenzielle Gesundheitsgefahr geraten könnte (vgl. dazu OVG NRW, B.v. 30.12.2004 – 13 A 1250/04.A – juris Rn. 56). Dass den Antragsteller ein besonderes Risiko trifft, bei einer Infektion mit dem neuartigen Coronavirus schwer zu erkranken, ist weder dargelegt noch sonst ersichtlich. Bei jungen Menschen ohne relevante Vorerkrankungen geht eine derartige Infektion zumeist nur mit leichten Symptomen einher, die von selbst ausheilen. Schwere Verläufe sind in dieser Personengruppe eher selten (vgl. Steckbrief des RKI, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html, abgerufen am 7.8.2020). Von den 1259 bis zum 26. Juli 2020 in Afghanistan nachweislich mit oder an COVID-19 Verstorbenen war die Mehrheit zwischen 40 und 69 Jahre alt (OCHA, Strategic Situation Report No. 65 v. 26.7.2020). Es ist daher nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Antragsteller schwerwiegend oder gar lebensbedrohlich erkranken würde.
3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.


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