Verwaltungsrecht

Keine Abschiebung nach Nigeria wegen diverser Krankheiten

Aktenzeichen  W 10 S 20.30925

Datum:
27.8.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 21659
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1, § 36 Abs. 4, § 71a Abs. 4
AufenthG § 60 ABs. 5, Abs. 7, § 60a Abs. 1, Abs. 2c S. 2, S. 3
GG Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1
VwGO § 80 Abs. 5

 

Leitsatz

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers (Az.: W 10 K 20.30924) gegen die Abschiebungsandrohung unter Ziffer 3 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. Juli 2020 (Gz.: …*) wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt einstweiligen Rechtsschutz gegen eine sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung nach Nigeria.
1. Der Antragsteller ist nach eigenen Angaben ein am … … 1957 in Benin City, Nigeria, geborener nigerianischer Staatsangehöriger. Er beantragte am 15. März 2019 nach seiner Einreise aus Italien kommend Asyl. Aufgrund der Angaben des Antragstellers in der Erstbefragung am 29. März 2019 vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) sowie in der Anhörung zur Zulässigkeit seines Asylantrags am 17. April 2019 wurde der Asylantrag zunächst auf der Grundlage des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG wegen anderweitiger Schutzgewährung in Italien als unzulässig abgelehnt (Bescheid des Bundesamtes vom 6.5.2019). Nach Aufhebung dieser Entscheidung lehnte das Bundesamt mit Bescheid vom 29. Mai 2019 den Asylantrag erneut als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung nach Italien an. Gestützt war die Unzulässigkeitsentscheidung auf § 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG, da für den Asylantrag ein anderer Mitgliedstaat zuständig sei. Dem Antragsteller sei in Italien kein internationaler Schutz, sondern lediglich ein humanitäres Aufenthaltsrecht gewährt worden. Mit Schreiben vom 27. Mai 2019 hatte das italienische Innenministerium seine Bereitschaft zur Wiederaufnahme des Antragstellers unter Bezugnahme auf Art. 12 Abs. 1 und 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 604/2013 vom 26. Juni 2013 (Dublin III-VO) erklärt.
Nachdem die Überstellung des Antragstellers nach Italien an dessen (passivem) Widerstand gescheitert und in der Folge die Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO abgelaufen war, hob das Bundesamt den im Dublin-Verfahren ergangenen Bescheid mit Wirkung vom 17. März 2020 auf. Das gegen diesen Bescheid anhängige Klageverfahren wurde mit Beschluss des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 26. März 2020 eingestellt (Az.: W 10 K 19.50533).
2. Mit Schreiben vom 11. Mai 2020 teilte das italienische Innenministerium dem Bundesamt mit, dass die Asylklage des Antragstellers in Italien am 6. September 2018 abgewiesen worden sei. Am 3. Oktober 2018 sei ihm eine für zwei Jahre gültige Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen erteilt worden. Das Asylverfahren sei damit rechtlich und formal abgeschlossen (Bl. 491 der Bundesamtsakte).
Daraufhin lehnte das Bundesamt mit Bescheid vom 29. Juli 2020 den Asylantrag als unzulässig ab (Ziffer 1 des Bescheides), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2), forderte den Antragsteller zur Ausreise innerhalb von einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheides auf und drohte die Abschiebung nach Nigeria an (Ziffer 3). Des Weiteren wurde unter der Ziffer 3 die Vollziehung der Abschiebungsandrohung und der Lauf der Ausreisefrist bis zum Ablauf der einwöchigen Klagefrist und für den Fall einer fristgerechten Stellung eines Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage bis zur Bekanntgabe der Ablehnung des Eilantrags durch das Verwaltungsgericht ausgesetzt. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde angeordnet und auf 45 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4).
Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig wurde auf § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG i.V.m. § 71a Abs. 1 AsylG gestützt, da der Antragsteller bereits in Italien ein Asylverfahren erfolglos durchlaufen und in der Anhörung vor dem Bundesamt am 17. April 2019 nach eigener Aussage dieselben Gründe wie in Italien vorgetragen habe. Da sich das Vorbringen des Antragstellers gegenüber dem Bundesamt in der Gesamtschau auf Umstände beziehe, welche sich bereits im Herkunftsland bzw. vor seiner Ankunft in Europa ereignet haben sollten, könnten diese mit Blick auf das in Italien erfolglos abgeschlossene Asylverfahren keine nachträgliche Änderung der Sachlage zugunsten des Antragstellers begründen. Zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Im Übrigen wird auf die Gründe des Bescheides verwiesen.
Der Bescheid wurde ausweislich der Behördenakte am 31. Juli 2020 als Einschreiben zur Post gegeben (Bl. 536 der Bundesamtsakte).
3. Am 7. August 2020 ließ der Antragsteller beim Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg Klage erheben, über die noch nicht entschieden ist (Az.: W 10 K 20.30924).
Zugleich beantragte er im vorliegenden Verfahren,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung von Klage und Antrag wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass zugunsten des Antragstellers die nationalen Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG hinsichtlich Nigeria eingreifen würden. Bei dem Antragsteller handle es sich um einen 63-jährigen Nigerianer, der zudem an Bluthochdruck (Hypertonie) – hierzu wurde im vorhergehenden Klageverfahren Az.: W 10 K 19.50533 ein ärztliches Attest vorgelegt – sowie bisher ungeklärten Knochenschmerzen leide. Bereits aufgrund seines fortgeschrittenen Alters handle es sich bei ihm nach deutschen Maßstäben um eine Person im Rentenalter, welche zu den vulnerablen Personen im Sinne des Art. 21 f. der EU-Aufnahmerichtlinie zähle. Sollte der Antragsteller gezwungen sein, nach Nigeria zurückzukehren, so bestehe für ihn dort keine Möglichkeit einer Rückkehr in eine familiäre gesicherte Situation, da dies seine verbleibenden Verwandten in Gefahr brächte. Gerade in den afrikanischen Staaten sei aber für den Einzelnen und insbesondere für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland ein entsprechendes familiäres Netz im Heimatland besonders wichtig, um die Wiedereingliederung in die Gesellschaft und damit die Sicherung des Existenzminimums zu schaffen. Anderenfalls sei mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass der Antragsteller in eine existenzielle Notlage gerate, was aufgrund des risikoerhöhenden Faktors der Vulnerabilität als Mensch hohen Alters verstärkt gelte und damit einer erniedrigenden und unmenschlichen Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK gleichzusetzen sei. Wie der Antragsteller als 63-Jähriger mit diversen Erkrankungen überhaupt einer Arbeit in Nigeria nachkommen sollte, welche ihm den Lebensunterhalt sichere, sei fraglich. Entsprechend sei seine Abschiebung zumindest hilfsweise nach § 60 Abs. 5 AufenthG unzulässig. Aus diesen Gründen seien auch die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot rechtswidrig. Daraus ergebe sich, dass das Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der sofortigen Vollziehbarkeit des Bescheides das öffentliche Vollzugsinteresse überwiege. Der Antragsteller sei hinsichtlich seines Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit schutzwürdig und schutzbedürftig. Dieses Interesse überwiege das öffentliche Interesse daran, ihn in den Rückführungszielstaat Nigeria zu überführen und eine ordnungsgemäße Durchführung des Asylverfahrens zu gewährleisten.
Des Weiteren wurde beantragt, dem Antragsteller für das Klage- und Antragsverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen und die bevollmächtigte Rechtsanwältin beizuordnen, wobei die nach § 117 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 166 VwGO erforderliche Erklärung zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen bislang nicht vorgelegt wurde.
Für die Antragsgegnerin beantragt das Bundesamt, den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wurde auf den angefochtenen Bescheid Bezug genommen.
4. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- sowie der vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung unter Ziffer 3 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. Juli 2020 anzuordnen, ist begründet und hat daher auch in der Sache Erfolg.
1. Der Antrag ist zulässig.
Insbesondere ist der Antrag gemäß §§ 71a Abs. 4, 36 Abs. 3 des Asylgesetzes – AsylG i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO statthaft, soweit er sich gegen die kraft Gesetzes sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung richtet (§ 88 VwGO), und wurde fristgerecht gemäß § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG bei Gericht gestellt.
2. Der Antrag ist auch begründet, weil die Entscheidung des Bundesamtes, zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote zugunsten des Antragstellers nicht festzustellen und die Abschiebung nach Nigeria anzudrohen, ernstlichen Zweifeln begegnet (§ 71a Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 4 AsylG).
a) Gegenstand des verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens nach § 36 Abs. 3 und 4 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO ist die von der Antragsgegnerin ausgesprochene Abschiebungsandrohung, beschränkt auf die sofortige Vollziehbarkeit. Nach § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die aufschiebende Wirkung der Klage nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen. Nach diesem Maßstab darf die Vollziehung der aufenthaltsbeendenden Maßnahmen nur dann ausgesetzt werden, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme im maßgeblichen Zeitpunkt der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhalten wird (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – DVBl. 1996, 729, juris). Dabei genügt auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes keine summarische Prüfung, weil mit dem Vollzug einer rechtswidrigen Abschiebungsandrohung Grundrechtsverletzungen verbunden sind und effektiver Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren wegen der sofortigen Vollziehbarkeit der Abschiebungsandrohung nicht mehr möglich ist (vgl. BVerfG, B.v. 23.7.2020 – 2 BvR 939/20 – juris Rn. 18). Es gelten deshalb auch im vorliegenden Fall einer Ablehnung des Zweitantrags gemäß § 71a Abs. 4 AsylG auch für den Fall, dass auf einen Zweitantrag ein weiteres Asylverfahren nicht durchgeführt wird die Kriterien, welche das Bundesverfassungsgericht zur Offensichtlichkeitsprüfung im Rahmen eines Eilverfahrens gegen eine Abschiebungsandrohung aufgrund der Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet aufgestellt hat. Danach darf sich das Verwaltungsgericht nicht mit einer bloßen Prognose der voraussichtlichen Richtigkeit des Offensichtlichkeitsurteils begnügen, sondern muss die Frage der Offensichtlichkeit, wenn es sie bejahen will, erschöpfend, wenngleich mit Verbindlichkeit allein für das Eilverfahren klären und insoweit über eine lediglich summarische Prüfung hinausgehen (BVerfG, B.v. 23.7.2020 – 2 BvR 939/20 – juris Rn. 18; B.v. 25.2.2019 – 2 BvR 1193/18 – juris Rn. 21). Allerdings bleiben bei dieser Prüfung von den Beteiligten nicht angegebene und nicht gerichtsbekannte Tatsachen und Beweismittel gemäß § 36 Abs. 4 Satz 2 AsylG unberücksichtigt (vgl. BVerfG, B.v. 23.7.2020 – 2 BvR 939/20 – juris Rn. 18). Das Vorbringen, welches nach § 25 Abs. 3 AsylG im Verwaltungsverfahren unberücksichtigt geblieben ist, sowie dort nicht angegebene Tatsachen und Umstände im Sinne des § 25 Abs. 2 AsylG kann das Gericht gemäß § 36 Abs. 4 Satz 3 AsylG unberücksichtigt lassen, wenn anderenfalls die Entscheidung verzögert würde.
b) Gemessen an diesen Grundsätzen bestehen im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 AsylG) ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der vom Bundesamt getroffenen Entscheidung zu den zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten. Dem Antragsteller steht voraussichtlich wegen seines erhöhten Risikos eines schweren oder gar tödlichen Verlaufs einer Covid-19-(Corona-)Erkrankung ein Anspruch auf Feststellung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbotes hinsichtlich Nigerias in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG zu. In der Folge bestehen ernstliche Zweifel auch hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung nach Nigeria, welche das Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten hinsichtlich dieses Staates voraussetzt, sowie der Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots für den Fall der Abschiebung gemäß § 11 Abs. 1 und 3 Satz 1 AufenthG (Ziffer 4 des Bescheides). Schon aus diesen Gründen überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers im maßgeblichen Zeitpunkt das öffentliche Vollzugsinteresse, weshalb der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung Erfolg haben muss.
aa) Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG sind jedoch Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, welcher der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein und in bestimmte Staaten für längstens drei Monate ausgesetzt wird.
Mangels einer derartigen Abschiebestopp-Anordnung stellt die derzeitige Corona-Pandemie u.a. in Nigeria eine allgemeine Gefahr dar, die aufgrund der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG grundsätzlich nicht rechtfertigen kann. Diese Sperrwirkung kann nur im Wege einer verfassungskonformen Auslegung eingeschränkt werden, wenn für den Schutzsuchenden ansonsten eine verfassungswidrige Schutzlücke besteht (vgl. BVerwG, U.v. 24.6.2008 – 10 C 43.07 – juris Rn. 32 m.w.N.). Im Hinblick auf die Gefahr, dass der Antragsteller sich in Nigeria mit dem SARS-COV-2-Virus infiziert bzw. auch dort zur Bekämpfung der weiteren Ausbreitung des Virus bestehende Einschränkungen des Wirtschaftslebens und die daraus resultierende Versorgungslage kann er Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1, 6 AufenthG wie ausgeführt nur ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, dem Antragsteller trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab. Die drohenden Gefahren müssen nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Die Gefahren müssen dem Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Nach diesem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad muss eine Abschiebung dann ausgesetzt werden, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“ (BVerwG, U.v. 12.7.2001 – 1 C 5.01 – BVerwGE 115, 1 m.w.N. – juris). Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert würde (vgl. BVerwG, U.v. 29.9.2011 – 10 C 24.10 – BVerwGE 137, 226 – juris).
bb) Die Gesamtsituation bezüglich des Verlaufs der Covid-19-Pandemie in Afrika und insbesondere im Herkunftsland des Antragstellers, Nigeria, stellt sich im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) nach den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln bzw. allgemein zugänglichen Quellen wie folgt dar:
In der Region Afrika sind inzwischen insgesamt fast 304.000 Infizierte und über 6.000 Verstorbene gemeldet. Innerhalb der letzten 14 Tage hat sich die Zahl der Erkrankten fast verdreifacht. Die höchsten Fallzahlen liegen weiterhin in Südafrika (151.209 Fälle). Hier wurde am 2. Juni 2020 die bisher höchste Neuinfektionsrate von 8.124 Neuerkrankungen innerhalb von einem Tag registriert. Auch in Nigeria, Senegal, Äthiopien und Kenia kommt es zu einem Anstieg (vgl. Gesundheitsdienst des Auswärtigen Amtes, COVID-19, Informationen für Beschäftigte und Reisende, Stand 2.7.2020, S. 1, https://www.auswaertiges-amt.de/blob/2294930/b5b71797aa9c9568fde4aad3575efae0/ncov-data.pdf, abgerufen am 27.8.2020; vgl. auch – allerdings mit nicht mehr aktuellen absoluten Zahlen – Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Kurzinformation der Staatendokumentation – Afrika, Covid-19, Aktuelle Lage vom 10.7.2020, S. 1 f.). Nach dem Stand vom 10. Juni 2020 kam in Nigeria auf 17.496 Einwohner ein Infizierter. Bezogen auf Nigeria bedeutet dies, dass das Land bisher eine ungewöhnliche, sehr linear verlaufende Kurve der Neuinfektionen aufweist. Der lineare Anstieg setzte sich bisher trotz der ergriffenen Maßnahmen konsequent fort (vgl. BFA, a.a.O., Stand: 10.6.2020, S. 7).
In Nigeria gibt es im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung insgesamt 52.800 bestätigte Infizierte, was einen Anstieg von 252 innerhalb von 24 Stunden bedeutet. Von den bestätigten Infektionsfällen sind 39.964 genesen. Des Weiteren sind 1.007 Todesopfer zu beklagen (vgl. National Centre for Disease Control, NCDC, Covid-19 Situation Report Nr. 179 vom 25.8.2020, im Internet abrufbar unter: https://ncdc.gov.ng/diseases/sitreps/?cad=14+name=an%20update%20of%20COVID-19%20outbreak%20in%20nigeria, Abruf am 27.8.2020). Von den bestätigten Infektionsfällen entfallen 64% auf Männer. Die am stärksten von der Infektion betroffene Altersgruppe sind Personen im Alter von 31 bis 40 Jahren mit einem Anteil von 25%.
Die vorhandenen Behandlungskapazitäten in Nigeria sind bei Weitem nicht ausreichend. Nach Angaben des nigerianischen Gesundheitsministers vom 29. Mai 2020 soll es in 35 Bundesstaaten und in Abuja derzeit 112 Behandlungs- und Isolationszentren mit insgesamt über 5.000 Fällen geben. Nicht alle Bundesstaaten verfügen bisher jedoch über die ihnen vorgeschriebene Mindestzahl von jeweils 300 Betten. Bereits am 27. Mai 2020 warnte die Presidential Task Force, dass die Regierung weiter steigende Covid-19-Fälle nicht mehr bewältigen könne. Problematisch sind des Weiteren die geringen Testkapazitäten, so gab es bis Ende Februar 2020 für die nigerianische Bevölkerung mit über 200 Millionen Einwohnern lediglich vier Testlabore, welche zu einem Covid-19-Test in der Lage waren. Auch Ende Mai 2020 gab es erst 26 Testlabore, verteilt auf 16 Bundesstaaten und die Hauptstadt Abuja. Es werden lange Wartezeiten auf Testergebnisse beklagt (vgl. zum Ganzen: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport Covid-19, Stand: Juni 2020). Bis Ende Mai 2020 waren in Nigeria erst rund 61.000 Tests erfolgt, weshalb die tatsächliche Inzidenz des Virus im Land unbekannt ist (vgl. BAMF, a.a.O., S. 28). Das Verhältnis von durchgeführten Tests zur Einwohnerzahl weist Nigeria als eines der am wenigsten aktiven Länder Afrikas aus (auf 2.787 Einwohner kommt ein Test). Dementsprechend ist die Dunkelziffer für Nigeria hoch (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, a.a.O., S. 7). Trotz entsprechender Ermahnungen durch das Gesundheitsministerium gab es am 28. Mai 2020 nach wie vor Fälle, in welchen Krankenhäuser die Aufnahme erkrankter Personen wegen einer befürchteten Corona-Infektion verweigerten. Es besteht daher die Befürchtung, dass aufgrund solcher Fälle der Nichtbehandlung von Krankheiten, welche nicht im Zusammenhang mit der Pandemie stehen, bisher mehr Menschen gestorben seien als an Covid-19 selbst (vgl. BAMF, a.a.O., S. 28).
cc) Was das individuelle Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs für eine nach Nigeria zurückkehrende Person angeht, so kommt es nach den bisherigen Erkenntnissen zu COVID-19 (vgl. z.B. Gesundheitsdienst des Auswärtigen Amtes, a.a.O., S. 3) bei 80% der Erkrankten zu einem milden bis moderaten Verlauf, knapp 14% entwickeln eine schwere Erkrankung und über 6% sind in einem kritischen Zustand. Das größte Risiko für einen schweren Verlauf besteht bei Personen im Alter von über 60 Jahren und Personen mit Vorerkrankungen (vgl. Gesundheitsdienst des Auswärtigen Amtes, a.a.O., S. 3; WHO, Coronavirus, https://www.who.int/health-topics/coronavirus#tab=tab_1; Robert-Koch-Institut, Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 [COVID-19], Stand 27.8.2020, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/nCoV.html; alle abgerufen am 27.8.2020), wobei bei älteren Personen das Risiko für einen schweren Verlauf ab etwa 50-60 Jahren verortet wird und stetig steigt. 86% der in Deutschland an COVID-19 Verstorbenen waren 70 Jahre alt oder älter [Altersmedian: 82 Jahre] (Robert-Koch-Institut a.a.O., abgerufen am 27.8.2020). Zu den relevanten Vorerkrankungen zählen laut Angaben des Robert-Koch-Instituts (a.a.O.) Raucher (schwache Evidenz), stark adipöse Menschen, Personen mit bestimmten Vorerkrankungen (ohne Rangfolge) des Herz-Kreislauf-Systems (z.B. koronare Herzerkrankung und Bluthochdruck), chronische Lungenerkrankungen (z. B. COPD), chronische Nieren- und Lebererkrankungen, Patienten mit Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit), Patienten mit einer Krebserkrankung sowie Patienten mit geschwächtem Immunsystem (z.B. aufgrund einer Erkrankung, die mit einer Immunschwäche einhergeht oder durch die regelmäßige Einnahme von Medikamenten, die die Immunabwehr beeinflussen und herabsetzen können, wie z. B. Cortison). Bei Kindern sind Erkrankungen seltener und verlaufen – namentlich bei Kindern außerhalb des Säuglings- oder Kleinkindalters – in der Regel mild. Hauptsächlich betroffen sind in über 85% der Fälle Menschen zwischen 30 und 79 Jahren (vgl. Gesundheitsdienst des Auswärtigen Amtes, a.a.O., S. 3 unter Verweis auf chinesische Angaben; Robert-Koch-Institut a.a.O.).
dd) Übertragen auf den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass der Antragsteller zu mehreren Risikogruppen gerechnet werden kann. Zum einen gehört er mit einem Lebensalter von 63 Jahren zu einer Altersgruppe mit erhöhtem, wenngleich nicht dem höchsten Risiko (nach den oben dargestellten Erkenntnissen ab 70 Jahren). Des Weiteren leidet er an Bluthochdruck, welcher als relevante Vorerkrankung genannt wird. Dem Gericht ist zwar bewusst, dass gerade die Bedeutung von Bluthochdruckerkrankungen im Zusammenhang mit Covid-19 stark umstritten ist (vgl. z.B. https://www.blutdruckdaten.de/corona-risiko-bluthochdruck.html; https://www.gesundheitsinformation.de/coronavirus-worauf-achten-bei-bluthochdruck.2083.de.html?part=behandlung-mn; https://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/herz/gilt-als-stiller-killer-gefaehrlicher-bluthochdruck-herzprofessor-erklaert-fuer-wen-das-ein-corona-risiko-ist_id_12241702.html; https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/114569/COVID-19-Hoher-Blutdruck-kein-Sterberisiko-in-Studie-an-17-Millionen-Patienten; https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/113553/COVID-19-Behandlung-der-Hypertonie-koennte-erhoehtes-Sterberisikosenken; https://www.scinexx.de/news/medizin/bluthochdruck-wie-hoch-ist-das-corona-risiko/; alle abgerufen am 27.8.2020). Nicht geklärt ist zum einen die Bedeutung von blutdrucksenkenden Medikamenten, welche teils als risikoverstärkender Faktor, teils als Schutz gegen einen schweren Verlauf der Covid-19-Erkrankung interpretiert werden. Unklar ist zum anderen die Rolle, welche die mit Bluthochdruckerkrankungen einhergehenden Vorschädigungen von Gefäßen und Organen bei einem schweren Verlauf der Infektionserkrankung spielen. Als gesichert kann aber nach den genannten Quellen gelten, dass Wechselwirkungen zwischen einem fortgeschrittenen Lebensalter und einer Bluthochdruckerkrankung bestehen, welche den Verlauf einer Covid-19-Erkrankung negativ beeinflussen können. Demnach muss der gerichtlichen Entscheidung zugrunde gelegt werden, dass Bluthochdruck jedenfalls in Verbindung mit einem fortgeschrittenen Lebensalter eine relevante, mithin risikoerhöhende Vorerkrankung ist.
Bei einer wertenden Gesamtbetrachtung ist somit das Risiko des Antragstellers, im Falle einer Infektion mit dem SARS-Cov2-Virus einen schweren oder gar tödlichen Krankheitsverlauf zu erleiden, deutlich erhöht. Er gehört einer relevanten Altersgruppe an und leidet nachgewiesenermaßen an einer relevanten Vorerkrankung. Zwar wäre er in Nigeria nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit auf sich alleine gestellt und somit gezwungen, sich einem erhöhten Infektionsrisiko in der Öffentlichkeit auszusetzen, indem er einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, Behördengänge und andere Besorgungen selbst zu erledigen und sich ohne fremde Unterstützung mit Lebensmitteln zu versorgen hätte. Eine solche Situation ist im Falle des Antragstellers bei Rückkehr nach Nigeria aufgrund seiner persönlichen Umstände nicht zu erwarten, weil sich aus seinem eigenen Vortrag ergibt, dass er auf einen unterstützungsfähigen und auch unterstützungsbereiten Familienverband zurückgreifen könnte. So hat er in seiner Anhörung am 17. April 2019 vorgetragen, dass seine Frau nach dem Vorfall der Clanstreitigkeit, in welche der Antragsteller verwickelt war, zu ihrem Vater gezogen sei und noch bei diesem in Benin City lebe. Der nunmehrige Vortrag des Antragstellers, im Falle seiner Rückkehr sei seine Familie in Gefahr, ist nicht schlüssig, weil der Antragsteller selbst vorgetragen hat, dass die Clan-Mitglieder bzw. Mitglieder des Kultes nicht wüssten, wo der Vater seiner Frau lebt (Bl. 94 der Bundesamtsakte, Anhörungsprotokoll vom 17.4.2019). Des Weiteren hat der Antragsteller auch vorgetragen, dass die Regierung bzw. die Polizei in Nigeria versuchen werde, die Täter zu finden (Bl. 94 der Bundesamtsakte). Der Antragsteller bzw. seine Familienangehörigen könnten also zum einen nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit von den Mitgliedern des Clans bzw. des Kultes in Nigeria aufgefunden werden. Zum anderen wären sie im Falle von Angriffen auch nicht schutzlos, da die Polizei bereits aufgrund des vom Antragsteller berichteten Vorfalls strafverfolgend tätig geworden ist. Damit ist zwar davon ausgehen, dass der Antragsteller im Falle der Rückkehr nach Nigeria bei seiner Frau und deren Familie Aufnahme finden würde. Dennoch ist nicht ersichtlich, welche konkrete Situation er dort vorfinden würde und damit auch kaum einschätzbar, welche Möglichkeiten er hätte, sein Infektionsrisiko im privaten beziehungsweise familiären Bereich zu minimieren. Wie ausgeführt, sind die Testkapazitäten in Nigeria gering. Es ist daher von einer hohen Dunkelziffer der Neuinfektionen auszugehen, weshalb das Risiko des Antragstellers, sich im familiären Umfeld anzustecken, gerade bei beengten räumlichen Verhältnissen hoch ist. In der Gesamtbetrachtung von Infektionsrisiko und Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs sprechen daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 AsylG) die deutlich überwiegenden Gesichtspunkte und damit eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine konkrete und individuelle Gefahr für die Gesundheit und das Leben des Antragstellers im Falle der Rückkehr nach Nigeria.
ee) Da es sich bei den zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG um einen einheitlichen Streitgegenstand handelt, kommt es auf das Vorliegen der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht an.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylG.


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