Verwaltungsrecht

Kein internationaler Schutz und kein Abschiebungsverbot für türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit

Aktenzeichen  Au 6 K 18.31623

Datum:
29.11.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 36853
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 1, § 3e, § 4 Abs. 1, Abs. 3 S. 1
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1, S. 2
GG Art. 16a
VwGO § 92 Abs. 1, Abs. 3

 

Leitsatz

1. Kurdische Volkszugehörige unterliegen in der Türkei zwar einer gewissen Diskriminierung, es fehlt aber jedenfalls an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen Verfolgungsdichte. Unabhängig davon steht Kurden in der Westtürkei trotz der auch dort problematischen Sicherheitslage und der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen eine inländische Fluchtalternative offen. (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Grundversorgung und die medizinische Versorgung sind für Rückkehrer in die Türkei jedenfalls im Umfang des absoluten Existenzminimums gesichert. (Rn. 57) (redaktioneller Leitsatz)
3. Rückkehrerinnen und Rückkehrer in die Türkei werden dort keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen. Das gilt auch für den Fall der Asylantragstellung in Deutschland. (Rn. 59 – 60) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klageverfahren werden eingestellt, soweit die Klagen hinsichtlich einer Anerkennung als Asylberechtigte zurückgenommen worden sind. Die Klagen werden im Übrigen abgewiesen.
II. Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch den jeweiligen Vollstreckungsgläubiger durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässigen Klagen sind im noch aufrecht erhaltenen Teil nicht begründet. Die Kläger haben zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die Gewährung subsidiären Schutzes oder auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 2. Oktober 2018 ist daher rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Es wird insoweit in vollem Umfang Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
1. Die Verfahrenseinstellung nach § 92 VwGO erfolgt für den zurückgenommenen Teilstreitgegenstand eines Anspruchs auf Asylanerkennung nach Art. 16a GG.
2. Die Kläger haben keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine Verfolgung i. S. des § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationale Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen – den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG – muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
Eine Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – juris) entspricht.
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassen-den Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 32).
Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU in Form einer widerlegbaren Vermutung ist im Asylerstverfahren zu beachten, wenn der Antragsteller frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung als Anhaltspunkt für die Begründetheit seiner Furcht geltend macht, dass sich die Verfolgung im Falle der Rückkehr in das Heimatland wiederholen werde. Die solchen früheren Handlungen oder Bedrohungen nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU zukommende Beweiskraft ist von den zuständigen Behörden unter der sich aus Art. 9 Abs. 3 RL 2011/95/EU ergebenden Voraussetzung zu berücksichtigen, dass diese Handlungen oder Bedrohungen eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen, den der Betreffende für seinen Antrag auf Schutz geltend macht (vgl. zum Ganzen BVerwG, B.v. 6.7.2012 – 10 B 18/12 – juris Rn. 5 unter Bezugnahme auf EuGH, U.v. 2.3.2010 – Rs. C-175/08 u.a. – juris Rn. 93; BVerwG, U.v. 5.5.2009 – 10 C 21/08 – juris Rn. 25). Die vorgenannte Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Hat der Asylbewerber seine Heimat jedoch unverfolgt verlassen, kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm auf Grund von Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – BVerwGE 136, 377/382 Rn. 18) droht.
Es ist Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
a) Die Kläger haben keine staatliche Verfolgung in der Türkei als Individualverfolgung geltend gemacht.
Hierbei ist der Bescheidsbegründung der Beklagten zu folgen, wonach die Kläger keine fluchtrelevanten an sie individuell gerichteten staatlichen Bedrohungen oder gar Übergriffe geschildert haben, sondern die Inhaftierung des Schwiegervaters/Vaters und dessen Bruders, wozu sie in der mündlichen Verhandlung Kopien von Übersetzungen eines Dolmetscherbüros vorlegten über eine Anklage gegen einen, geb. ….1980, vor der Strafkammer in, sowie ein Vernehmungsprotokoll der Staatsanwaltschaft … gegen, ohne Geburtsdatum. Der Kläger zu 1 ist zwar nach seinen Angaben im April 2017 vorübergehend für zwei Tage verhaftet, aber ohne weitere Verfahren auch wieder freigelassen worden; fluchtauslösend für die Ausreise im Juni 2018 war dies nicht. Der Klägerin zu 2 ist außer Beleidigungen und Hausdurchsuchungen nichts persönlich passiert.
Soweit die Kläger in der mündlichen Verhandlung erstmals geltend machten, Mitglieder der HDP zu sein und hierzu zwei Lichtbilder von Bestätigungen der DBP vorlegten, datierend auf den 27. Juli 2018 und unterzeichnet von einem Ortsvorsitzenden der DBP, wonach die Kläger Mitglieder der HDP seien und in den Jahren 2010 bis 2017 bzw. 2013 bis 2017 teilgenommen hätten, widerspricht dies teilweise ihren Angaben beim Bundesamt, wo der Kläger sich zwar als Mitglied bezeichnet hatte (BAMF-Akte Bl. 144), die Klägerin aber nicht (ebenda Bl. 137) und kann in ihrer Person als Steigerung des Vorbringens gewertet werden.
Wesentlich gegenüber ihrem Vorbringen beim Bundesamt gesteigert ist die Thematik einer Abriegelung des Heimatdorfes durch die Jandarma, welche die Kläger vor dem Bundesamt nicht erwähnten, aber in der mündlichen Verhandlung betonten:
So gaben sie zunächst an, sie hätten die vorgelegten Identitätskarten und Reisepässe aus der Türkei nicht selbst beantragt, sondern über einen Zwischenmann beantragt. Sie hätten es nicht gekonnt, sie würden verfolgt, sie hätten nicht aus dem Dorf herausgekonnt und zu Behörden gehen können, weil die Polizei sie daran gehindert hätte. Zwischen dem Dorf und der Polizeistation sei etwa ein Kilometer Entfernung. Die Polizei habe ständig Druck gemacht.
Auf Vorhalt ihrer Ausreise über … erklären sie, der Schleuser habe sie direkt vom Dorf geholt und nach … gebracht. Es sei eine Nacht- und Nebel-Aktion gewesen mit dem Schleuser. Der habe sie durch die Grenze ohne Grenzkontrolle gebracht bis Deutschland. Die Ehefrau ergänzte, sie hätten mit dem Passverfahren nichts zu tun gehabt, aber ihre Reisepässe abgeholt beim Konsulat in …. Beim Ausgang hätten sie die Pässe dann dem Schleuser wieder gegeben und erst wieder erhalten für die Ausreise. […] Auf Nachfrage bestätigen sie, dass sie vor ihrer Ausreise nach … bereits mit dem Schleuser in … gewesen waren. Sie seien nach … nur wegen des Konsulats gefahren und danach wieder zurück ins Dorf, das sei etwa zwei bis drei Wochen vor der endgültigen Abreise gewesen (Niederschrift vom 28.11.2018, S. 2 f.).
Auf Frage des Klägerbevollmächtigten, ob und wie die Militärpolizei sie am Verlassen des Dorfes denn gehindert habe, erklärt der Ehemann, es habe nur zwei Wege aus dem Dorf gegeben, wovon einer gesperrt gewesen sei und einer an der Polizeistation vorbeigeführt habe. Dort seien sie sofort kontrolliert worden und sie seien ständig „niedergemacht“ also beleidigt und erniedrigt worden. Die Ehefrau ergänzt bei der Rückübersetzung, deswegen hätten sie Angst gehabt überhaupt an der Polizeistation vorbeizulaufen (Niederschrift vom 28.11.2018, S. 2 f.). […] Auf Nachfrage geben die Kläger zunächst an, niemand habe sie direkt gehindert am Verlassen des Dorfs. Sie seien aber ständig bedroht worden, dass etwas passiere, wenn sie das Dorf verlassen würden. Auf Nachfrage hierzu erklären sie, man habe sie nicht aus dem Dorf gelassen (Niederschrift vom 28.11.2018, S. 4).
Auf Vorhalt, warum sie das beim Bundesamt nicht gesagt hätten, erklären sie, sie hätten den Dolmetscher nicht zu 100% verstanden. Dieser habe auch kurdisch gesprochen, aber einen anderen Dialekt. Auf Nachfrage erklären sie, eben aus Angst und Furcht allgemein (Niederschrift vom 28.11.2018, S. 4).
Auf Frage, wie die Dorfbewohner dann z.B. in die nächste Stadt zum Arzt oder zu sonstigen Erledigungen kommen können, räumt der Ehemann ein, bei einem entsprechenden Grund wie z.B. Krankheit würden sie schon durchgelassen. Es sei nicht so, dass ihnen die Festnahme drohe beim Verlassen des Dorfes. Es sei eher ein ständiger Druck.
Diese Angaben der Kläger ergeben kein in sich stimmiges Bild: Zeichneten sie eingangs der Verhandlung ein Bild eines nahezu vollends polizeilich abgeriegelten Dorfes, das zu verlassen nahezu unmöglich gewesen sei, räumten sie im Laufe der Verhandlung doch ein, niemand habe sie direkt am Verlassen des Dorfes gehindert, ja bei sachlichem Grund würden sie schon durchgelassen. Beim Verlassen des Dorfes drohe ihnen keineswegs die Verhaftung. Letztlich handelt es sich um wesentlich gesteigertes Vorbringen gegenüber dem Bundesamt, obwohl sich die Ereignisse bereits vor dem Verlassen der Türkei ereignet haben sollen und daher auch beim Bundesamt hätten erwähnt werden können. Die Erklärung, sie hätten den Dolmetscher nicht 100% verstanden, er habe einen anderen kurdischen Dialekt gesprochen, ist nicht nachvollziehbar, da die Anhörung der Klägerin am 1. August 2018 auf Türkisch stattfand, sie eingangs bestätigte, sich mit ihm verständigen zu können und sie abschließend nach Rückübersetzung bestätigte, dass es keine Verständigungsschwierigkeiten gegeben habe (BAMF-Akte Bl. 133 ff., 182), Gleiches gilt für den Ehemann (ebenda Bl. 141 ff., 181).
Die erhebliche Steigerung des Vorbringens spricht gegen die Glaubwürdigkeit der Kläger jedenfalls für diesen Teil ihres Vortrags. Hinzu kommt die Einlassung der Klägerin, bis auf einen geschilderten Vorfall mit einem Soldaten habe sie in der Türkei keine Probleme mit Polizei oder Behörden (BAMF-Akte Bl. 137). Der Einzelrichter ist daher auf Grund des Eindrucks der Kläger in der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass sich die Abriegelung des Dorfes nicht bzw. nicht so wie geschildert zugetragen haben kann und für die Kläger offensichtlich nicht so belastend war, dass sie diese bereits beim Bundesamt für erwähnungsbedürftig gehalten hätten.
Gegen ein landesweites staatliches Verfolgungsinteresse sprechen vor allem die den Klägern bis zum 27. Februar 2028 gültigen und aktuell ausgestellten türkischen Identitätskarten und erst recht die kurz vor der Ausreise am 13. März 2018 ausgestellten und bis zum 13. März 2019 gültigen türkischen Reisepässe sowie die darin enthaltenen Ausreisestempeln einer landseitigen türkischen Grenzkontrolle vom 15. Juni 2018 (BAMF-Akte Bl. 191, 197), als die Kläger nach eigenen Angaben unbehelligt ausreisen konnten. Angesichts der bekannt strengen Erteilungsvoraussetzungen für Reisepässe und der strengen Grenzkontrollen seit dem Putschversuch im Juli 2016 (dazu unten) ist nicht von einer staatlichen Verfolgung auszugehen. Soweit die Kläger dies auf ein entsprechendes Wirken des Schleusers schieben, besteht aber offenbar gegen sie keine Erteilungssperre für Reisepässe und auch kein Ausreiseverbot.
b) Die Kläger haben keine staatliche Verfolgung als Gruppenverfolgung in der Türkei geltend gemacht. Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete Gruppenverfolgung liegen auch sonst nicht vor.
Die Annahme einer Gruppenverfolgung setzt voraus, dass entweder sichere Anhaltspunkte für ein an asylerhebliche Merkmale anknüpfendes staatliches Verfolgungsprogramm oder für eine bestimmte Verfolgungsdichte vorliegen, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht.
aa) Die Kläger haben keine Gruppenverfolgung als ethnische Kurden als Vorverfolgung erlitten bzw. im Fall einer Rückkehr zu befürchten.
Kurdische Volkszugehörige zählen etwa 13 Mio. bis 15 Mio. Menschen auf dem Gebiet der Türkei und stellen noch vor Kaukasiern und Roma die größte Minderheit in der Bevölkerung der Türkei (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 13 – im Folgenden: Lagebericht); sie unterliegen demnach aufgrund ihrer Abstammung keinen staatlichen Repressionen, zumal aus den Ausweispapieren in der Regel – sofern keine spezifisch kurdischen Vornamen geführt werden – nicht hervorgeht, ob ein türkischer Staatsbürger kurdischer Abstammung ist (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 13). Der private Gebrauch der in der Türkei gesprochenen kurdischen Sprachen Kurmandschi und des weniger verbreiteten Zaza ist in Wort und Schrift keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt. Unterricht in kurdischer Sprache an öffentlichen Schulen war bis 2012 nicht erlaubt und wurde seither stufenweise bei entsprechender Nachfrage erlaubt; Dörfer im Südosten können ihre kurdischen Namen zurückerhalten. Die verfassungsrechtliche Festschreibung von Türkisch als einziger Nationalsprache bleibt jedoch erhalten und erschwert die Inanspruchnahme öffentlicher Dienstleistungen durch Kurden und Angehörige anderer Minderheiten, für die Türkisch nicht Muttersprache ist (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 13 f.). Seit der Verhängung des Notstands aber hat sich die Lage verändert: Zwei Drittel der per Notstandsdekret geschlossenen Medien sind kurdische Zeitungen, Onlineportale, Radio- und Fernsehsender, darunter auch IMC TV und die Tageszeitung „Özgür Gündem“ unter dem Vorwurf, „Sprachrohr der PKK“ zu sein (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 14).
Kurdische Volkszugehörige unterliegen damit in der Türkei zwar einer gewissen Diskriminierung. Es fehlt aber jedenfalls an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte (vgl. zur Gruppenverfolgung BVerfG, B.v. 23.1.1991 – 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 – BVerfGE 83, 216 m.w.N.; BVerwG, B.v. 24.2.2015 – 1 B 31/14 – juris). Das Gericht geht aufgrund der vorliegenden und ins Verfahren eingeführten Erkenntnismittel davon aus, dass eine Verfolgung kurdischer türkischer Staatsangehöriger jedenfalls nicht die von der Rechtsprechung verlangte Verfolgungsdichte aufweist, die zu einer Gruppenverfolgung und damit der Verfolgung eines jeden Mitglieds führt (im Ergebnis wie hier VG Aachen, U.v. 5.3.2018 – 6 K 3554/17.A – juris Rn. 51 m.w.N.). Unabhängig davon steht Kurden in der Westtürkei trotz der auch dort problematischen Sicherheitslage und der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen eine inländische Fluchtalternative offen (vgl. SächsOVG, U.v. 7.4.2016 – 3 A 557/13.A; BayVGH, B.v. 22.9.2015 – 9 ZB 14.30399, alle juris). Sie können den Wohnort innerhalb des Landes wechseln und so insbesondere in Ballungsräumen in der Westtürkei eine in der Südosttürkei auf Grund der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und PKK etwa höhere Gefährdung verringern. Keine Ausweichmöglichkeiten hingegen bestehen, soweit eine Person Ziel behördlicher oder justizieller Maßnahmen wird, da die türkischen Sicherheitskräfte auf das gesamte Staatsgebiet Zugriff haben (Lagebericht ebenda S. 22).
Dies gilt auch für die nicht ortsgebundenen Kläger. Sie waren nicht Ziel ausreisebestimmender intensiver behördlicher oder justizieller Maßnahmen, sondern machen eine allgemeine Diskriminierung und Beleidigungen und Verdächtigungen als Kurden und HDP-Anhänger geltend, welche aber nicht die Schwere einer Verfolgungshandlung erreichen. Es mag sein, dass der Kläger im April 2017 nach dem …-Fest verhaftet worden sein könnte, aber die Jandarma habe ihn auch wieder freigelassen (BAMF-Akte Bl. 145 f.). Nächtliche Durchsuchungen gab er für die Jahre 2016 und 2017 an, während die Ausreise der Kläger erst im Sommer 2018 stattfand, also nicht mehr in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit diesen Vorfällen.
bb) Die Kläger haben keine Gruppenverfolgung als Angehörige der Religionsgruppe der Aleviten als Vorverfolgung erlitten bzw. im Fall einer Rückkehr zu befürchten; sie sind Sunniten.
c) Schließlich steht den nicht staatlich verfolgten Klägern eine sichere inländische Zuflucht in der Westtürkei offen.
Die erwerbsfähigen Kläger sind – wie vom Bundesamt im angefochtenen Bescheid ausgeführt – grundsätzlich im Stande, ihr und ihres Kindes Existenzminimum – ggf. unter (ergänzender) Zuhilfenahme staatlicher Unterstützung (vgl. unten zur Existenzsicherung zu § 60 Abs. 5 AufenthG) in zumutbarer Weise zu sichern. Dass der Familienverband sogar in Deutschland reisemotivierend war, haben die Kläger selbst angegeben; sie wollen auch zum Bruder des Klägers zu 1 umverteilt werden, um von ihm unterstützt zu werden und dort Arbeit aufnehmen zu können (Klageverfahren: Au 6 K 18.1621).
Weshalb sie einen Ortswechsel nach … für unzumutbar halten, hat der Kläger vor dem Bundesamt damit begründet, man habe sie in ihrem Dorf und der Umgebung gekannt, daher sei es nicht möglich, woanders hin zu gehen; auf Vorhalt … als Großstadt erklärte der Kläger woanders in einen anderen Teil der Türkei wollte er nicht gehen, entweder in seinem Heimatort bleiben oder ganz das Land verlassen (BAMF-Akte Bl. 146 f.). Die Klägerin gab dazu an, Innerhalb der Türkei an einen anderen Ort umzuziehen, sei nicht möglich; sie trügen den Familiennamen …; egal wohin sie hingingen, man hätte gewusst, woher sie kämen (ebenda Bl. 137). Beim Kläger wird deutlich, dass er aus inneren Motiven einen Ortswechsel nicht in Erwägung zog; die Klägerin sieht sich durch ihren Familiennamen in ihrer Herkunft als identifizierbar. Das aber macht einen Ortswechsel nicht unzumutbar, zumal die unbehelligte Ausreise nach Ausstellung von Reisepässen gegen ein landesweites staatliches Verfolgungsinteresse an den Klägern spricht und für ein allenfalls regionales Gepräge der von ihnen im Heimatort erfahrenen Situation als nahe Angehörige inhaftierter bzw. eng beobachteter HDP-Mitglieder.
3. Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S. des § 4 Abs. 1 AsylG. Sie haben keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihnen bei einer Rückkehr in die Türkei ein ernsthafter Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht.
Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
Die Aufenthaltsbeendigung eines Ausländers durch einen Konventionsstaat kann Art. 3 EMRK verletzen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen und bewiesen sind, dass der Ausländer im Zielstaat einer Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt zu werden. Dann ergibt sich aus Art. 3 EMRK die Verpflichtung für den Konventionsstaat, den Betroffenen nicht in dieses Land abzuschieben (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 – 41738/10 – NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 173 m.w.N.).
a) Die Kläger haben eine ernsthafte Bedrohung, so sie eine Gefährdungslage i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG in Gestalt der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe begründen würde, nicht glaubhaft gemacht.
Die Todesstrafe ist in der Türkei abgeschafft (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 24 – im Folgenden: Lagebericht). Für extralegale Hinrichtungen liegen keine Anhaltspunkte vor. Etwaige extralegale Tötungen durch Private wie Familienangehörige („Ehrenmorde“) stellen keine „Todesstrafe“ hierzu berechtigter Institutionen dar und stehen auch in der Türkei als Kapitaldelikt unter Strafe.
b) Die Kläger haben eine ernsthafte Bedrohung, so sie eine Gefährdungslage i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wegen Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung begründen würde, nicht glaubhaft gemacht.
Unter Heranziehung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 15b RL 2011/95/EU und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK ist als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG eine absichtliche, d.h. vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden zu verstehen, die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweisen (vgl. nur EGMR, U.v. 21.1.2011 – 30696/09 – NVwZ 2011, 413 Rn. 220 m.w.N.; EGMR U.v. 25.7.2006 – 54810/00 – NJW 2006, 3117 Rn. 67; BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – NVwZ 2013, 1167 Rn. 22 ff. m.w.N.), Eine erniedrigende Behandlung setzt als Schweregrad eine Demütigung oder Herabsetzung voraus, die im Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht und geeignet sind, diese Person zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen.
Für die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines solchen ernsthaften Schadens gilt der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit („real risk“) unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise einen ernsthaften Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG erlitten hat; eine solche Vorschädigung stellt aber einen ernsthaften Hinweis darauf dar, dass er tatsächlich Gefahr läuft, (erneut) ernsthaften Schaden zu erleiden (zur Vermutungswirkung vgl. Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU.
Gleichwohl hat das Verwaltungsgericht für die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit sich nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO seine freie, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnene Überzeugung zu bilden. Auch im Asylverfahren muss die danach gebotene Überzeugungsgewissheit dergestalt bestehen, dass das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit (nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit) des behaupteten individuellen Schicksals erlangt hat. Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Betroffene insbesondere hinsichtlich der von ihm vorgetragenen Vorgänge vielfach befindet, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung, wodurch allerdings das Gericht nicht von einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist. Vielmehr darf das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen. Es muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind (vgl. zum Ganzen VGH BW, U.v. 25.4.2018 – A 11 S 924/17 – juris Rn. 32 ff.). Es ist daher zunächst Sache des Schutzsuchenden, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatstaat Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Erhebliche Widersprüche und Unstimmigkeiten im Vorbringen können dem entgegenstehen, es sei denn, diese können überzeugend aufgeklärt werden (vgl. zum Maßstab bereits oben zu § 3 AsylG).
Eine solche Gefahr besteht im Fall der Kläger nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit; auf die Würdigung ihres Vorbringens zu § 3 AsylG wird insoweit verwiesen. Bis auf die ein- oder zweitägige Verhaftung des Klägers im Jahr 2017 bestand gegen beide offenbar aktuell bei ihrer Ausreise kein Anlass für die türkische Staatsmacht, sich ihrer vor Ort zu bemächtigen. Weshalb dies nun anders sein sollte, ist nicht nachvollziehbar vorgetragen oder sonst ersichtlich geworden.
c) Soweit die Klägerin zu 2 während Kämpfen in … einem Geschoss bei einer Schießerei knapp entgegen sein will, kann dahinstehen, ob dies einen Konflikt wie den von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vorausgesetzten darstellte; von einer aktuellen entsprechenden Gefahrenlage kann nach dem Abflauen der Kämpfe aktuell keine Rede sein; ihr steht jedenfalls auch die o.g. inländische Zuflucht nach § 4 Abs. 3 Satz 1, § 3e AsylG offen.
4. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor. Auf den Bescheid des Bundesamts wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
a) Den Klägern steht kein Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu.
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Dies ist auch der Fall, wenn es dem Betroffenen nicht (mehr) gelingen würde, seine elementaren Bedürfnisse wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen (vgl. BayVGH, U.v. 21.25.2014 – 13a B 14.30285 – Asylmagazin 2015, 197) und die aus zu erwartenden schwierigen Lebensbedingungen resultierenden Gefährdungen im Einzelfall eine solche Intensität aufweisen, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist.
Hier liegen diese besonders strengen Voraussetzungen nicht vor:
aa) Die erwachsenen, gesunden und erwerbsfähigen Kläger würden – auch mit ihrem Kind – im Fall ihrer Abschiebung in die Türkei keiner besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt sein, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass ihre elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nicht gesichert wären (vgl. bereits oben zur zumutbaren inländischen Fluchtalternative). Sie haben hierzu ausgeführt, der einzige Grund, warum sie ausgereist seien, sei der Druck durch die Militärpolizei gewesen, es seien ihnen wirtschaftlich gut gegangen, sie hätten Haus, Hof und Auto gehabt und sie seien auch schon vor der Flucht verheiratet gewesen (Niederschrift vom 28.11.2018, S. 7). Dies wäre auch im Fall ihrer Rückkehr an den Herkunftsort mit dem dort lebenden Familienverband der Fall; aber auch bei einer Rückkehr an einen Ort z.B. in der Westtürkei wäre ihr Existenzminimum gesichert:
Die Grundversorgung und die medizinische Versorgung sind nach Überzeugung des Gerichts für Rückkehrer in der Türkei jedenfalls im Umfang des absoluten Existenzminimums gesichert.
In der Türkei gibt es zwar keine mit dem deutschen Recht vergleichbare staatliche Sozialhilfe. Sozialleistungen für Bedürftige werden aber über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität gewährt und von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind. Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besonderen Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 26 f. – im Folgenden: Lagebericht).
Die medizinische Versorgung durch das staatliche Gesundheitssystem hat sich in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert, vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite vor allem in ländlichen Provinzen bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet. Landesweit gab es im Jahr 2013 1.517 Krankenhäuser mit einer Kapazität von 202.031 Betten, davon ca. 60% in staatlicher Hand. Die Behandlung bleibt für die bei der staatlichen Krankenversicherung Versicherten mit Ausnahme der „Praxisgebühr“ unentgeltlich. Grundsätzlich können sämtliche Erkrankungen in staatlichen Krankenhäusern angemessen behandelt werden, insbesondere auch chronische Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, Aids, Drogenabhängigkeit und psychiatrische Erkrankungen. Wartezeiten in den staatlichen Krankenhäusern liegen bei wichtigen Behandlungen/Operationen in der Regel nicht über 48 Stunden. In vielen staatlichen Krankenhäusern ist es jedoch (nach wie vor) üblich, dass Pflegeleistungen nicht durch Krankenhauspersonal, sondern durch Familienangehörige und Freunde übernommen werden. Durch die zahlreichen Entlassungen nach dem gescheiterten Putschversuch, von denen auch der Gesundheitssektor betroffen ist, kommt es nach Medienberichten gelegentlich zu Verzögerungen bei der Bereitstellung medizinischer Dienstleistungen (vgl. Lagebericht ebenda S. 27). Psychiater praktizieren und zwölf psychiatrische Fachkliniken mit einer Bettenkapazität von rund 4.400 standen im Jahr 2011 zur Verfügung, weitere Betten gibt es in besonderen Fachabteilungen einiger Regionalkrankenhäuser. Auch sind therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige vorhanden (vgl. Lagebericht ebenda S. 27; zur Behandlung psychischer Erkrankungen auch S. 34 f.).
Zum 1. Januar 2012 hat die Türkei eine allgemeine, obligatorische Krankenversicherung eingeführt für alle Personen mit Wohnsitz in der Türkei mit Ausnahmen u.a. für Soldaten/Wehrdienstleistende und Häftlinge. Die obligatorische Krankenversicherung erfasst u. a. Leistungen zur Gesundheitsprävention, stationäre und ambulante Behandlungen und Operationen, Laboruntersuchungen, zahnärztliche Heilbehandlungen sowie Medikamente, Heil- und Hilfsmittel. Unter bestimmten Voraussetzungen sind auch Behandlungen im Ausland möglich. Nicht der Sozialversicherungspflicht unterfallende türkische Staatsbürger mit einem Einkommen von weniger als einem Drittel des Mindestlohns können von der Beitragspflicht befreit werden. Bei einem Einkommen zwischen einem Drittel und dem doppelten Mindestlohn gelten ermäßigte Beitragssätze. Bis Mitte des Jahres 2014 haben sich rund 12 Mio. Türken einer solchen Einkommensüberprüfung unterzogen, für rund 8 Mio. von ihnen hat der Staat die Zahlung der Beiträge übernommen (vgl. Lagebericht ebenda S. 28).
Die für eine gesundheitliche Versorgung mittelloser türkischer Staatsbürger bisher geltenden „Grünen Karten“ (2011: knapp 9 Millionen Inhaber) sind ausgelaufen, ihre Inhaber sollen in die allgemeine Krankenversicherung überwechseln. Für Kinder bis zum Alter von 18 bzw. 25 Jahren, Ehepartner und (Schwieger-)Elternteile ohne eigenes Einkommen besteht die Möglichkeit einer Familienversicherung. Besondere Beitragsregelungen gelten schließlich auch für Bezieher von Alters- und Erwerbsminderungsrenten (vgl. Lagebericht ebenda S. 29).
bb) Die Kläger würden im Fall ihrer Abschiebung in die Türkei auch nicht wegen einer Asylantragstellung unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.
Rückkehrerinnen und Rückkehrer werden nach vorliegenden Erkenntnissen keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen. Dem Auswärtigen Amt und türkischen Menschenrechtsorganisationen, zu denen die Deutsche Botschaft engen Kontakt unterhält, ist in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten – dies gilt auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen – gefoltert oder misshandelt worden ist (vgl. Lagebericht ebenda S. 29).
Aufgrund eines Runderlasses des türkischen Innenministeriums dürfen keine Suchvermerke (insbesondere für Wehrdienstflüchtlinge oder zur Fahndung ausgeschriebene Personen) mehr ins Personenstandsregister eingetragen werden; vorhandene Suchvermerke sollen Angaben türkischer Behörden zufolge im Jahr 2005 gelöscht worden sein (vgl. Lagebericht ebenda S. 29).
Unbegleitet zurückkehrende Minderjährige finden in der Regel Aufnahme bei Verwandten, sonst im Einzelfall ggf. in einem Waisenhaus oder Kinderheim. in letzterem Fall sollten die zuständigen türkischen Behörden rechtzeitig informiert werden (vgl. Lagebericht ebenda S. 29).
In der Türkei finden Einreisekontrollen für alle Personen statt. Bei dieser Personenkontrolle können türkische Staatsangehörige mit einem gültigen türkischen, sie zur Einreise berechtigenden Reisedokument die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 werden alle türkischen Staatsangehörigen auch auf Inlandsflügen einer fahndungsmäßigen Überprüfung unterzogen. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier (vgl. Lagebericht ebenda S. 29). Die Einreisekontrollen wurden bereits im Zuge der Flüchtlingskrise verstärkt, nicht erst seit dem Putschversuch (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 3), nun aber gezielter mit Listen mutmaßlicher Gülen- oder PKK-Anhänger (Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche an das VG Karlsruhe vom 17.2.2017, S. 2). Ein abgelehnter kurdischer Asylbewerber läuft bei der Rückkehr nicht Gefahr, allein wegen seiner Volkszugehörigkeit verhaftet zu werden; hat er sich in Deutschland für kurdische Rechte oder Organisationen aktiv eingesetzt oder z.B. regelmäßig an pro-kurdischen Demonstrationen teilgenommen, erhöht dies das Risiko (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 3 f., 28 f.; auch SFH ebenda S. 2, 3, 10 f.).
Da die Kläger zwar nach dem Putsch aber auf dem Landweg nachweislich streng kontrolliert die Türkei verlassen haben, ist nicht damit zu rechnen und auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass sie mit dem Putsch in Verbindung gebracht würden. Die Einreisekontrollen als solche stellen keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung dar.
b) Ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 ff. AufenthG wegen einer zielstaatsbezogenen erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen, die eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung voraussetzt, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, liegt im Fall der Kläger nicht vor. Wegen des hohen medizinischen Standards in der Türkei (vgl. oben) wären dort auch Hilfen in der Schwangerschaft und bei Zahnschmerzen, wie von der Klägerin zu 2 geltend gemacht, erreichbar.
5. Nachdem sich auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG – mangels noch stärker zu berücksichtigender schutzwürdiger Belange der Kläger – als rechtmäßig erweist, waren die Klagen mit der Kostenfolge des § 92 Abs. 1 und Abs. 3, § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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