Verwaltungsrecht

Kein allgemeines Abschiebeverbot im Hinblick auf Afghanistan

Aktenzeichen  Au 5 K 16.32008

Datum:
23.1.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 101498
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
VwGO § 113 Abs. 5

 

Leitsatz

1 Für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende, männliche arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige in Afghanistan ist nicht von einer extremen Gefahrenlage auszugehen, die zu einem Abschiebungsverbot in entsprechender Anwendung von § 60 Abs. 7 AufenthG führt (ebenso BayVGH BeckRS 2014, 48575). (redaktioneller Leitsatz)
2 Nur für besonders schutzwürdige Rückkehrer wie Alte oder behandlungsbedürftig kranke Personen, alleinstehende Frauen mit und ohne Kinder, Familien und Personen, die aufgrund persönlicher Merkmale zusätzlicher Diskriminierung unterliegen, lässt sich in Afghanistan eine extreme Gefahrenlage iSv § 60 Abs. 7 AufenthG begründen. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Das Gericht konnte im vorliegenden Fall über die Klage des Klägers entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung am 23. Januar 2017 teilgenommen hat. Auf den Umstand, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, wurden die Beteiligten bei der Ladung ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Die zulässige Klage ist in der Sache nicht begründet.
Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebeverbotes nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der mit der Klage angegriffene Bescheid des Bundesamtes vom 16. September 2016 ist auch hinsichtlich der Ausreiseaufforderung, der Abschiebungsandrohung und der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots rechtmäßig und nicht geeignet, den Kläger in seinen Rechten zu verletzen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Es wird insoweit in vollem Umfang auf die Gründe des angefochtenen Bescheids Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
Das Gericht vermag kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Falle des Klägers zu erkennen.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sie aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. In Fällen, in denen gleichzeitig über die Gewährung unionsrechtlichen und nationalen Abschiebungsschutzes zu entscheiden ist, scheidet bei Verneinung der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG regelmäßig aus denselben tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK aus (vgl. BVerwG, U. v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris).
Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt nicht vor. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG sind die Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde anordnen, dass die Abschiebung für längstens sechs Monate ausgesetzt wird. Eine solche Abschiebestoppanordnung besteht für die Personengruppe, der der Kläger angehört, nicht.
Auch ist das Gericht der Auffassung, dass die allgemeine Gefahr in Afghanistan sich für den Kläger nicht derart zu einer extremen Gefahr verdichtet hat, dass eine entsprechende Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG geboten ist. Die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung hierfür aufgestellten Voraussetzungen sind nicht erfüllt (vgl. BayVGH, B. v. 11.12.2013 – 13A ZB 13.30119 u. a. – juris; VGH Baden-Württemberg, U. v. 27.4.2012 – A 11 S 3079/11 – juris). Wann allgemeine Gefahren von Verfassungswegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab und entzieht sich einer reinen quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssten jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Dies setzt voraus, dass der Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Rückkehr in sein Heimatland in eine lebensgefährliche Situation gerät, aus der er sich weder allein noch mit erreichbarer Hilfe anderer befreien kann. So besteht eine extreme Gefahrenlage dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen und sicheren Hungertod nach erfolgter Abschiebung ausgeliefert werden würde (vgl. BVerwG, U. v. 29.6.2010 – 10 C 10.09 – BVerwGE 137, 226).
In Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (z. B. B. v. 19.2.2014 – 13A ZB 14.30022 – juris) geht das Gericht davon aus, dass derzeit für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende, männliche arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige, zu denen auch der Kläger zu rechnen ist, in Afghanistan nicht von einer extremen Gefahrenlage auszugehen ist, die zu einem Abschiebungsverbot in entsprechender Anwendung von § 60 Abs. 7 AufenthG führt. Da die Familienangehörigen des Klägers – seine Ehefrau und die drei minderjährigen Kinder – in der Bundesrepublik Deutschland über ein Bleiberecht verfügen, ist im maßgeblichen Zeitpunkt auf die Rückkehr des Klägers als Einzelperson außerhalb seines Familienverbundes abzustellen. Insoweit droht dem Kläger keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben wegen der allgemeinen Versorgungslage in Afghanistan. Zwar gestaltet sich die allgemeine Versorgungslage nach wie vor schwierig. Trotz dieser kritischen Versorgungslage muss nicht jeder Rückkehrer aus Europa generell im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit den Tod oder schwerste Gesundheitsschäden bei einer Rückführung erleiden. In der Gesamtschau der ins Verfahren eingeführten aktuellen Auskünfte ist nicht davon auszugehen, dass jeder Rückkehrer aus Europa generell in unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit den Tod oder schwerste Gesundheitsschäden bei einer Rückführung nach Kabul erleiden müsste (vgl. BayVGH, U. v. 20.1.2012 – 13A B 11.30425 – juris Rn. 32 ff.). Nur für besonders schutzwürdige Rückkehrer wie Alte oder behandlungsbedürftig kranke Personen, alleinstehende Frauen mit und ohne Kinder, Familien und Personen, die aufgrund persönlicher Merkmale zusätzlicher Diskriminierung unterliegen, lässt sich eine extreme Gefahrenlage begründen. Für junge und arbeitsfähige Männer ohne erhebliche gesundheitliche Einschränkungen, besteht die Möglichkeit, sich eine neue Existenz in Kabul oder einer anderen größeren Stadt aufzubauen (st. Rspr.. des BayVGH, beispielsweise U. v. 15.3.2012 – 13a B 11.30439 – juris Rn. 25). Für die Zumutbarkeit einer Rückkehr spricht beim Kläger zudem, dass es diesem anscheinend auch über Jahre gelungen ist, im Iran, dessen Staatsangehörigkeit der Kläger nicht besitzt, trotz fehlender Berufsausbildung eine Existenz für sich und seine Familie aufzubauen, die der Kläger selbst als durchschnittlich bezeichnet. Auch war es dem Kläger im Iran anscheinend möglich, nicht unerhebliche Ersparnisse zu erwirtschaften. Warum ihm dies in Afghanistan nicht erneut gelingen sollte, erschließt sich dem Gericht nicht. Auch ist es nicht ausgeschlossen, dass der Kläger mit Geldmitteln seiner im Iran lebenden Verwandten unterstützt werden kann.
Der Kläger ist volljährig und leidet, soweit ersichtlich, nicht unter gesundheitlichen Einschränkungen.
Es ist daher davon auszugehen, dass der Kläger sein Existenzminimum bei einer Rückkehr nach Afghanistan durchaus sichern kann. Im Übrigen verweist das Gericht auf mögliche Rückkehr- und Starthilfen für freiwillige Rückkehrer nach Afghanistan nach dem REAG/GARP-Programm. Darüber hinaus werden Leistungen nach dem Reintegrationsprogramm „ERIN“ gewährt (vgl. Auskünfte der Regierung von Schwaben vom 17. August 2016 und des Bundesamtes vom 12. August 2016 an das Verwaltungsgericht Augsburg).
Auch steht der langjährige Aufenthalt des Klägers im Iran einer Einschätzung einer zumutbaren Rückkehr nach Afghanistan nicht entgegen. Schließlich hat der Kläger den größten Teil seines Lebens in einer islamisch geprägten Umgebung verbracht (vgl. BayVGH, B. v. 30.9.2015 – 13A ZB 15.30063 – juris; zuletzt B. v. 14.12.2016 – 13a ZB 16.30139 -, nicht veröffentlicht). Zudem spricht der Kläger die Landessprache Dari bzw. zumindest das der Landessprache ähnliche Farsi, weshalb es nicht maßgeblich darauf ankommt, ob der Kläger speziell mit den afghanischen Verhältnissen vertraut ist (vgl. BayVGH, B. v. 19.2.2014 – 13A ZB 14.30022 – juris).
Dass der Kläger Teil einer Familie mit drei minderjährigen Kindern ist, vermag an diesem Ergebnis nichts zu ändern. Die übrigen Familienangehörigen des Klägers verfügen – soweit ersichtlich – in der Bundesrepublik Deutschland über ein Bleiberecht. Damit ist nicht von einer Rückkehr des Klägers im Familienverbund nach Afghanistan auszugehen, was eine andere rechtliche Wertung nahegelegt hätte. Sollte sich die Familie gleichwohl dazu entscheiden, mit dem Kläger zurück nach Afghanistan bzw. Kabul zurückzukehren, um die Familieneinheit zu wahren, handelt es sich um eine freiwillige Rückkehr, die zu keiner anderen Beurteilung der Gefahrenprognose mit Blick auf den Kläger führen kann.
Damit liegt aber mit der Wahrung der Familieneinheit (Art. 6 Grundgesetz – GG) ein sog. inlandsbezogenes Abschiebungshindernis vor, dessen Prüfung allein der Ausländerbehörde obliegt und somit bei der Beurteilung des zielstaatbezogenen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG von vornherein keine Berücksichtigung findet.
Das von der Beklagten verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot auf der Grundlage des § 11 Abs. 1 AufenthG begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Nach Ansicht des Gerichts ist die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate angemessen (§ 11 Abs. 2 AufenthG). Die Befristung hält sich innerhalb des von § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eröffneten gesetzlichen Rahmens von bis zu fünf Jahren. Das nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eröffnete Ermessen wurde erkannt und ermessensfehlerfrei ausgeübt.
Damit war die Klage insgesamt als unbegründet abzuweisen. Sie war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Als im Verfahren unterlegen hat der Kläger die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO.


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