Verwaltungsrecht

Kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft – Türkei

Aktenzeichen  Au 6 K 18.30442

Datum:
26.5.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 24862
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
EMRK Art. 3
AsylG § 3, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

I. Die Klage ist zulässig, denn der Kläger hat einen Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der versäumten Klagefrist (§ 60 VwGO i.V.m. § 74 AsylG).
1. Der Kläger hat die Klagefrist des § 74 Abs. 1 AsylG versäumt, da ihm der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 12. Januar 2018 per Postzustellungsurkunde an die Aufnahmeeinrichtung am 17. Januar 2018 trotz des Vermerks („Empfänger unbekannt verzogen“) als jedenfalls an diesem Tag nach § 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG wirksam zugestellt gilt, auch wenn die vorherige Aufgabe zur Post nur durch die Zustellungsurkunde und nicht durch einen gesonderten Postaufgabevermerk dokumentiert ist, und die Klageerhebung am 28. Februar 2018 damit zu spät war. Ein Bescheid kommt auch als „unzustellbar“ zurück, wenn der Vermerk des Zustellers lautet „Empfänger unbekannt verzogen“. Ausweislich der Behördenakte hat die Beklagte den Kläger über seine Verpflichtungen auch hinsichtlich der Post ordnungsgemäß und auch in seiner Heimatsprache belehrt (BAMF-Akte Bl. 15 ff., 20). Dass ihm die Beklagte den Bescheid an die mitgeteilte Adresse in der Aufnahmeeinrichtung nochmals – nach Angaben seines Bevollmächtigten am 16. Februar 2018 – erneut zugestellt hat, beseitigt die eingetretene Bestandskraft des Bescheids nicht.
Die Zustellung gilt (mangels formeller Dokumentation der früheren Aufgabe zur Post) jedenfalls am Mittwoch dem 17. Januar 2018 als bewirkt, die zweiwöchige Klagefrist begann am Donnerstag, dem 18. Januar 2018 0.00 Uhr zu laufen und endete am Mittwoch dem 31. Januar 2018 24.00 Uhr (§ 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 1 ZPO, § 188 Abs. 2 und 3 BGB). Die Klageerhebung am 28. Februar 2018 war somit zu spät.
2. Dem Kläger wird Wiedereinsetzung nach § 60 VwGO gewährt, denn er war ohne eigenes Verschulden an der Einhaltung der Klagefrist gehindert.
Es ist nicht ersichtlich, dass der Kläger verschuldet an der Wahrung der Klagefrist gehindert gewesen wäre. Offenbar wusste er während seines Aufenthalts am zugewiesenen Wohnsitz nichts von dem bereits erfolgten Zustellungsversuch. Weshalb die Zustellung gescheitert ist, obwohl der Kläger nach von der Beklagten eingeholten Angaben der Ausländerbehörde dort nach wie vor tatsächlich auch wohnte (BAMF-Akte Bl. 210), ist nicht ersichtlich. Es kann daher ein Fehler des Zustellers nicht ausgeschlossen werden. Daher war der Kläger in Unkenntnis des Bescheidserlasses unverschuldet an der Wahrung der Klagefrist gehindert und ist ihm Wiedereinsetzung zu gewähren.
II. Die Klage ist jedoch unbegründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die Gewährung subsidiären Schutzes oder auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 12. Januar 2018 ist daher rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Es wird insoweit in vollem Umfang Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.
Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen – den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG – muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
Eine Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31/18 – juris Rn. 16) entspricht.
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassen-den Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31/18 – juris Rn. 16).
Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU in Form einer widerlegbaren Vermutung ist im Asylerstverfahren zu beachten, wenn der Antragsteller frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung als Anhaltspunkt für die Begründetheit seiner Furcht geltend macht, dass sich die Verfolgung im Falle der Rückkehr in das Heimatland wiederholen werde. Die solchen früheren Handlungen oder Bedrohungen nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU zukommende Beweiskraft ist von den zuständigen Behörden unter der sich aus Art. 9 Abs. 3 RL 2011/95/EU ergebenden Voraussetzung zu berücksichtigen, dass diese Handlungen oder Bedrohungen eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen, den der Betreffende für seinen Antrag auf Schutz geltend macht (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31/18 – juris Rn. 17, 34). Die vorgenannte Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Hat der Asylbewerber seine Heimat jedoch unverfolgt verlassen, kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm auf Grund von Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – BVerwGE 136, 377/382 Rn. 18) droht.
Soweit keine Beweiserleichterung wie bei Vorverfolgung oder in Widerrufsfällen nach Art. 4 Abs. 4 bzw. Art. 14 Abs. 2 RL 2011/95/EU greift, bleibt es im Umkehrschluss beim allgemeinen Günstigkeitsprinzip, wonach die Nichterweislichkeit von Tatsachen, aus denen ein Beteiligter für sich günstige Rechtsfolgen herleitet, zu seinen Lasten geht, also der Schutzsuchende (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31/18 – juris Rn. 26 ff.).
Das Tatsachengericht hat sich im Rahmen der o.g. tatrichterlichen Würdigung volle Überzeugung zur Gefahrenprognose zu bilden, also ob bei einer hypothetisch unterstellten Rückkehr des Schutzsuchenden in den behaupteten Verfolgerstaat diesem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht. Für die Annahme einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bedarf es weder einer eindeutigen Faktenlage noch einer mindestens 50%-igen Wahrscheinlichkeit. Vielmehr genügt – wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt -, wenn bei zusammenfassender Würdigung die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31/18 – juris Rn. 22). Lückenhafte Erkenntnisse, eine unübersichtliche Tatsachenlage oder nur bruchstückhaften Informationen aus einem Krisengebiet stehen ebenso wenig wie gewisse Prognoseunsicherheiten einer Überzeugungsbildung nicht grundsätzlich entgegen, wenn eine weitere Sachaufklärung keinen Erfolg verspricht. Die Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit darf aber nicht unter Verzicht auf die Feststellung objektivierbarer Prognosetatsachen auf bloße Hypothesen und ungesicherte Annahmen gestützt werden (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31/18 – juris Rn. 22). Kann das Tatsachengericht dennoch keine Überzeugung gewinnen und bestehen keine Anhaltspunkte für eine weitere Sachverhaltsaufklärung, hat es die Nichterweislichkeit des behaupteten Verfolgungsschicksals festzustellen und nach o.g. Maßstäben eine Beweislastentscheidung zu treffen.
Gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen (Nr. 1), vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden (Nr. 2), oder den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat (Nr. 3). Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben (§ 3 Abs. 2 Satz 2 AsylG).
Es ist Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
a) Die politische Lage in der T. stellt sich derzeit wie folgt dar:
Die T. ist nach ihrer Verfassung eine parlamentarische Republik und ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat und besonders den Grundsätzen des Staatsgründers M. K. („At.“) verpflichtet. Der – im Jahr 2014 erstmals direkt vom Volk gewählte – Staatspräsident hatte eine eher repräsentative Funktion; die Regierungsgeschäfte führte der Ministerpräsident. Durch die Verfassungsänderungen des Jahres 2018 ist die T. in eine Präsidialrepublik umgewandelt worden, in welcher Staats- und Regierungschef personenidentisch sind: Staatspräsidenten Er. (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich – im Folgenden: BFA, Länderinformationsblatt T. vom 29.11.2019, S. 5 ff. m.w.N.).
Im Parlament besteht von Verfassungs wegen ein Mehrparteiensystem, in welchem die seit dem Jahr 2002 regierende „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) des früheren Ministerpräsidenten und heutigen Staatspräsidenten Er. die zahlenstärkste Fraktion darstellt. Die heutige Parteienlandschaft in der T. ist geprägt von drei Faktoren, die sich gegenseitig verstärken: Erstens herrschen zwischen den Parteien relativ stabile Größenverhältnisse in der Relation 4 zu 2 zu 1. Die AKP ist stets unangefochten stärkste Kraft. Mit klarem Abstand folgt die CHP, die in der Regel halb so viele Stimmen bekommt wie die AKP, und darauf die MHP mit wiederum circa der Hälfte der Stimmen der CHP. Die pro-kurdische Partei der Demokratie der Völker (HDP) hat sich erst in den letzten Jahren dauerhaft etabliert. Zweitens sind die Wähler von drei der genannten Parteien relativ klar abgegrenzten Milieus zuzuordnen, die sich nicht nur nach ethno-kulturellen Zugehörigkeiten unterscheiden lassen, sondern auch nach divergierenden Lebensstilen sowie schichten-spezifischen sozialen und wirtschaftlichen Lagen. Die AKP stützt sich primär auf eine türkisch-national empfindende und ausgeprägt religiöse Wählerschaft mit konservativer Sittlichkeit und traditionellem Lebensstil, die eher den unteren Einkommens- und Bildungsschichten zuzurechnen ist. Die CHP dagegen vertritt die türkisch-säkularen Schichten höheren Bildungsgrades mit einem europäischen Lebensstil und durchschnittlich deutlich höheren Einkommen. Ob im Hinblick auf Schicht oder Bildung, Modernität oder Konservatismus: Die MHP steht zwischen den beiden größeren Parteien. Charakteristisch für sie ist ein stark ethnisch gefärbter türkischer Nationalismus, der sich in erster Linie als bedingungslose Identifikation mit dem Staat und als starke Ablehnung kurdischer Identität äußert. Die HDP gibt sich als linke Alternative, wird jedoch generell als die Partei der kurdischen Bewegung wahrgenommen. Mehr noch als bei den anderen Parteien ist die ethnisch-nationale Komponente für die Zugehörigkeit ihrer Anhängerschaft bestimmend. Drittens verfügen drei der genannten Parteien über geographische Stammregionen mit einem eigenen Milieu. So ist die AKP in allen Landesteilen stark vertreten, hat aber ihr Stammgebiet in Zentralanatolien und an der Schwarzmeerküste. Die CHP hat an den Küsten der Ägäis und in zweiter Linie in Thrazien und am Mittelmeer großen Rückhalt; die HDP hingegen in den primär kurdisch besiedelten Regionen. Die klare Aufteilung folgt auch der wirtschaftlichen Entwicklung der Stammregionen, denn die CHP reüssiert in den ökonomisch am stärksten entwickelten Regionen, die keine oder nur wenig staatliche Förderung benötigen. Die AKP vertritt die immer noch eher provinziell geprägten Gebiete, die auf staatliche Infrastrukturleistungen und Investitionen angewiesen sind. Die HDP ist in den kurdischen besiedelten Gebieten zuhause, die als Schauplatz des türkisch-kurdischen Konflikts (dazu unten) besonders unterentwickelt sind. Wahlergebnisse in der T. bilden deshalb nicht primär Verteilungskonflikte ab, sondern Identitäten ihrer Wähler: In den europäischen Ländern, die türkische Arbeitsmigranten aufgenommen haben, stimmten weit über 60 Prozent für Er. und seine AKP; dagegen votierten in den USA, wo sich die türkische Migration aus Akademikern und anderen Angehörigen der Mittelschicht zusammensetzt, weniger als 20 Prozent für die AKP (zum Ganzen Stiftung Wissenschaft und Politik – SWP, Die T. nach den Wahlen: Alles wie gehabt und doch tiefgreifend anders, S. 2 f., www. … .org).
In der Wahl vom 1. November 2015 errang die AKP zwar 49,5% der Stimmen, verfehlte aber die für eine Verfassungsänderung notwendige 2/3- bzw. 3/5-Mehrheit (mit anschließendem Referendum). Innenpolitisches Anliegen Er.s war der o.g. Systemwechsel hin zu einem exekutiven Präsidialsystem, was eine Verfassungsänderung voraussetzte. Nach dem Putschversuch im Juli 2016 (dazu sogleich) hat die AKP Anfang Dezember 2016 einen Entwurf zur Verfassungsänderung hin zu einem solchen Präsidialsystem ins Parlament eingebracht, das dieses Gesetz mit der für ein Referendum erforderlichen 3/5-Mehrheit beschloss. Das Verfassungsreferendum vom 16. April 2017 erreichte die erforderliche Mehrheit; mittlerweile wurde das bislang geltende Verbot für den Staatspräsidenten, keiner Partei anzugehören, aufgehoben; Staatspräsident Er. ist seit Mai 2017 auch wieder Parteivorsitzender der AKP. In der vorverlegten Präsidentschaftswahl vom 24. Juni 2018 hat er die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen können; auch die regierende AKP errang bei der Parlamentswahl mit 42,5% der Stimmen die relative Mehrheit und zusammen mit den 11,2% Stimmenanteil der mit ihr verbündeten MHP auch die Mehrheit der Parlamentssitze (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik T. vom 14.6.2019, S. 5, 7 f. – im Folgenden: Lagebericht; BFA, Länderinformationsblatt T. vom 29.11.2019, S. 6 f.).
Durch die damit abgeschlossene Verfassungsänderung wurde Staatspräsident Er. zugleich Regierungschef, denn das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Ohne parlamentarische Mitsprache ernennt und entlässt der Staatspräsident die Regierungsmitglieder, kann Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen und vier der 13 Mitglieder im Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK) ernennen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt T. vom 29.11.2019, S. 7, 22; Lagebericht ebenda S. 7). In den Kommunalwahlen vom 30. März 2019 verlor die AKP nach 20 Jahren die Stadt An. an die Opposition, ebenso die Großstädte Ad., Ant. und M. sowie in der Wiederholungswahl am 23. Juni 2019 auch das von ihr seit 25 Jahren regierte Is., wo Staatspräsident Er. einst als Bürgermeister seine politische Laufbahn begonnen hatte. Diese ist von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Is. lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet. Zudem hatte Staatspräsident Er. mehrmals erklärt, wer Is. regiere, regiere die T. (vgl. BFA, Länderinformationsblatt T. vom 29.11.2019, S. 6).
In der Nacht vom 15./16. Juli 2016 fand in der T. ein Putschversuch von Teilen des Militärs gegen Staatspräsident Er. statt, dem sich auf Aufrufe der AKP hin viele Bürger entgegenstellten und der innerhalb weniger Stunden durch regierungstreue Militärs und Sicherheitskräfte niedergeschlagen wurde. Staatspräsident Er. und die Regierung machten den seit dem Jahr 1999 im Exil in den USA lebenden islamischen Prediger F. G. und dessen bis dahin vor allem für ihr Engagement in der Bildung und in der humanitären Hilfe bekannte G.-Bewegung (zu ihrer Entwicklung Lagebericht ebenda S. 4 f.; BFA, Länderinformationsblatt T. vom 29.11.2019, S. 12 f.) für den P. verantwortlich. Diese wurde als terroristische Organisation eingestuft und ihre echten oder mutmaßlichen Anhänger im Zuge einer „Säuberung“, die sich auch auf Anhänger der verbotenen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) erstreckte, mit einer Verhaftungswelle überzogen. Gegen ca. 511.646 Personen wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet, über 30.000 Personen befinden sich in Haft, darunter fast 20.000 Personen auf Grund von Verurteilungen. Über 154.000 Beamte und Lehrer an Privatschulen wurden vom Dienst suspendiert bzw. aus dem Militärdienst entlassen. Flankiert wurden diese Maßnahmen durch die Ausrufung des Ausnahmezustands (Notstand), welcher der Exekutive erhebliche Handlungsvollmachten einräumte, mehrfach verlängert wurde und zwar am 19. Juli 2018 auslief, aber in einigen Bereichen in dauerhaft geltendes Recht überführt wurde (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik T. vom 14.6.2019, S. 4 f. – im Folgenden: Lagebericht; Zahlen auch bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 5, 7; BFA, Länderinformationsblatt T. vom 29.11.2019, S. 8, 12, 23 f.). Zu diesen Regelungen gehören insbesondere die Ermächtigung der Gouverneure, Ausgangssperren zu verhängen, Demonstrationen und Kundgebungen zu verbieten, Vereine zu schließen sowie Personen und private Kommunikation intensiver zu überwachen (vgl. Stiftung Wissenschaft und Politik – SWP, Die T. nach den Wahlen: Alles wie gehabt und doch tiefgreifend anders, S. 8, www. … .org; BFA, Länderinformationsblatt T. vom 29.11.2019, S. 7).
Als Sicherheitsorgane werden die Polizei in den Städten, die Jandarma am Stadtrand und in den ländlichen Gebieten sowie der Geheimdienst (MIT) landesweit tätig; das Militär ging in den vergangenen Jahren seiner staatlichen Sonderrolle mit einer de-facto-Autonomie gegenüber parlamentarischer Kontrolle als Hüter kemalistischer Grundsätze verlustig (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik T. vom 14.6.2019, S. 9) und dem Verteidigungsminister als ziviler Instanz unterstellt mit der zusätzlichen Befugnis des Staatspräsidenten, den Kommandeuren der Teilstreitkräfte direkt Befehle zu erteilen (BFA, Länderinformationsblatt T. vom 29.11.2019, S. 27). Durch die „Säuberungen“ in Folge des Putsches wurde sein innenpolitisches Gewicht gemindert und durch den Einmarsch in den grenznahen Gebieten Syriens wurden seine Kapazitäten nach außen gelenkt.
Neben dem Putschversuch im Juli 2016 prägt der Kurdenkonflikt die innenpolitische Situation in der T., in welchem der PKK zugehörige oder von türkischen Behörden und Gerichten ihr zugerechnete Personen erheblichen Repressalien ausgesetzt sind (vgl. dazu unten). Die PKK (auch KADEK oder KONGRA-GEL genannt) ist in der Europäischen Union als Terrororganisation gelistet (vgl. Rat der Europäischen Union, B.v. 4.8.2017 – (GASP) 2017/1426, Anhang Nr. II. 12, ABl. L 204/95 f.) und unterliegt seit 1993 in der Bundesrepublik Deutschland einem Betätigungsverbot; ihre Anhängerzahl wird hier auf rund 14.000 Personen geschätzt (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz, www.verfassungsschutz.de/de/ arbeitsfelder/af-auslaenderextremismus-ohne-islamismus/was-ist-auslaenderextremismus/ arbeiterpartei-kurdistans-pkk, Abfrage vom 26.4.2018). Die PKK wird als die schlagkräftigste ausländerextremistische Organisation in Deutschland eingestuft; sie sei in der Lage, Personen weit über den Kreis der Anhängerschaft hinaus zu mobilisieren. Trotz weitgehend störungsfrei verlaufender Veranstaltungen in Europa bleibe Gewalt eine Option der PKK-Ideologie, was sich nicht zuletzt durch in Deutschland durchgeführte Rekrutierungen für die Guerillaeinheiten zeige (Bundesamt für Verfassungsschutz, ebenda).
b) Eine Gruppenverfolgung allein wegen einer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden haben Asylbewerber aus der T. nicht zu befürchten. Kurden gehören zu einer weit verbreiteten Bevölkerungsgruppe in der T.; Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete Gruppenverfolgung ethnischer Kurden liegen nicht vor (vgl. SächsOVG, B.v. 9.4.2019 – 3 A 358/19 – Rn. 13; BayVGH, B.v. 10.2.2020 – 24 ZB 20.30271 – Rn. 6).
d) Eine individuelle Verfolgung wegen einer Zurechnung zur G.-Bewegung hat der Kläger nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten.
Die vom islamistischen, seit 1999 im Exil in den USA lebenden Prediger F. G. 1969 gegründete Bewegung war lange Zeit eng mit der AKP verbunden und hat durch ihr Engagement im Bildungsbereich über Jahrzehnte ein islamisches Bildungs-Elitenetzwerk aufgebaut, aus dem die AKP nach der Regierungsübernahme 2002 Personal für die staatlichen Institutionen rekrutierte im Rahmen ihrer Bemühungen, die kemalistischen Eliten zurückzudrängen. Im Dezember 2013 kam es zum politischen Zerwürfnis zwischen der AKP und der G.-Bewegung, als der Bewegung zugerechnete Staatsanwälte und Richter K. gegen die Familie des damaligen Ministerpräsidenten E. sowie Minister seines Kabinetts aufnahmen. Seitdem wirft die Regierung G. und seiner Bewegung vor, die staatlichen Strukturen der T. unterwandert zu haben. Seit Ende 2013 hat die Regierung in mehreren Wellen Zehntausende mutmaßlicher Anhänger der G.-Bewegung in diversen staatlichen Institutionen suspendiert, versetzt, entlassen oder angeklagt. Die Regierung hat ferner Journalisten strafrechtlich verfolgt und Medienkonzerne, Banken und auch andere Privatunternehmen durch die Einsetzung von Treuhändern zerschlagen und teils enteignet. Die türkische Regierung hat die G.-Bewegung als terroristische Organisation eingestuft, die sie „FETÖ“ oder auch „FETÖ/PDY“ nennt („Fethullahistische Terrororganisation/ Parallele Staatliche Struktur“; dazu Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik T. vom 14.6.2019, S. 4; BFA, Länderinformationsblatt T. vom 29.11.2019, S. 11 ff.; Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 8 f.).
Es liegen keine Anhaltspunkte vor, dass die G.-Bewegung als sunnitisch-islamische Gruppierung bestimmte Anforderungen an die Volkszugehörigkeit ihrer Anhänger stellte (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 6).
Es liegen auch nach Einschätzung des Auswärtigen Amts deutliche Anhaltspunkte für eine systematische Verfolgung vermeintlicher Anhänger der G.-Bewegung vor, welcher von türkischer Regierungsseite her der Putschversuch im Juli 2016 zur Last gelegt wird (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik T. vom 14.6.2019, S. 9 f. – im Folgenden: Lagebericht). Grundsätzlich wird jede Person, die in irgendeiner Weise Kontakt zur G.-Bewegung hatte, von den türkischen Ermittlungsbehörden überprüft; Strafverfahren werden insbesondere gegen in G.nahen Einrichtungen und Vereinen aktive oder gar in leitender Position tätige Personen sowie Inhaber eines Kontos bei der Bank Asya eingeleitet (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 5). Türkische Behörden und Gerichte können eine Person nicht erst dann als „FETÖ“-Terrorist einordnen, wenn diese Mitglied der G.-Bewegung ist oder persönliche Beziehungen zu den Mitgliedern der Bewegung unterhält. Als Indiz für eine Mitgliedschaft in der G.-Bewegung genügen aus Sicht der türkischen Sicherheitsbehörden u.a. schon der Besuch der Person oder eines Kindes an einer der Organisation angeschlossenen Schule, die Einzahlung von Geldern in eine der Organisation angeschlossenen Bank, i.e. Geldanlagen nach dem Aufruf von F. G. ab 25. Dezember 2013 bei der Bank A., der Besitz einer 1-US-Dollar-Banknote der F-Serie (als geheimes Erkennungszeichen), die Anstellung an einer mit der G.-Bewegung (ehemals) verbundenen Institution – z.B. einer Universität oder einem Krankenhaus; der Abonnementvertrieb (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 11) und das Abonnieren der (vormaligen) G.-Zeitung „Z.“ oder „B.“ oder der Nachrichtenagentur C. oder der Besitz von G.s Büchern sowie Kontakte zu der G.-Bewegung zugeordneten Einrichtungen. Nutzer der Smartphone-Anwendung „By.“ stehen ebenfalls in Verdacht und ist mit der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens zu rechnen (Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 13), 23.171 Nutzer seien verhaftet, allerdings auch Hunderte Personen zu Unrecht der Nutzung der mobilen Anwendung beschuldigt und deswegen wieder freigelassen worden (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik T. vom 14.6.2019, S. 9 f.; BFA, Länderinformationsblatt T. vom 29.11.2019, S. 13 ff.).
Daher kann davon ausgegangen werden, dass eine Person, welche der türkische Staat der G.-Bewegung zurechnet, in der T. mit systematischen asylerheblichen Verfolgungshandlungen rechnen muss. Ob bereits eine vermutete G.-Anhängerschaft ausreicht, wegen Terrorverdachts inhaftiert zu werden (vgl. VG Aachen, U.v. 5.3.2018 – 6 K 3554/17.A – juris Rn. 36), hängt vom Einzelfall und den plausibel geltend gemachten Ansatzpunkten ab, die aus Sicht des türkischen Staats eine solche Zurechnung tragen würden. G.-Anhänger werden wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt; das Strafmaß für eine Mitgliedschaft in einer bewaffneten Organisation beträgt nach § 314 Abs. 2 tStGB (türkisches Strafgesetzbuch) i.V.m. Art. 5 tStGB (Erhöhung um die Hälfte bei Terrorstraftaten) 7,5- 15 Jahre Freiheitsstrafe, die aber häufig wegen guter Führung nach Art. 62 tStGB auf ein regelmäßig zu erwartendes Strafmaß von 6 Jahren und drei Monaten gemindert wird (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 1d). Zusätzlich können sie noch wegen Terrorfinanzierung, Leitung bestimmter Gruppierungen, als Imame der Armee, Polizei, usw. angeklagt werden. Die Höchststrafe ist lebenslänglich. Mehrere Delikte (z.B. Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Finanzierung, Mord, etc.) können gleichzeitig angeklagt werden, eventuell verhängte Freiheitsstrafen werden zusammengerechnet. Ob eine „Sippenhaft“ gegen Familienangehörige von G.verdächtigen Personen stattfindet, ist nicht sicher: Zwar wird unter Nennung von Quellen aus dem Jahr 2016 behauptet, staatliche Behörden gingen mit Entlassungen oder Verhaftungen gegen Familienangehörige vor, um Druck auf die eigentlich gesuchten Personen auszuüben (SFH, T.: Gefährdungsprofile vom 19.5.2017, S. 6). Allerdings sind dem Verwaltungsgericht bislang nur Fälle bekannt geworden, in denen Familienangehörige selbst wegen des Verdachts der G.-Mitgliedschaft z.B. auf Grund ihrer eigenen Lehrtätigkeit in einer G.nahen Einrichtung strafrechtlich belangt wurden (vgl. VG Augsburg, U.v. 12.11.2019 – Au 6 K 17.34204).
Personalausweise und sogar Reisepässe werden G.-Verdächtigen ausgestellt, sofern keine Ausreisesperre gegen sie besteht (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 14; näher zu Ausreisesperren unten). Auch ein Ermittlungsverfahren hindert die Ausstellung eines Personalausweises nicht. Solange nur ein Ermittlungsverfahren offen ist, aber keine Haft vollstreckt wird, ist die Reisefreiheit nicht beschränkt (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 14). Gezielte Annullierungen oder Nichtverlängerungen von türkischen Pässen hingegen scheinen verbreitet gegen G.-Anhänger und auch gegen Familienangehörige stattzufinden.
Insgesamt sollen rund 512.000 Personen wegen Verbindungen zur G.-Bewegung verhaftet und ihre Verbindung untersucht, ca. 31.000 Personen inhaftiert und über 19.000 Personen verurteilt worden sein. Zudem sollen direkt wegen des Putschversuchs 3.838 Personen verurteilt worden sein, 2.327 Personen davon zu lebenslanger Haft und weitere 1.511 Personen zu Freiheitsstrafen von 14 Monaten bis 20 Jahre (BFA, Länderinformationsblatt T. vom 29.11.2019, S. 12).
Laut offiziellen türkischen Angaben seien seit dem gescheiterten Putschversuch über 100 türkische Staatsbürger im Ausland festgenommen und in die T. verschleppt worden, so aus As., G., Ka., dem Ko., Ma., Mol., My., P. und der Uk. (BFA, Länderinformationsblatt T. vom 29.11.2019, S. 14). Auslieferungen von G.-Anhängern aus Drittstaaten an die T. sind aber aus Al. und aus Ka. nicht bekannt (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 14.1.2019 an das BAMF zu Frage 1; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 15.5.2019 an das BAMF zu Frage 2). Ebenso wenig gibt es Hinweise auf eine Verfolgung von G.-Anhängern in Ni. durch den türkischen Staat, auf deren Auslieferung durch Ni. oder auf eine Schließung von seitens der T. der G.-Bewegung zugerechneten Schulen dort (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Augsburg vom 19.9.2019, S. 1 f.). Hingegen entließ die aserbaidschanische Regierung auf Bitten der T. rund 50 Lehrer und Dozenten als Anhänger F. G.s, schloss einen TV-Sender (ANS) und „säuberte“ die ehemals (bis 2013) der G.-Organisation Hi. nahestehende Universität Q.. Auch eine Reihe von Personen, die der säkularen politischen Opposition angehören, wurde unter dem Vorwurf des „G.ismus“ verhaftet und teilweise an die T. ausgeliefert (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Aserbaidschan vom 22.2.2019, S. 11).
Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung wegen einer Zugehörigkeit/Zurechnung zur G.-Bewegung liegt hier jedoch nicht vor, weil gegen den Kläger bis zur Ausreise und wohl auch bis heute keine konkreten Maßnahmen seitens des türkischen Staats ergriffen worden sind, er solche lediglich befürchtet.
Der Kläger hat keine konkreten Maßnahmen des türkischen Staats gegen sich erlitten. Im Gegenteil ist er in die Polizeischule nach Überprüfung seiner Person aufgenommen und nach deren Abschluss zum Dienst gerufen worden, wobei er diesem Dienstaufruf nicht mehr gefolgt sei, da er von Verhaftungen einiger anderer Polizeischüler gehört und eine eigene Verhaftung befürchtet habe.
Allerdings ist nicht ersichtlich, dass der Kläger selbst in den Blick der türkischen Sicherheitsbehörden geraten wäre: Wie die Beklagte zutreffend in ihrem angefochtenen Bescheid ausführt, ist die einzige aktuelle Verbindung des Klägers zur G.-Bewegung die Beschlagnahme von Romanen und Sachbüchern im Zusammenhang mit einer Hausdurchsuchung wegen seines der G.-Bewegung zugerechneten, strafgerichtlich verurteilten und inhaftierten Bruders im gemeinsamen Elternhaus, die in einem G.nahen Verlag erschienen sein sollen. Das allerdings erfüllt keines der o.g. Risikoprofile.
Dass der Kläger während seines Studiums auch Nachhilfe gegeben haben und Unterstützung von G.nahen Vereinen erhalten haben will, während er zugleich ein staatliches Stipendium erhalten habe, genügt ebenfalls nicht, um ein Risikoprofil – anders als z.B. in der G.-Bewegung faktisch aufgewachsene hauptamtliche Lehrkräfte an Schulen der Bewegung – zu erfüllen.
Schließlich ist davon auszugehen, dass die – wie die Beklagte zutreffend in ihrem angefochtenen Bescheid ausführt – den Kläger nicht belastende Sachen des Klägers nicht als seine, sondern als vermeintlich seines Bruders Sachen beschlagnahmt wurden und dieser wegen hiervon getrennter Verdachtsmomente inhaftiert wurde. Dass gegen ihn wie gegen seine Mutter eine Ausreisesperre mit Meldepflicht verhängt würde, ist nicht ersichtlich, denn für den Kläger ist – jedenfalls nicht nachweislich – ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden.
Im Gegenteil hat der Kläger eingeräumt, dass er anders als sein Bruder ByLock nur untergeordnet genutzt habe und die SIM-Karte über seine Mutter gelaufen sei, die jedoch freigelassen worden sei und seinen Namen als Benutzer nicht genannt habe (vgl. Protokoll vom 26.5.2020 S. 4).
d) Der Kläger konnte auch mit seinem individuellen Vortrag sonst nicht glaubhaft machen, dass ihm in der T. eine flüchtlingsrelevante Verfolgung droht.
Hierbei ist der Bescheidsbegründung der Beklagten zu folgen, wonach der Kläger keine an ihn individuell gerichteten Bedrohungen oder gar Übergriffe geschildert hat, sondern solche lediglich befürchtet.
Solche Verfolgungsmaßnahmen drohen ihm im Fall seiner Rückführung in die T. daher auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.
aa) Gegen ein staatliches Verfolgungsinteresse spricht bereits, dass der Kläger alle Prüfungen und Personenüberprüfungen für den Polizeidienst unbehelligt und unauffällig bestanden hat, mithin gegen ihn keine Verdachtsmomente des türkischen Staats vorlagen und – mangels gegenteiliger Nachweise z.B. aus e-D. (vgl. Protokoll vom 26.5.2020 S. 5) – offenbar bis heute auch nicht vorliegen.
bb) Eine Verfolgung i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG durch Anwendung physischer oder psychischer sowie sexueller Gewalt droht daher nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.
In der Behandlung Straftatverdächtiger zeigt sich ein ambivalentes Bild: Einerseits verfolgt die T. offiziell eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Folter des Staates und hat seit dem Jahr 2008 ihre vormals zögerliche strafrechtliche Verfolgung von hiergegen verstoßenden Soldaten, Gendarmen und Polizeibeamten nachweisbar verbessert. Allerdings kommt es vor allem mangels Kooperation der Behörden bei der Tatsachenfeststellung nur in wenigen Einzelfällen tatsächlich zu Verurteilungen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik T. vom 14.6.2019, S. 16, 22 – im Folgenden: Lagebericht; auch AI, Amnesty Report T. 2016, S. 2; BFA, Länderinformationsblatt T. vom 29.11.2019, S. 28 f.). Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 kommt es wieder vermehrt zu Folter- und Misshandlungsvorwürfen gegen Strafverfolgungsbehörden. Zwar rückt die T. nach Ansicht des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen über Folter nach seinem Besuch im November 2016 nicht von ihrer Null-Toleranz-Politik ab. In unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Putschversuch und im Rahmen des Vorgehens der Sicherheitskräfte gegen die PKK im Südosten des Landes kamen bzw. kommen allerdings Misshandlungen von in Gewahrsam befindlichen Personen vor. Dem entsprechend weist auch der Sonderberichterstatter auf das Auseinanderfallen von Anspruch und Wirklichkeit der Null-Toleranz-Politik hin. Ob es darüber hinaus wieder vermehrt zu Misshandlungen im Polizeigewahrsam kommt, kann nach Auffassung des Auswärtigen Amts noch nicht abschließend beurteilt werden, zumal Menschenrechtsorganisationen davon berichten, dass Dritten der Zugang zu ärztlichen Berichten über den Zustand inhaftierter bzw. in Gewahrsam genommener Personen häufig verweigert wird und eine unabhängige Überprüfung von Foltervorwürfen nur schwer möglich ist (vgl. Lagebericht, ebenda S. 16, 22; eine Zunahme der Berichte über Misshandlungen in Polizeigewahrsam bestätigt AI, Auskunft an das VG Magdeburg vom 28.1.2020, S. 1 f.; Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 17 f.; Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche an das VG Karlsruhe vom 17.2.2017, S. 3). Teils wird auf im E.-weg eingeräumte Straffreiheit der entsprechend der Notstandsverordnungen tätigen Staatsbediensteten verwiesen (vgl. AI, Stellungnahme an das VG Karlsruhe vom 9.3.2017, S. 2). Misshandlungen von am Putschversuch Beteiligter wie Piloten und Offiziere in den ersten Tagen nach dem Putschversuch im Juli 2016 werden aber als gesichert angesehen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach vom 4.4.2017, S. 2; AI, Auskunft an das VG Magdeburg vom 1.3.2018, S. 3; offiziell genehmigte Fotos gefolterter Offiziere bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 20; Kamil Taylan, Gutachten an das VG Magdeburg vom 5.11.2017, S. 19 f.).
Das Risiko solcher Misshandlungen ist für der PKK oder der G.-Bewegung zugerechnete Personen erhöht, nicht aber für Inhaftierte aus dem Bereich des islamistischen Extremismus wie IS-Verdächtige. Für ein strukturell bestehendes Risiko von Misshandlungen von IS-Verdächtigen oder gehäufte Einzelfälle solcher Misshandlungen gibt es nach Recherchen des Auswärtigen Amts unter Einbeziehung von Menschenrechtsorganisationen keine Anhaltspunkte (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Wiesbaden vom 12.3.2018). Dass G.-Verdächtigte in Strafhaft mit systematischer Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zu rechnen hätten. lägen keine Erkenntnisse vor (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 1 f). Gleichwohl gibt es auch Hinweise, dass wegen der Vertretung von wegen PKK- oder „FETÖ“-Verdachts angeklagter Personen selbst verhaftete Rechtsanwälte in staatlicher Haft misshandelt wurden und das türkische Parlament entsprechenden Beschwerden nicht nachgeht (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Magdeburg vom 5.11.2017, S. 15 ff.).
Vorliegend ist nicht glaubhaft gemacht und auch nicht sonst ersichtlich, dass gegen den Kläger irgendwelche strafrechtlichen Ermittlungen anhängig wären. Dass er solche subjektiv befürchtet, ohne dass hierfür hinreichend konkrete objektive Anhaltspunkte bestünden, oder gegen seinen Bruder eine Haftstrafe verhängt wurde und vollstreckt wird (vgl. Protokoll vom 26.5.2020 S. 3 f.), genügt nicht für die Annahme einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung.
cc) Eine Verfolgung i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung droht aus diesen Gründen ebenfalls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.
Vorliegend ist nicht glaubhaft gemacht und auch nicht sonst ersichtlich, dass gegen den Kläger irgendwelche strafrechtlichen Ermittlungen anhängig wären, die in eine strafrechtliche Verurteilung mündeten (vgl. oben).
cc) Eine Verfolgung i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung droht nicht, da der Kläger nach eigenen Angaben noch gar nicht einberufen worden ist.
2. Der Kläger hat aus diesen Gründen auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S. des § 4 Abs. 1 AsylG. Er hat keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihm bei einer Rückkehr in die T. ein ernsthafter Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf den angefochtenen Bescheid verwiesen.
3. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor. Auf den Bescheid des Bundesamts wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
a) Dem Kläger steht kein Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu.
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Dies ist auch der Fall, wenn es dem Betroffenen nicht (mehr) gelingen würde, seine elementaren Bedürfnisse wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – Asylmagazin 2015, 197) und die aus zu erwartenden schwierigen Lebensbedingungen resultierenden Gefährdungen im Einzelfall eine solche Intensität aufweisen, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist. Die Gefahren müssen ein Mindestmaß an Schwere unter Berücksichtigung der Gesamtumstände aufweisen.
Hier liegen diese besonders strengen Voraussetzungen nicht vor.
aa) Der erwachsene, gesunde und erwerbsfähige Kläger würde im Fall seiner Abschiebung in die T. keiner besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt sein, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass seine elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nicht gesichert wären. Er ist auf Grund seines hohen Bildungsstandes – Abitur, abgeschlossenes Studium der Soziologie, bestandene Polizeiprüfung – im Stande, einer qualifizierten Beschäftigung nachzugehen und seinen Lebensunterhalt zu sichern.
bb) Der Kläger würde im Fall seiner Abschiebung in die T. auch nicht wegen seiner Asylantragstellung unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.
Rückkehrerinnen und Rückkehrer werden nach vorliegenden Erkenntnissen keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen. Dem Auswärtigen Amt und türkischen Menschenrechtsorganisationen, zu denen die Deutsche Botschaft engen Kontakt unterhält, ist in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus Deutschland in die T. zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten – dies gilt auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen – gefoltert oder misshandelt worden ist (vgl. Lagebericht ebenda S. 28; a.A. allerdings unter Verweis auf Quellen lediglich zum Risiko von Festnahmen und nicht von Folter VG Freiburg, U.v. 13.6.2018 – A 6 K 4635/17 – juris Rn. 28 ff.). Dem gegenüber wird geltend gemacht, dass der Bundesregierung keine Abschiebungen bzw. Auslieferungen dieses Personenkreises bekannt und daraus auch keine Rückschlüsse auf ihre Gefährdung zu ziehen seien (so AI, Auskunft vom 28.1.2020 an das VG Magdeburg, S. 2 f.).
Aufgrund eines Runderlasses des türkischen Innenministeriums dürfen keine Suchvermerke (insbesondere für Wehrdienstflüchtlinge oder zur Fahndung ausgeschriebene Personen) mehr ins Personenstandsregister eingetragen werden; vorhandene Suchvermerke sollen Angaben türkischer Behörden zufolge im Jahr 2005 gelöscht worden sein (vgl. Lagebericht ebenda S. 28). Allerdings werden Wehrdienstflüchtige aufgrund einer Fahnenflucht gesucht; eine Strafverfolgung erfolgt unabhängig vom politischen, biografischen und ethnischen Hintergrund; die Personendaten von Wehrdienstflüchtigen werden im nationalen Polizeiinformationssystem hinterlegt und sind dort für die Polizeibehörden abrufbar (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.1.2020 an das VG Augsburg zu Frage 3a -e). Das Verteidigungsministerium meldet Wehrdienstflüchtige dem Innenministerium zwecks Festnahme; im Fall der Festnahme wird der Wehrdienstflüchtige in „Obhut“ genommen und innerhalb der Dienstzeiten der nächsten Wehrbehörde überstellt; bei Festnahme außerhalb der Dienstzeit oder an Orten ohne Wehrbehörde werden sie nach Protokollierung des Sachverhalts durch die Sicherheitskräfte (Polizei und Jandarma) sofort freigelassen (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.1.2020 an das VG Augsburg zu Frage 3f).
An Grenzübergängen werden im Rahmen der allgemeinen und erkenntnisbasierten Fahndung der türkischen Polizei mobile Kommunikationsendgeräte (Handy, Tablet, Laptop) von Reisenden ausgelesen, um insbesondere regierungskritische Beiträge / Kommentare auf F., Wh., In. etc. festzustellen, die wiederum in Maßnahmen wie z.B. Einreiseverweigerung, Vernehmung, Mitnahme zur Dienststelle, Festnahme, Strafanzeige usw. münden können (vgl. Lagebericht ebenda S. 32).
Zu beruflichen Perspektiven von vermeintlichen G.-Anhängern bei einer Rückkehr in die T. liegen keine Erkenntnisse vor (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 20).
Unbegleitet zurückkehrende Minderjährige finden in der Regel Aufnahme bei Verwandten, sonst im Einzelfall ggf. in einem Waisenhaus oder Kinderheim. In letzterem Fall sollten die zuständigen türkischen Behörden rechtzeitig informiert werden (vgl. Lagebericht ebenda S. 28). Soweit in der T. beide Elternteile verhaftet werden, werden die minderjährigen Kinder ebenfalls in Kinderheimen untergebracht, sofern sich keine Familienangehörigen bereit erklären, die Sorgepflicht für die Kinder zu übernehmen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Augsburg vom 19.9.2019, S. 1).
In der T. finden strenge Ausreisekontrollen für alle Personen statt. Ein- und Ausreisedaten werden genauestens erfasst und die Reisenden in den entsprechenden türkischen Fahndungssystemen überprüft. Türkischen Staatsangehörigen, gegen welche ein vom türkischen Innenministerium oder von einer Staatsanwaltschaft verhängtes Ausreiseverbot vorliegt und die auf einer entsprechenden Liste stehen, wird die Erteilung eines Reisepasses versagt oder sie werden bei Besitz eines Reisepasses an der Ausreise gehindert. Bei bestehendem Ausreiseverbot kann ein Reisepass auch durch Bestechung kaum erlangt werden, denn seine Ausstellung erfordert, dass ein vorhandener Listeneintrag zuvor auf amtliche Veranlassung durch richterlichen Beschluss oder Beschluss des Innenministeriums gelöscht wird (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das BAMF vom 11.6.2018, S. 1 f.) sowie der Antragsteller zwecks Abnahme von Fingerabdrücken persönlich vorspricht (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.10.2018 an das BAMF, S. 1). Nach Regierungsangaben seien im Zuge der Ermittlungen gegen die G.-Bewegung über 155.000 Reisepässe annulliert worden für Ehepartner und Verwandte von dieser Bewegung zugerechneten Personen; für einen Teil der Betroffenen sei die Annullierung nach Ende des Ausnahmezustandes widerrufen worden (BFA, Länderinformationsblatt T. vom 29.11.2019, S. 72). Ausreisesperren wurden im Juli 2016 für rund 200.000 Personen verhängt und im Juli 2018 für rund 150.000 Personen unter ihnen wieder aufgehoben; Auskünfte über bestehende Ausreisesperren können über die Datenbanken eDevlet des türkischen Innenministeriums und UYAP des türkischen Justizministeriums vom Betroffenen oder einem von diesem bevollmächtigten Rechtsanwalt sowie sogar durch Nachfragen bei der örtlichen Polizeistation durch bevollmächtigte Verwandte ersten Grades erlangt werden (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.10.2018 an das BAMF, S. 2; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 11.10.2018 an das BAMF, S. 2).
Bei dem e-D. System (eDevlet Sistemi) handelt es sich um ein staatlich betriebenes Online-Portal, in das staatliche Institutionen mit ihren Datenbanken integriert sind. Türkische Staatsbürger erhalten, nachdem sie sich durch Hinterlegung ihrer persönlichen Daten zur Teilnahme am System angemeldet haben, durch Einloggen mit einem Passwort Zugang zu allen freigegebenen Daten, die die eigene Person betreffen. Mit Hilfe des e-D. Systems können türkische Staatsbürger u.a. diverse behördliche Dienstleistungen im Online-Verfahren in Anspruch nehmen, ohne persönlich bei den Behörden vorsprechen zu müssen. Haftbefehle und andere Eintragungen aus dem Justizbereich sind im sog. UYAP-System erfasst. Über einen Link im e-D. System kann sich jeder türkische Staatsbürger – nach Hinterlegung seiner persönlichen ID-Daten für die Zugangsberechtigung – auch im UYAP-System anmelden (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 11.10.2018 an das BAMF, S. 1 f.) und dort als Privatnutzer allerdings nur schlagwortartig Übersichten einsehen, via Internet sogar aus dem Ausland (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 13.2.2019 an das BAMF, S. 2).
Für den Zugang zu e-D. ist in der T. für jeden türkischen Staatsbürger ein Passwort bei der türkischen Post hinterlegt, dass durch Vorlage des Personalausweises erhältlich ist. Im Ausland wird dies von den türkischen Auslandsvertretungen übernommen. Es gibt aber auch verschiedene andere Möglichkeiten, sich zu registrieren, ohne sich an die Post oder die zuständige Auslandsvertretung wenden zu müssen. So kann sich ein Bürger außer mit dem Passwort für e-D. auch mit einer Mobil-Signatur, einer e-Signatur, der T.C.-Kimlik-Nummer oder an Hand der Eingangsdaten zum Online-Banking einloggen; auch vom Ausland aus (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 2d).
Das UYAP-System ist eine vom Justizministerium betriebene Online Plattform, zu der jeder türkische Staatsbürger den Zugang beantragen kann. In diesem System kann der Privatnutzer schlagwortartig seine eigene Person betreffende Übersichten aus dem justiziellen Bereich, z.B. Art der (Straf)-Verfahren, Aktenzeichen, Gerichtsbezeichnung, Verhandlungstage einsehen. Zugang zu (Volltext-)Akteninhalten der einzelnen Verfahren wie z.B. Anklageschriften, Urteile u.a., besteht für Privatnutzer nicht (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 27.9.2018 an das BAMF, S. 2 f.). Eingesehen und ausgedruckt werden kann von Privatnutzern lediglich die o. g. Kurzübersicht. Einträge über ihre Mandanten sind für Anwälte, die den Justizbehörden die Bevollmächtigung ihrer Mandatsgeber nachgewiesen haben, auch auf elektronischen Weg zugänglich. Die Justizbehörden erteilen bevollmächtigten Rechtsanwälten den Zugang auf die im UYAP-System erfassten Eintragungen ihrer Mandanten. Bevollmächtigte Rechtsanwälte haben außer auf die oben beschriebenen Kurzübersichten dann auch Zugriff auf Volltexte und können diese herunterladen (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 11.10.2018 an das BAMF, S. 2). Dazu zählen grundsätzlich auch in e-D. und UYAP hinterlegte Informationen über Ermittlungsverfahren und Haftbefehle selbst in Verfahren mit Bezug zur G.-Bewegung („FETÖ“); lediglich im Ermittlungsstadium vor der Anklageschrift und für als „geheim“ eingestufte Ermittlungen ist der anwaltliche Anspruch auf Einsicht oder ist ein Herunterladen der Aktenbestandteile nicht oder nur eingeschränkt möglich (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 27.9.2018 an das BAMF, S. 1 f.; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 13.2.2019 an das BAMF, S. 3; auch SFH, T.: Zugang zu verfahrensrelevanten Akten vom 1.2.2019, S. 5 f., 7 f.; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 2a). Art und Umfang der Beschränkung der Akteneinsicht variieren von Fall zu Fall (so Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, T.: Zugang zu verfahrensrelevanten Akten vom 1.2.2019, S. 6 f.). Sind die Ermittlungen abgeschlossen und wird ein Gerichtsverfahren eingeleitet, bestehen solche Einschränkungen in der Regel nicht mehr; im Stadium des Gerichtsverfahrens haben der Angeklagte bzw. sein Bevollmächtigter – seit ca. Oktober 2018 auch online über UYAP – Zugriff auf die zu den Verfahrensakten gehörenden Schriftstücke und Beweismittel (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 13.2.2019 an das BAMF, S. 3). Teilweise abweichend wird berichtet, Akten der Staatsanwaltschaft in abgeschlossenen oder nicht abgeschlossenen Gerichtsverfahren seien seit Frühjahr 2018 nicht mehr über UYAP zugänglich (so SFH, T.: Zugang zu verfahrensrelevanten Akten vom 1.2.2019, S. 5); gleichwohl wird in derselben Quelle ausgeführt, dass ein Zugriff über UYAP nach Anklageerhebung üblicherweise und erst recht nach Annahme der Anklage durch das Gericht sowie nach Abschluss des Verfahrens möglich sei (so SFH, T.: Zugang zu verfahrensrelevanten Akten vom 1.2.2019, S. 8 f.). Eine Registrierung ist auch vom Ausland aus möglich (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 2a).
In der T. finden Einreisekontrollen für alle Personen statt. Bei dieser Personenkontrolle können türkische Staatsangehörige mit einem gültigen türkischen, sie zur Einreise berechtigenden Reisedokument die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 werden alle türkischen Staatsangehörigen auch auf Inlandsflügen einer fahndungsmäßigen Überprüfung unterzogen. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik T. vom 14.6.2019, S. 28 f.). Die Einreisekontrollen wurden bereits im Zuge der Flüchtlingskrise verstärkt, nicht erst seit dem Putschversuch (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 3), nun aber gezielter mit Listen mutmaßlicher G.- oder PKK-Anhänger (Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche an das VG Karlsruhe vom 17.2.2017, S. 2). Ein abgelehnter kurdischer Asylbewerber läuft bei der Rückkehr nicht Gefahr, allein wegen seiner Volkszugehörigkeit verhaftet zu werden; hat er sich in Deutschland für kurdische Rechte oder Organisationen aktiv eingesetzt oder z.B. regelmäßig an pro-kurdischen Demonstrationen teilgenommen, erhöht dies das Risiko (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 3 f., 28 f.; auch SFH ebenda S. 2, 3, 10 f.).
Angesichts der offiziellen Denunziationsaufrufe amtlicher türkischer Stellen auch in Deutschland in Tageszeitungen und DITIB-Moscheen ist aber damit zu rechnen, dass türkische Staatsangehörige in der T. und auch in Deutschland ihren Heimatbehörden Personen gemeldet haben, denen sie eine Nähe zur PKK oder zur G.-Bewegung nachsagen (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 25 ff.; AI, Stellungnahme an das VG Karlsruhe vom 9.3.2017, S. 1; AI, Auskunft an das VG Magdeburg vom 1.3.2018, S. 3). Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Wenn festgestellt wird, dass ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person ebenfalls in Polizeigewahrsam genommen (vgl. auch Auswärtiges Amt, Auskunft an das BAMF vom 17.10.2016, S. 2). Im sich anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten, wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert, ein Anwalt in der Regel hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter mit dem Antrag auf Erlass eines Haftbefehls. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn auf Grund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt. Ein Anwalt wird hinzugezogen und eine ärztliche Untersuchung vorgenommen. Der Staatsanwalt überprüft von Amts wegen, ob der Betroffene von den Amnestiebestimmungen der Jahre 1991 oder 2000 profitieren kann oder ob Verjährung eingetreten ist, dann wird der Festgenommene freigelassen (vgl. Lagebericht ebenda S. 29; zur Verjährungsprüfung auch Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach vom 20.5.2016, S. 1 f. zu Aktivist für „ATIF“, „Partizan“ und TKP-ML; Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach vom 4.4.2017, S. 2).
Verurteilungen wegen im Ausland begangener Straftaten ziehen nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amts keine Sanktionen türkischer Behörden nach sich (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach vom 4.4.2017, S. 2), soweit es sich nicht um eine politisch motivierte Straftat handele (vgl. SFH ebenda S. 10).
b) Ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 ff. AufenthG wegen einer zielstaatsbezogenen erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen, die eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung voraussetzt, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, liegt im Fall des Klägers nicht vor.
4. Nachdem sich auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG als rechtmäßig erweist, war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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