Verwaltungsrecht

Kein Anspruch auf abgeleiteten Familienflüchtlingsschutz

Aktenzeichen  AN 15 K 20.30153

Datum:
8.7.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 19469
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 26 Abs. 1, Abs. 5

 

Leitsatz

1. Unverzüglich, dh ohne schuldhaftes Zögern, erfolgt die Stellung eines Asylantrags in der Regel, wenn sie innerhalb von zwei Wochen nach Einreise vorgenommen wird.(Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
Ohne besonderen Anlass besteht für die Ausländerbehörde von Amts wegen keine Beratungsplicht zu den Möglichkeiten des § 26 AsylG.  (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.             
2. Die Klägerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.                     
Insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Das Gericht konnte in der mündlichen Verhandlung am 7. Juli 2021 über die Klage verhandeln und hierauf gestützt eine Entscheidung treffen, obwohl kein Beklagtenvertreter anwesend war. Denn in der form- und fristgerecht erfolgten Ladung der Beklagten zum Termin der mündlichen Verhandlung war der Hinweis nach § 102 Abs. 2 VwGO enthalten.
Die zulässige Klage in Form einer Versagungsgegenklage ist unbegründet, denn im maßgeblichen Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) steht der Klägerin kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu; der streitgegenständliche Bescheid vom 11. Februar 2020 erweist sich in seiner Ziffer 2. als rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
1. Der Klägerin steht kein Anspruch auf abgeleiteten Familienflüchtlingsschutz gemäß § 26 Abs. 1 u. Abs. 5 AsylG von ihrem in Deutschland als Flüchtling anerkannten Ehemann zu.
a) Nach dieser Vorschrift werden Ehegatten oder Lebenspartner eines international Schutzberechtigten (Stammberechtigter) auf Antrag als international schutzberechtigt anerkannt, wenn 1. die Anerkennung des Stammberechtigten unanfechtbar ist, 2. die Ehe oder Lebenspartnerschaft schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Stammberechtigte politisch verfolgt wird, 3. sie vor der Anerkennung des Stammberechtigten eingereist sind oder sie den Antrag auf internationalen Schutz unverzüglich nach ihrer Einreise gestellt haben und 4. die Anerkennung des Stammberechtigten nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist.
Im vorliegenden Fall fehlt es am Tatbestandsmerkmal der unverzüglichen Antragstellung nach Einreise, was sich insoweit als notwendig erweist, da die Klägerin nicht zusammen mit ihrem stammberechtigten Ehemann nach Deutschland eingereist ist, sondern erst nach ihm. Die Einreise der Klägerin ins Bundesgebiet erfolgt am 18. März 2016, die erstmalige Äußerung eines Asylgesuchs in Form der Stellung eines Asylantrages auf schriftlichem Wege am 28. August 2019 (Posteingangsstempel des Bundesamtes).
„Unverzüglich“ im Sinne der Vorschrift des § 26 Abs. 1 und 3 AsylG ist ein Asylantrag/Antrag auf internationalen Schutz dann gestellt, wenn er ohne schuldhaftes Zögern (§ 121 BGB) erfolgt (vgl. Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht 13. Aufl. 2020, AsylG § 26 Rn. 9; Günther, in: BeckOK AuslR, 28. Ed. 1.1.2021, AsylG § 26 Rn. 12). In Konkretisierung dieses Tatbestandsmerkmales durch das Bundesverwaltungsgericht erfolgt die Antragstellung in der Regel ohne schuldhaftes Zögern, wenn sie innerhalb von zwei Wochen nach Einreise vorgenommen wird (BVerwG, U.v. 13.05.1997 – 9 C 35/96 – NVwZ 1997, 1137). Wird die Frist überschritten, müssen besondere Umstände dies rechtfertigen (BVerwG, a.a.O.). Soweit die Einreise des Antragstellenden zum Zwecke der Familienzusammenführung mit einem Visum der Beklagten erfolgt ist, wird im Zusammenhang mit der Beurteilung des Vorliegens besonderer Umstände vertreten, dass die Frist der unverzüglichen Antragstellung nach Ablauf von zwei Wochen auch noch gewahrt ist, wenn diese jedenfalls innerhalb der Geltungsdauer des erteilten Visums erfolgt bzw. der mit einem nationalen Visum einreisende Angehörige zunächst bei der Ausländerbehörde die Verlängerung des Aufenthaltstitels auf Grundlage von § 30 AufenthG beantragt und erst nach erfolgter Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis von mehr als sechs Monaten den Familienasylantrag stellt (Blechinger, in: BeckOK MigR, 7. Ed. 1.10.2019, AsylG § 26 Rn. 40). „Unverzüglich“ heiße in diesem Sinne nicht nur „möglichst schnell“, sondern auch „sachgemäß“. Sachgemäß sei es aber, dass ein rechtsunkundiger Asylsuchender mit einem Rechtsanwalt Kontakt aufnimmt, um sich von ihm beraten zu lassen (HessVGH, B.v. 24.6.2003 – 10 UE 843/03.A – juris). Wie lange das Zögern mit einer Antragstellung dauern darf, bevor es schuldhaft wird, hänge grundsätzlich von einer Würdigung der besonderen Verhältnisse im konkreten Fall ab (Blechinger, in: BeckOK MigR, 7. Ed. 1.10.2019, AsylG § 26 Rn. 38). Eine Hinweis- und Beratungspflicht der Ausländerbehörden gegenüber dem zum Zwecke des Familiennachzugs eingereisten Antragsteller ohne dessen Erkundigung bezüglich der Möglichkeiten des § 26 AsylG bestehe indes nicht (vgl. BayVGH, B.v. 17.01.2019 – 20 ZB 18.32762 – BeckRS 2019, 1675).
Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist weder aus der Behördenakte erkennbar noch substantiiert vorgetragen, dass die Klägerin ihren Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes in Ableitung von ihrem Ehemann unverzüglich gestellt hat. Ohne Belang ist in diesem Zusammenhang, dass die Klägerin von den Möglichkeiten der Asylantragstellung als Familienflüchtlingsschutz nichts gewusst haben wollte, denn es entspricht ihrer Obliegenheit, sich umfassend über die rechtlichen Möglichkeiten der Festigung ihres Bleiberechts in Deutschland zu informieren, wobei ihr zugestanden werden muss, sich des Rats eines Rechtskundigen, d.h. eines Rechtsanwalts zu bedienen. Die Klägerin hat vorgetragen, die Familienzusammenführung sei durch ihren Ehemann organisiert worden, der sich dabei selbst der Beratungshilfe durch einen kirchlichen Hilfekreis bedient habe. Dabei sei aber die Möglichkeit einer Asylantragstellung für die Klägerin nicht thematisiert worden. Dieser Vortrag lässt nicht erkennen, ob der Ehemann der Klägerin bzw. die Klägerin selbst durch den Hilfekreis umfassend aber ggf. unvollständig oder gar rechtlich falsch beraten wurden oder ob ihnen von dort nahegelegt wurde, einen Rechtsanwalt oder die Ausländerbehörde für eine umfassende Beratung der Möglichkeiten der Festigung des Bleiberechts der Klägerin in Deutschland zu kontaktieren. Die Thematik Asylantrag gewann für die Klägerin vielmehr erstmals dann an Bedeutung, als die Möglichkeiten des Familiennachzugs für ihre im Irak lebende Mutter ausgeschöpft waren und daran scheiterten, dass der Klägerin selbst kein dreijähriges Aufenthaltsrecht, sondern nur ein Aufenthaltstitel mit Gültigkeit für jeweils ein Jahr zukam. Erst dann begann die Klägerin näher zu recherchieren, wie ein solches dreijähriges Aufenthaltsrecht zu erlangen sei bzw. beschäftigte sie sich mit den Aussagen des Generalkonsulats der Beklagten in … Dass aber ein Asylantrag erst dann gestellt wird, wenn dies für den betreffenden Ausländer, der sich bereits seit Längerem im Bundesgebiet aufhält, in irgendeiner Weise bedeutsam wird, führt nicht dazu, dass allein darin besondere Umstände für die Rechtfertigung einer nicht „unverzüglichen“ Antragstellung vorliegen.
Solche besonderen Umstände erkennt das Gericht auch nicht darin, dass die Tochter der Klägerin bereits bei Einreise in das Bundesgebiet an einer schweren Erkrankung litt, die in der weiteren Folge ab Mitte des Jahres 2017 auch zu einer stationären Behandlung der Tochter führte. Zwar mag der Umstand, dass der Klägerin im Bundesgebiet ggf. erstmals eine deutlich bessere und intensivere medizinische Behandlung für ihre Tochter zur Verfügung stand als dies im Herkunftsland der Fall gewesen sein mag, dafür sprechen, dass nicht sogleich die Frage der Festigung des eigenen Aufenthaltsrechts im gedanklichen Vordergrund stand, zumal der Klägerin zugegebenermaßen durch das Visum der Beklagten zum Zwecke der Familienzusammenführung und der Erteilung eines befristeten Aufenthaltstitels ein (vorläufiges) Bleiberecht im Bundesgebiet vermittelt wurde. Die Klägerin hat aber auch bekundet, dass die stationäre Behandlung ihrer Tochter erst gut eineinviertel Jahre nach ihrer Einreise in das Bundesgebiet stattfand und dass auch vorwiegend ihr Ehemann die gemeinsame Tochter zu den Arztbesuchen begleitete. Selbst wenn also demnach die medizinische Versorgung der Tochter bei der Klägerin gedanklich vorgreiflich nach ihrer Einreise ins Bundesgebiet gewesen sein mag, sind keine Anhaltspunkte vorgetragen worden, die es rechtfertigen, sich um die eigene Situation eines Bleiberechts, die ja überdies auch die gemeinsamen Kinder der Klägerin und ihres Ehemannes betraf, nicht wenigstens durch das Einholen von Informationen innerhalb einer überschaubaren Zeitspanne nach Einreise gekümmert zu haben. Als überschaubare Zeitspanne kann dabei ohne das Hinzutreten besonderer körperlicher oder geistiger Einschränkungen beim Antragsteller, die einen Schluss auf eine besonders hohe Hilfsbedürftigkeit für die Bewältigung von Alltagsangelegenheiten, auch unter Berücksichtigung einer Sprachbarriere und des neuen Umfeldes, nahelegen, mit dem Ablauf der Geltungsdauer des erteilten Visums zum Zwecke der Familienzusammenführung angesehen werden, weil dies regelmäßig ein Tätigwerden des Antragstellers in ausländerrechtlicher Hinsicht erfordert. Eine andere Sichtweise würde nach Überzeugung des Gerichts dazu führen, dass die besonderen Umstände, die für eine Rechtfertigung einer nicht „unverzüglich“ erfolgten Asylantragstellung streiten können, in dem Sinne nicht mehr besonders, sondern vielmehr beliebig werden würden. Im Falle der Klägerin ist zu berücksichtigen, dass sie einerseits bei der Bewältigung von Alltagsangelegenheiten durch ihren Ehemann unterstützt wurde und die Klägerin nach dem Eindruck des Gerichts, den es von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat, keine besonders hohe Hilfsbedürftigkeit aufweist. Auch hat der Ehemann sich seinerseits der beratenden Hilfe einer kirchlichen Institution bedient. Es hätte daher nahegelegen, bei dem kirchlichen Hilfskreis um weitere Informationen, wie es nach der Einreise der Klägerin ins Bundesgebiet in rechtlicher Hinsicht weitergehen könnte, nachzusuchen. Zum anderen stellte die Klägerin ihren Asylantrag deutlich nach Ablauf des ihr erteilten Visums der Beklagten (vgl. Bl. 140 d. BAMF-Akte), so dass sie zwischenzeitlich die Ausländerbehörde kontaktiert haben musste bzw. hatte, weil die Klägerin im Besitz eines durch die Ausländerbehörde der Stadt …erteilten Aufenthaltstitels ist (vgl. Bl. 3 d. BAMF-Akte). Auch insoweit hat die Klägerin nichts vorgetragen, ob bzw. dass sie sich dort näher informiert hatte. Eine Beratungspflicht der Ausländerbehörde gegenüber der Klägerin zu den Möglichkeiten des § 26 AsylG bestand von Amts wegen in Übereinstimmung mit der dazu ergangenen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs nicht anlasslos.
Die in zeitlich deutlicher Hinsicht spät erfolgte Asylantragstellung der Klägerin nach ihrer Einreise ins Bundesgebiet, nämlich erst gut dreieinhalb Jahre später, ist daher vor dem Hintergrund der Einzelfallumstände und unter Herausstellung der gesetzgeberischen Intention, eine zügige Entscheidung über Asylangelegenheiten eines Familienverbandes herbeiführen zu können (vgl. Günther, in: BeckOK AuslR, 29. Ed. 1.4.2021, AsylG § 26 Rn. 2), weder unverzüglich erfolgt noch durch besondere Umstände ausnahmsweise gerechtfertigt.
b) Schließlich vermag auch der im Klageschriftsatz vom 20. Februar 2020 aufgeführte Hinweis, dass der Klägerin im Gleichklang mit ihren Kindern der abgeleitete Familienflüchtlingsschutz zuzuerkennen sei, der Klage nicht zum Erfolg zu verhelfen. Die Voraussetzungen des abgeleiteten Flüchtlingsschutzes für Ehegatten eines anerkannt Schutzberechtigten einerseits (§ 26 Abs. 1 AsylG) und für die minderjährigen, ledigen Kinder dieses Berechtigten andererseits (§ 26 Abs. 2 AsylG) unterscheiden sich gerade im Erfordernis einer unverzüglichen Antragstellung. Eine „Kettenableitung“ des Flüchtlingsschutzes der Klägerin von der Zuerkennung desselben für ihre Kinder scheidet von Rechts wegen aus (vgl. BayVGH, U.v. 26.4.2018 – 20 B 18.30332, BeckRS 2018, 11849 m.w.N.).
Die Klage ist, soweit sie sich auf § 26 AsylG stützt, im Ergebnis unbegründet.
2. Der Klägerin steht auch kein originärer Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG zu.
a) Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
Gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG gelten Handlungen als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Nach § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG kann als eine solche Verfolgung insbesondere die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt gelten. Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, sind gemäß § 3c AsylG der Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2) und nichtstaatliche Akteure, sofern die in den Nr. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3).
Zwischen den genannten Verfolgungsgründen und den genannten Verfolgungshandlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG), wobei es unerheblich ist, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG). Erforderlich ist ein gezielter Eingriff, wobei die Zielgerichtetheit sich nicht nur auf die durch die Handlung bewirkte Rechtsgutsverletzung selbst bezieht, sondern auch auf die Verfolgungsgründe, an die die Handlung anknüpfen muss. Maßgebend ist im Sinne einer objektiven Gerichtetheit die Zielrichtung, die der Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt (vgl. OVG NRW, U.v. 22.3.2021 – 14 A 3439/18.A, juris).
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12, juris Rn. 19; OVG NRW, U.v. 21.2.2017 – 14 A 2316/16.A, juris Rn. 20).
Beim Flüchtlingsschutz gilt für die Verfolgungsprognose ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal „… aus der begründeten Furcht vor Verfolgung …“ des Art. 2 d) der RL 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie – QRL) enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 der EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“). Dies entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, U.v. 1.3.2012 – 10 C 7.11, juris Rn. 12, zur Vorgängerrichtlinie).
Das gilt unabhängig von der Frage, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Die Privilegierung des Vorverfolgten erfolgt durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL, nicht durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Nach dieser Vorschrift besteht eine tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Verfolgungshandlungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgungshandlungen entkräften (BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10, juris Rn. 21 f.).
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab erfordert die Prüfung, ob bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12, a.a.O. Rn. 32; BayVGH, Endurteil v. 12.3.2019 – 8 B 18.30252, BeckRS 2019, 3411 Rn. 22).
Es ist Sache des Schutzsuchenden, von sich aus unter Angabe von Einzelheiten den der Prognose zugrunde zu legenden, aus seiner Sicht die Verfolgungsgefahr begründenden Lebenssachverhalt möglichst lückenlos und widerspruchsfrei zu schildern (§ 25 Abs. 1 AsylG; vgl. auch ständige Rspr. – etwa: BayVGH, U.v. 19.04.2021 – 11 B 19.30575, BeckRS 2021, 12506 Rn. 23).
b) Nach Maßgabe dieser Grundsätze droht der Klägerin angesichts des ihr mit Bescheid vom 11. Februar 2020 zuerkannten subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) und des hieraus resultierenden Abschiebungsverbots (§ 60 Abs. 2 AufenthG) im Falle einer hier nur hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr nach Syrien nach Überzeugung des Gerichts dort nicht beachtlich wahrscheinlich Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG.
aa) Die Klägerin ist nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Umstände, aus denen sich eine bereits erlittene oder im Zeitpunkt der Ausreise unmittelbar drohende Verfolgung durch den syrischen Staat oder sonstige Akteure im Sinne des § 3c Nr. 2 und 3 AsylG ergäbe, liegen nicht vor. Die Klägerin hat in ihrer Anhörung vor dem Bundesamt bekundet, sie habe das Land wegen des Krieges und der unsicheren Situation und wegen der Krankheit der Tochter verlassen. In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin diesen Vortrag dahingehend präzisiert, dass die Tochter kontinuierliche medizinische Versorgung und Bluttransfusionen benötigt habe, diese Versorgung aber wegen der aufkeimenden Kämpfe in ihrer Region nicht gewährleistet gewesen sei. Eine gezielte Verfolgungshandlung gegenüber der Klägerin ergibt sich aus diesem Vortrag nicht. Vielmehr hat die Beklagte im streitgegenständlichen Bescheid zutreffend den Vortrag der KIägerin in ihrer Anhörung dahingehend gewürdigt, dass die Klägerin und ihre Familie das Land aus allgemeiner Furcht vor dem Krieg verlassen habe, was unter Beachtung der Erkenntnisse zur Situation im Herkunftsland die Zuerkennung subsidiären Schutzes rechtfertige, nicht aber die Flüchtlingszuerkennung. Dasselbe gilt für den Vortrag der Klägerin, die Kinder hätten nicht zur Schule gehen und kein sicheres Leben führen können. Auch dieser Umstand war der allgemein schlechten Sicherheitslage im Herkunftsland der Klägerin geschuldet. Überdies hat die Klägerin angegeben, in ihrem Herkunftsort nicht politisch aktiv gewesen zu sein und keine Probleme mit den Sicherheitsbehörden in Syrien gehabt zu haben.
bb) Eine begründete Furcht vor Verfolgung ergibt sich auch nicht aus Ereignissen, die eingetreten sind, nachdem die Klägerin Syrien verlassen hat (sog. Nachfluchtgründe, § 28 Abs. 1a AsylG).
Weder eine möglicherweise illegale Ausreise der Klägerin, noch die Asylantragstellung oder ein längerer Auslandsaufenthalt begründen die Annahme, dass die Klägerin bei einer (hypothetischen) Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG droht. Unter Berücksichtigung der derzeitigen Erkenntnislage sieht das Gericht keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass der syrische Staat jedem Asylbewerber eine oppositionelle Haltung zuschreibt (dazu: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich [BFA], Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien – aus dem COI-SMS, Version 3, gen. am 30.6.2021, S. 99 ff.; EASO, Syria Situation of returnees from abroad, CoI-Information report, June 2021, S. 18 f. u. 27 ff.; so auch: OVG NRW, U.v. 13.3.2020 – 14 A 27778/17.A, juris Rn. 35 u. U.v. 1.8.2018 – 14 A 628/18.A, juris Rn. 42; VGH Baden-Württemberg, U.v. 4.5.2021 – A 4 S 469/21, juris Rn. 28; Hess. VGH, U.v. 25.8.2020 – 8 A 780/17.A, juris Rn. 24; OVG Saarland, U.v. 26.4.2020 – 1 A 543/17, juris; OVG Rheinland-Pfalz, U.v. 16.12.2016 – 1 A 10922/16, juris Rn. 37 ff.; BayVGH, U.v. 22.6.2018 – 21 B 18.30852, juris Rn. 35; Nieders. OVG, U.v. 22.4.2021 – 2 LB 147/18, juris Rn. 41 ff.). Willkürliche Gewalt und Festnahmen bei Rückkehrern sind zwar nach der Erkenntnismittellage belegt, jedoch fehlt es an einem hinreichenden Datenmaterial, um den Schluss zu ziehen, jeder Rückkehrer werde als regierungsfeindliche Person betrachtet und unterschiedslos dem syrischen Sicherheitsapparat zugeführt. Soweit die dokumentierten Fälle von Festnahmen und Verschwindenlassen von Rückkehrern belegen, dass Personen mit gefahrerhöhenden Aspekten, etwa das öffentlichkeitswirksame Engagement gegen das Assad-Regime (EASO, a.a.O. S. 28), in den Fokus der syrischen Sicherheitsorgane geraten können, lassen die als bekannt dokumentierten gefahrerhöhenden Aspekte ebenfalls keinen Schluss zu, die Gewalthandlungen des syrischen Staates erfolgten aufgrund einer Zuschreibung eines asylerheblichen Merkmals. Wer aus welchem Grund und auch zu welcher Zeit (insbesondere können Personen auch noch dann in den Fokus der Sicherheitsbehörden geraten, wenn sie zunächst ohne Probleme wieder einreisen konnten) den syrischen Sicherheitsbehörden verdächtig erscheint, ist vielmehr überwiegend als reine Willkürakte zu sehen, soweit nicht etwa ein exponiertes politisches Verhalten des Betroffenen in der Vergangenheit den Schluss nahelegt, die Person sei gerade wegen ihrer andersartigen politischen Meinung verdächtig.
Dem Auswärtigen Amt sind Fälle bekannt, in denen syrische Flüchtlinge nach Anerkennung in Deutschland für mehrere Monate nach Syrien zurückgekehrt sind. Kenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten Syrern bei Rückkehr in ihren Heimatstaat liegen nicht vor. Ebenso liegen keine Erkenntnisse vor, dass diese Gruppe allein aufgrund eines vorangegangenen Auslandsaufenthaltes Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt ist (vgl. Auswärtiges Amt, Auskünfte vom 2. Januar 2017 an VG Düsseldorf und vom 7. November 2016 an OVG Schleswig-Holstein; vgl. hierzu auch OVG NRW, Urteil vom 7. Februar 2018 – 14 A 2390/16.A -, juris Rn. 38).
Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass von den rund 22 Millionen vor Ausbruch des Kriegs in Syrien lebenden Menschen bis Ende 2016 bereits 5,5 Millionen und bis Ende 2019 rund 6,6 Millionen und mithin mehr als ein Viertel der Gesamtbevölkerung aus dem Land geflohen waren (vgl. EZKS, Auskunft vom 29. März 2017 an VG Gelsenkirchen; UNHCR, „Global Trends Forced Displacement in 2019“, 18. Juni 2020, abrufbar unter www.unhcr.org/globaltrends2019), sowie unter Berücksichtigung der nicht geringen Zahl freiwilliger Rückkehrer aus dem Ausland. So sollen in der Zeit von Januar bis Juli 2017 rund 42.000 Personen aus der Türkei, dem Libanon, Jordanien und dem Irak sowie im Jahr 2018 insgesamt 56.000 Flüchtende nach Syrien zurückgekehrt sein. Andere Berichte gehen davon aus, dass Hunderttausende von Flüchtlingen jedes Jahr nach Syrien reisen, meistens um nach ihrem Hab und Gut zu schauen, Dokumente einzuholen oder zu erneuern oder um Familienmitgliedern und Freunden lebenswichtige Hilfe zu geben, bevor sie wieder in benachbarte Länder einreisen. Nach Angaben des UNHCR sind seit 2015 über 275.000 syrische Flüchtlinge aus den angrenzenden Nachbarländern (überwiegend aus der Türkei) nach Syrien zurückgekehrt. Auch wenn es sich hierbei überwiegend um Rückreisen aus Nachbarländern Syriens auf dem Landweg ohne Kontrolle durch syrische Sicherheitskräfte gehandelt haben mag, so ist diese beträchtliche Zahl von Rückkehrern doch ein Indiz dafür, dass allein die illegale Ausreise keine beachtliche Verfolgungsgefahr begründet (vgl. VGH Baden-Württemberg, U.v. 4.5.2021 – A 4 S 469/21, juris Rn. 29; OVG NRW, U.v. 7.2.2018 – 14 A 2390/16.A, juris Rn. 38; Hamb. OVG, U.v. 11.1.2018 – 1 Bf 81/17.A, juris Rn. 56 m.w.N.; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien vom 18. Dezember 2020, S. 94).
Dafür spricht auch, dass Rückkehrern aus dem Libanon überwiegend die Wiedereinreise gestattet wird. Flüchtende, die aus dem Libanon nach Syrien zurückkehren möchten, müssen diese Absicht bei den lokalen Sicherheitsbehörden melden, die den Antrag sodann an syrische Behörden weiterleiten. Die Anzahl der Personen, denen die Rückkehr nicht gestattet wird, wird von verschiedenen Quellen mit lediglich 5% bis 30% angegeben (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien vom 18. Dezember 2020, S. 95).
Doch abgesehen von der vorgenannten Einschätzung würde selbst die Annahme, Rückkehrer wären der Gefahr ausgesetzt, gefoltert oder unmenschlich bzw. erniedrigend behandelt zu werden, um mögliches Wissen über die Exilszene abzuschöpfen, nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer individuellen politischen Verfolgung begründen. Denn die allgemeine, jeder unterschiedslos treffenden Gefahr einer Befragung unter Folter ohne erkennbaren individuellen Verfolgungsgrund knüpft jedenfalls nicht an vorhandene oder vom Verfolger unterstellte flüchtlingsrelevante Merkmale an. Folter kann zwar ein Anhaltspunkt für eine asylrechtsrelevante Gerichtetheit der Verfolgung und damit für die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus nach § 3 Abs. 1 AsylG sein. Sie führt aber nicht als solche zur Annahme einer politischen Verfolgung, sondern zur Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG (OVG NRW, B.v. 6.10.2016 – 14 A 1852/16.A, juris Rn. 13).
Etwas Anderes hieße, die tatbestandliche Unterscheidung zwischen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund individueller, den Antragsteller in seiner Person selbst oder aufgrund abgeleiteter Umstände (etwa in Fällen einer Sippenhaft oder sippenhaftähnlichen Gefährdung) treffenden Verfolgungshandlung einerseits und der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus andererseits aufzugeben. Letzterer will gerade die wahllose und eben nicht zielgerichtet eine Person betreffende Gefahr der Folter oder der ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines – wie hier – innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes (vgl. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und 3 AsylG) erfassen.
In diesem Sinne sind für die Klägerin keine gefahrerhöhenden Umstände ersichtlich oder vorgetragen, die den Schluss erlauben, der syrische Staat werde die Klägerin gerade wegen eines asylerheblichen Merkmales verfolgen. Dazu genügen insbesondere ohne die Darlegung entsprechender Anknüpfungstatsachen weder der Umstand für sich genommen, dass die Klägerin Kurdin ist bzw. aus einem kurdisch dominierten Gebiet Syriens kommt (vgl. BayVGH, U.v. 10.09.2019 – 20 B 19.32549, BeckRS 2019, 25267), noch, dass sie die Ehefrau eines in Deutschland anerkannt schutzberechtigten syrischen Mannes ist. Zu letztgenanntem Aspekt hat die anwaltlich vertretene Klägerin nichts weiter vorgetragen.
Die Klage erweist sich damit auch als unbegründet, soweit sie auf einen originären Anspruch der Klägerin auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gestützt wurde. Die Klage war insgesamt mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostengrundentscheidung folgt aus § 167 VwGO.


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