Verwaltungsrecht

Kein nationales Abschiebungsverbot – Kosovo

Aktenzeichen  21 B 18.30691

Datum:
11.10.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 26783
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK Art. 8

 

Leitsatz

Der Schutz des Familienlebens im Bundesgebiet nach Art. 8 EMRK begründet kein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG, das im Asylverfahren berücksichtigungsfähig ist; etwaige geschützte Bindungen sind allein von der Ausländerbehörde im aufenthaltsrechtlichen Verfahren zu prüfen. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

AN 1 K 16.30006 2016-10-10 Urt VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 10. Oktober 2016 wird hinsichtlich der Kläger zu 1) bis 4) geändert:
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 21. Dezember 2015 wird in Nr. 6 aufgehoben. Im Übrigen werden die Klagen abgewiesen.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
II. Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.
Die Kläger, kosovarische Staatsangehörige, begehren die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten. Die Kläger zu 1) und 2) sind die Eltern der im Jahre 2003 geborenen Klägerin zu 3) und des im Jahre 2006 geborenen Klägers zu 4).
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) lehnte mit Bescheid vom 21. Dezember 2015 die Asylanträge der Kläger und der im Jahr 2013 geborenen Tochter ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4), drohte unter Ausreiseaufforderung die Abschiebung in den Kosovo innerhalb von 30 Tagen an (Nr. 5) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot (§ 11 Abs. 1 AufenthG) auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 6).
Hiergegen erhoben die Kläger und die im Jahr 2013 geborene Tochter – im verwaltungsgerichtlichen Verfahren die Klägerin zu 5) – Klage.
Das Verwaltungsgericht verpflichtete die Beklagte mit Urteil vom 10. Oktober 2016 unter Aufhebung der Nrn. 4 bis 6 des Bescheids festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich aller Kläger vorliegen und stellte das Verfahren nach teilweiser Klagerücknahme im Übrigen ein. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Kläger hätten als Familieneinheit einen Rechtsanspruch auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, da zumindest der Klägerin zu 5) im Kosovo eine erhebliche konkrete Gefahr für ihre Gesundheit drohe. Aus medizinischer Sicht sei der Aufenthalt der Familie in Deutschland notwendig, um die Gesundheit der Klägerin zu 5) wahren zu können.
Mit Beschluss vom 23. März 2018 hat der Senat im Hinblick auf die Klägerin zu 5) den Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung abgelehnt (21 ZB 16.30610). Damit wurde das Urteil des Verwaltungsgerichts insoweit rechtkräftig. Die vormalige Klägerin zu 5) ist seither im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 3 AufenthG.
Mit der vom Senat im Hinblick auf die Kläger zu 1) bis 4) zugelassenen Berufung macht die Beklagte geltend, dass individualbezogene Anhaltspunkte für das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen bei den Klägern zu 1) bis 4) nicht vorliegen. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts fielen unter den von der Beklagten festzustellenden nationalen Abschiebungsschutz keine trennungsbedingten, sondern nur zielstaatsbezogene Beeinträchtigungen. Der Aspekt der zu wahrenden Familieneinheit könne keinen durch die Beklagte für die Person von nahen Angehörigen festzustellenden Abschiebungsschutz vermitteln.
Die Beklagte beantragt,
unter Abänderung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung die Klagen abzuweisen, soweit ihr bezüglich der Kläger zu 1) bis 4) stattgegeben wurde.
Die Kläger haben im Berufungsverfahren keinen Antrag gestellt.
Mit gerichtlichem Schreiben vom 28. Juni 2018 wurden die Beteiligten zu einer Entscheidung nach § 130a VwGO angehört.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die Behördenakten verwiesen.
II.
Die zulässige Berufung der Beklagten hat größtenteils Erfolg.
Der Senat entscheidet nach vorheriger Anhörung der Beteiligten über die Berufung gemäß § 130a VwGO durch Beschluss, weil er sie einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält (§ 130a Satz 2, § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO).
1. Die Berufung ist größtenteils begründet.
Die Kläger haben – nach bestandskräftiger Ablehnung des Anspruchs auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes – entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts im Urteil vom 10. Oktober 2016 – keinen Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 S. 1 AufenthG in Bezug auf den Kosovo (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Die in Nr. 6 des Bescheids getroffene Befristungsentscheidung gem. § 11 Abs. 2 AufenthG ist hingegen im maßgeblichen Zeitpunkt rechtswidrig (arg. § 77 Abs. 1 AsylG, Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 11 Rn. 86), so dass deren Aufhebung im Urteil des Verwaltungsgerichts im Ergebnis zutrifft (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Insoweit ist daher die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
1.1 Den Klägern steht der begehrte nationale Abschiebungsschutz (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG) nicht zu. Bei diesen nationalen Abschiebungsverboten handelt es sich – bezogen auf den jeweiligen Abschiebezielstaat – um einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Streitgegenstand (BVerwG, U.v. 24.6.2008 – 10 C 43.07 – juris). Das Verwaltungsgericht hat zu Unrecht ein Abschiebungsverbot für die Kläger zu 1) bis 4) allein aus der „Wahrung der Familieneinheit“ im Bundesgebiet hergeleitet, weil es hinsichtlich der im Jahre 2013 geborenen Tochter bzw. Schwester der Kläger aus gesundheitlichen Gründen die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots gem. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bejaht hat. Darüber hinaus wurden weder im verwaltungsgerichtlichen Verfahren noch im Berufungsverfahren sonstige Umstände vorgetragen, aus denen sich nationaler Abschiebungsschutz in der Person der Kläger zu 1) bis 4) ergeben könnte.
1.1.1 Die Kläger haben keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens).
§ 60 Abs. 5 AufenthG verweist auf die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten lediglich insoweit, als sich daraus Abschiebungsverbote ergeben, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen (sog. zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote). Konsequenterweise kann das Bundesamt im verwaltungsgerichtlichen Asylrechtsstreit auch nur im Hinblick auf zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote zur Feststellung verpflichtet werden (vgl. BVerwG, U.v. 11.11.1997 – 9 C 13.96 – BVerwGE 105,322 zur Vorgängervorschrift des § 53 Abs. 4 AuslG). Die Ausländerbehörde bleibt demgegenüber für die Durchführung der Abschiebung und dabei auch für die Entscheidung über alle inlandsbezogenen und sonstigen tatsächlichen Vollstreckungshindernisse zuständig. Zu einem solchen ausschließlich von der Ausländerbehörde zu prüfenden Vollstreckungshindernis zählt auch ein etwaiges Verbot durch Abschiebung eine mit Art. 6 GG nicht vereinbare Trennung von Familienmitgliedern zu bewirken (vgl. BVerwG, B.v. 10.10.2012 – 10 B 39.12 – juris). Der Schutz des Familienlebens im Bundesgebiet nach Art. 8 EMRK begründet deshalb kein Abschiebungsverbot, das im Asylverfahren berücksichtigungsfähig ist. Etwaige durch Art. 8 EMRK geschützte Bindungen der Kläger im Bundesgebiet sind allein von der Ausländerbehörde im aufenthaltsrechtlichen Verfahren zu prüfen (vgl. etwa BVerwG, U.v. 27.6.2006 – 1 C 14.05 – juris; VGH BW, U.v. 13.12.2012 – A 2 S 1995/12 – juris).
1.1.2 Auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Kosovo liegen nicht vor. Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht (§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG). In der Person der Kläger zu 1) bis 4) sind diese tatbestandlichen Voraussetzungen nicht vorgetragen und nicht ersichtlich. Soweit es um die Aufrechterhaltung des Familienverbandes der Kläger zu 1) bis 4) mit der im Jahre 2013 geborenen Tochter geht, berufen sich die Kläger auf ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, weil der Vollzug der Abschiebung die Verletzung eines geschützten Rechtsguts im Bundesgebiet bedeuten könnte. Derartige Vollstreckungshindernisse sind jedoch – wie ausgeführt – nicht vom Bundesamt im Asylverfahren, sondern von der Ausländerbehörde im Vollstreckungsverfahren zu berücksichtigen. Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung in Nr. 5 des Bescheids im Hinblick auf die Kläger zu 1) bis 4) bestehen nicht (§ 34, § 38 Abs. 1 AsylG).
1.2 Soweit sich die Berufung der Beklagten gegen die Aufhebung der Anordnung in Nr. 6 des Bescheids (Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots) durch das Verwaltungsgericht richtet, ist sie unbegründet. Der Bescheid ist insoweit rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot des § 11 Abs. 1 AufenthG ist von Amts wegen zu befristen (§ 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Über die Länge der Frist wird nach Ermessen entschieden (§ 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Dabei sind von der zuständigen Behörde – im Fall einer Abschiebungsandrohung nach § 34 AsylG das Bundesamt, § 75 Nr. 12 AufenthG – u.a. die im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK schutzwürdigen familiären Belange des Ausländers sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist für die gerichtliche Überprüfung der Befristungsentscheidung auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen, so dass das Bundesamt auch während des gerichtlichen Verfahrens eine Pflicht zur ständigen verfahrensbegleitenden Kontrolle der Rechtmäßigkeit seiner Befristungsentscheidung und ggf. zur Ergänzung seiner Ermessenserwägungen trifft (für eine mit einer Ausweisungsverfügung der Ausländerbehörde verbundene Befristungsentscheidung: BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 27.16 – juris). Geht man ungeachtet der Rechtsgrundlage für die Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots durch das Bundesamt in § 11 Abs. 2 AufenthG vom Vorliegen einer Streitigkeit nach dem Asylgesetz aus (so Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 11 Rn. 86 m.w.N.; a.A. Hofmann, Ausländerrecht 2. Aufl. 2016 § 11 Rn. 102), ergibt sich der entsprechende maßgebliche Zeitpunkt aus § 77 Abs. 1 AsylG.
Die behördliche Befristungsentscheidung unterliegt auch als Ermessensentscheidung über § 114 Abs. 1 Satz 1 VwGO einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 27.16 – juris). Die Beklagte hat als wesentliche Ermessenserwägung nicht in ihre Entscheidung eingestellt, dass die im Jahr 2013 geborene Tochter bzw. Schwester der Kläger seit März 2018 im Bundesgebiet eine Aufenthaltserlaubnis besitzt (§ 25 Abs. 3 AufenthG). Die Befristungsentscheidung ist mithin im maßgeblichen Zeitpunkt (arg. § 77 Abs. 1 AsylG) ermessensfehlerhaft und damit aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
2. Die Kosten beider Instanzen haben die Kläger zu tragen, da die Beklagte nur zu einem geringen Teil unterlegen ist (§ 154 Abs. 1, § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO). Das Verfahren ist gem. § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
3. Die Revision wird nicht zugelassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben