Verwaltungsrecht

Keine Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft eines Georgiers

Aktenzeichen  B 1 K 18.30195

Datum:
7.2.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 9544
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 3e,§ 4
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Klagen werden abgewiesen.
2. Die Kläger haben die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens als Gesamtschuldner zu tragen.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

1. Die zulässigen Klagen haben in der Sache keinen Erfolg, da der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 19. Januar 2018 rechtmäßig ist und die Kläger nicht in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 und 5 VwGO). Denn die Kläger erfüllen weder die Voraussetzungen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG noch auf Asylanerkennung; auch ist ihnen der subsidiäre Schutzstatus nach § 4 AsylG nicht zuzusprechen. Auch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor. Als rechtmäßig erweisen sich auch die Abschiebungsandrohung sowie die Entscheidung zum gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot.
Das Gericht nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen zunächst Bezug auf die Begründung im angefochtenen Bescheid des Bundesamts (§ 77 Abs. 2 AsylG).
Ergänzend ist zum Vorbringen im gerichtlichen Verfahren Folgendes auszuführen:
a. Die Kläger haben keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG.
Nach § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG besteht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft dann, wenn sich der Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will und er keine Ausschlusstatbestände erfüllt. Eine solche Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft dann nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG). Dabei ist sowohl bei der Prüfung des Flüchtlingsschutzes (§ 60 Abs. 1 AufenthG, § 3 Abs. 1 AsylG) als auch des subsidiären Schutzes durch die unionsrechtlichen Abschiebungsverbote als Prognosemaßstab einheitlich der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzulegen. Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG). Danach besteht bei vorverfolgt Ausgereisten die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (hierzu: BVerwG, U. v. 27. April 2010, Az. 10 C 5/09).
Eine Verfolgung wegen der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 Asyl genannten Merkmale liegt nicht vor. Die Kläger tragen vor, dass sie von der Familie M. mit einer sog. „Blutrache“ verfolgt werden, weil ein Mitglied dieser Familie anlässlich einer Auseinandersetzung mit dem Bruder des Klägers zu 1 zu Tode gekommen sei. Es sei in der Folgezeit auch auf das Haus der Kläger geschossen worden. Darin ist aber keine Verfolgung aufgrund der Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe zu sehen. Vorliegend handelt es sich um eine Auseinandersetzung im privaten Bereich ohne Anknüpfung an die genannten Merkmale. Die Kläger werden auch nicht wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG verfolgt. Nach dieser Vorschrift gilt eine Gruppe insbesondere dann als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten (Buchst. a), und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (Buchst. b). Aus dieser Regelung ergibt sich zwar, dass die Familie grundsätzlich eine bestimmte soziale Gruppe bilden kann. Es fehlt vorliegend jedenfalls an dem Merkmal, dass die Kläger aufgrund einer deutlich abgegrenzten Identität von der umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden, vielmehr berufen sich die Kläger nicht darauf, wegen der Zugehörigkeit zu den Kisten verfolgt zu werden. Sie beklagen gerade eine Verfolgung durch andere Mitglieder dieser Volksgemeinschaft, da diese eine den staatlichen georgischen Regelungen zuwider laufende Praxis der „Blutrache“ praktizieren würden, der sie sich nicht entziehen könnten.
Aber selbst wenn man bei einem Sachverhalt wie dem vorliegenden die Zugehörigkeit zu einer solchen Gruppe bejahen würde, läge keine relevante Verfolgung vor bzw. wären die Kläger auf den internen Schutz nach § 3e AsylG zu verweisen.
Eine durch staatliche Organe vorliegende Verfolgung haben die Kläger nicht geltend gemacht. Vielmehr haben sie sich nicht einmal an die staatlichen Organe gewandt und ihr Anliegen auf Schutz vor einer Bedrohung durch Dritte vorgetragen. Soweit die Kläger eine außerhalb der Rechtsordnung Georgiens stehende Vergeltung durch die Familie des Getöteten befürchten, müssen sie sich an die staatlichen Behörden wenden und um deren Schutz nachsuchen. Im Rahmen einer sog. Blutrache verübte Kapitaldelikte sind auch in Georgien als Mord strafbar, gleiches gilt auch für Bedrohungen oder Körperverletzungsdelikte. Die Kläger sind daher gehalten, sich unter den Schutz des georgischen Staates zu stellen. Auch die Volksgruppe der Kisten steht nicht außerhalb der dortigen Rechtsordnung. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass der georgische Staat nicht schutzwillig oder nicht schutzfähig wäre, wenn auch ein allzeitiger und allumfassender Schutz von keinem Staatswesen auf der Welt erwartet werden kann. Es kann aber nicht angehen, dass man bei einem Sachverhalt wie dem von den Klägern geschilderten ausreist und um den Schutz eines dritten Staates nachsucht, wenn man noch nicht einmal die Schutzmöglichkeiten des eigenen Staates in Anspruch genommen hat bzw. diesen nicht in Anspruch nehmen will.
Das pauschale Vorbringen der Kläger, der Staat würde sie sowieso nicht schützen, ist ein dem Gericht in einer Reihe von gleichgelagerten Fällen immer wieder vorgetragenes Argument, ohne dass es hierfür belegbare Ansätze gäbe. Nach dem jüngsten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19. Oktober 2019 gehört der Aufbau und die Stärkung eines unabhängigen und nach rechtsstaatlichen Grundsätzen handelnden Justizwesens zu den wichtigsten Zielen der aktuellen Regierung. Nach dem Machtwechsel wurden in diesem Bereich große Fortschritte erzielt, von Machtmissbrauch von Amtsträgern ist nicht mehr die Rede. Bestechung bzw. Bestechlichkeit von Polizisten sind allgemein nicht mehr zu verzeichnen. In ihrer Rolle als Hüter von Regeln werden sie öffentlich als zurückhaltend, aber auch als untätig wahrgenommen, was zu einem Verlust an Respekt geführt hat. Es kann aber nicht von einer Schutzunwilligkeit ausgegangen werden. Umfangreicher Personalaustausch insbesondere in den Behördenleitungen, die begonnene juristische Aufarbeitung sowie Reformen in Polizei und erkennbare Verbesserungen im Strafvollzug, inklusive radikaler Veränderungen im Gefängnismanagement, haben Vorfälle von Gewaltanwendung durch Beamte überaus deutlich reduziert. Ombudsmann und zivilgesellschaftliche Organisationen sprechen bekannt werdende Vorfälle von Gewaltanwendung und ggf. unzureichend betriebene Ermittlungen öffentlich an (BFA Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 2. November 2016). Schließlich steht auch den Bewohnern des …-Tals die Möglichkeit offen, sich an den Ombudsmann zu wenden, wenn sie der Auffassung sind, dass staatliche Stellen aus welchen Gründen auch immer nur unzureichend Schutz gewähren wollen. Der Ombudsmann hat ein Regionalbüro in …, kann telefonisch erreicht werden und sucht auch das …-Tal in regelmäßigen Abständen auf, wobei an ihn bestehende Probleme herangetragen werden können und seiner Tätigkeit durchaus Einfluss zugeschrieben wird (vgl. Danish Refugee Council, Georgia, The Situation of the Kists and the Chetchens, vom November 2018, S. 17f.).
Zur Problematik der Blutrache stellt das Auswärtige Amt in seiner Auskunft an das BAMF vom 13. Februar 2015 zudem fest, dass Blutrache nach Auskunft des Innenministeriums von Georgien, Abteilung Zentrale Kriminalpolizei, seit den 1990er Jahren kaum noch vorkommt. Der letzte bekannte Fall von Blutrache datiere aus dem Jahr 2008. Blutrache wird verfolgt und durch die Polizei- und Sicherheitsbehörden unterbunden. In der Auskunft vom 13. Februar 2019 wird dies bestätigt und ausgeführt, dass die „Sitte der Blutrache“ nicht mehr gibt. Von einer allgemeinen gesellschaftlichen Akzeptanz der Blutrache, die über der georgischen Rechtsordnung stünde, kann nach diesen Auskünften nicht ausgegangen werden, zumal sich die in den Auskünften genannten Vorfälle vor längeren Jahren allesamt in der Volksgruppe der Svanen und nicht der Kisten zugetragen haben (vgl. hierzu auch: BayVGH, B.v. 5. Juli 2018 – 15 ZB 18.31514).
Darüber hinaus wäre es den Klägern zuzumuten, in einem anderen Landesteil in Georgien ihren Aufenthalt zu nehmen und sich so dem Einflussbereich einer gewissen evtl. in Teilen der dörflichen Bevölkerung möglicherweise doch noch vorhandenen kistischen Tradition zu entziehen. Es ist zwar zutreffend, dass Georgien ein relativ kleines Land ist und damit die Gefahr des Entdecktwerdens nicht von der Hand zu weisen ist. Die Kläger können sich hierauf jedoch nicht berufen, da zum einen gar nicht gesagt ist, dass nach ihnen gesucht würde und sie zum anderen – wie ausgeführt – gehalten wären, sich bei einer tatsächlich bestehenden Bedrohung auch in einem anderen Landesteil an die Sicherheitsbehörden zu wenden.
Das Gericht hat durchaus begründete Zweifel an einem fluchtauslösenden Ereignis, so wie die Kläger geschildert haben, dass auf ihr Haus geschossen worden sein soll. Denn die Daten, wann dies stattgefunden haben soll, im zeitlichen Ablauf zur Ausreise, differieren doch erheblich. So haben die Kläger zu 1 und 2 noch beim Bundesamt unterschiedliche Angaben gemacht, wann dies geschehen sein soll. Erst in der mündlichen Verhandlung erfolgte ein zeitlich übereinstimmender Vortrag. Darüber hinaus geht das Gericht auch bei Wahrunterstellung des von den Klägern zuletzt geschilderten Geschehensablaufs davon aus, dass die Gefährdung offensichtlich doch nicht in dem Maße besteht bzw. bestanden hat. Nach dem Tod des Nachbarn ist zunächst viele Wochen nichts passiert und erst mehr als zwei Monate später sind die Schüsse auf das Wohnhaus der Kläger abgegeben worden. Wenn es dem Schützen darauf angekommen wäre, jemanden aus der Familie der Kläger zu töten, hätte er möglicherweise nicht so lange zugewartet, sondern wäre früher aktiv geworden. Auch nach den klägerischen Schilderungen vom Geschehensablauf an jenem Abend im Dezember muss angenommen werden, dass die Kläger von den Schüssen gar nicht getroffen werden sollten. Denn die Familienmitglieder haben sich in der abseits des eigentlichen Hauses befindlichen Küche, die aufgrund der Dunkelheit aller Lebenserfahrung nach auch beleuchtet war, aufgehalten, weshalb es für einen Schützen klar sein musste, dass sich in einem unbeleuchteten Eingangszimmer des eigentlichen Hauses niemand aufhält.
Die von den Klägern nachträglich von Deutschland aus durch einen Mittelsmann besorgte Bestätigung des Ältestenrates des …-Tals vermag an der gerichtlichen Einschätzung nichts zu ändern. Derartige Bestätigungen, die dem Gericht aus einer Vielzahl von Verfahren bekannt sind, vermögen zwar ein Beleg sein für eine Streitigkeit zwischen einzelnen Familien aus dem jeweiligen Ort oder Nachbarorten des …-Tals. Dadurch wird aber nicht in Frage gestellt, dass staatliche Schutzmöglichkeiten bestehen und diese in Anspruch genommen werden können bzw. dass es zumutbar ist, sich in einem anderen Landesteil niederzulassen. Die Volksgruppe der Kisten steht nicht außerhalb der Rechtsordnung Georgiens.
Ein Anspruch auf Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes besteht daher nicht.
b. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG liegen nicht vor. Den Klägern droht bei einer Rückkehr nach Georgien kein ernsthafter Schaden i.S.v. § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG. Insbesondere droht den Klägern nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine von nichtstaatlichen Akteuren ausgehende unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung, wobei der georgische Staat nicht in der Lage oder willens sein müsste, den Klägern ausreichenden Schutz zu gewähren. Auf die unter 1.a. gemachten Ausführungen wird verwiesen.
c. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor.
Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG besteht nicht. Hierzu wird zunächst auf die obigen Ausführungen verwiesen. Die bisherige Lebenssituation der Kläger in Georgien stellte sich nicht als so erschwert dar, dass damit insbesondere eine Verletzung von Art. 3 EMRK einherginge. Sie sind darauf zu verweisen, auch mit Hilfe ihrer Verwandten und ggf. staatlicher Unterstützung oder der Hilfe von Nichtregierungsorganisationen, sich erneut eine Lebensgrundlage aufzubauen.
Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt nicht vor.
Gem. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr liegt nach Satz 2 dieser Vorschrift in der ab 17. März 2016 geltenden Fassung vom 11. März 2016 nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Für die Bestimmung der „Gefahr“ gilt der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d. h. die drohende Rechtsgutsverletzung darf nicht nur im Bereich des Möglichen liegen, sondern muss mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein (vgl. BVerwG, B.v. 2.11.1995 – 9 B 710.94). Auch dann, wenn die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten zwar gegeben sind, diese für den betroffenen Ausländer aber im speziellen Fall aus finanziellen oder persönlichen Gründen nicht erreichbar sind, kann ein Abschiebungsverbot vorliegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.11.1997 – 9 C 58/96; BayVGH, Urt. v. 9.2.2007 – 9 B 06.30021 – m.w.N.). Eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes liegt indes nicht schon dann vor, wenn von einer Heilung der Erkrankung im Zielland der Abschiebung wegen der dortigen Verhältnisse nicht auszugehen ist, die Erkrankung sich aber auch nicht gravierend zu verschlimmern droht. Das Abschiebungsverbot dient nämlich nicht dazu, dem ausreisepflichtigen erkrankten Ausländer eine optimale Behandlung zu sichern oder die Heilungschancen zu verbessern; es begründet insbesondere keinen Anspruch auf Teilhabe am medizinischen Fortschritt und auf Behandlung im Rahmen des sozialen Systems der Bundesrepublik Deutschland; vielmehr stellt es alleine den Schutz vor einer gravierenden Beeinträchtigung von Leib und Leben im Zielland einer Abschiebung oder Rückkehr sicher. Der Ausländer muss sich grundsätzlich auf den Behandlungsstandard, der in seinem Herkunftsland für die von ihm geltend gemachten Erkrankungen allgemein besteht, verweisen lassen, wenn damit keine grundlegende Gefährdung verbunden ist (BayVGH, B.v. 28.05.2015 – 21 ZB 15.30076 -; VG Gelsenkirchen Urt. v. 27.11.2014 – 17a K 3614/13.A unter Verweis auf OVG NRW, B.v. 15.09.2003 – 13 A 3253/03.A; VG Schwerin, Urt.v. 29.03.2016 – 5 A 2716/15 -; VG München, B.v. 04.07.2016 – M 16 S 16.31358). Die mögliche Unterstützung durch Angehörige im In- und Ausland ist in die gerichtliche Prognose, ob bei Rückkehr eine Gefahr für Leib und Leben besteht, mit einzubeziehen (vgl. BVerwG, B.v. 1.10.2001 – 1 B 185/01).
Abgesehen davon, dass sich den Arztbriefen des Bezirksklinikums … nicht entnehmen lässt, dass mit der Rückführung nach Georgien für den Kläger zu 1 eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Verschlimmerung seiner Erkrankung einherginge, ist die diagnostizierte Erkrankung in Georgien hinreichend behandelbar. Mit in den Blick zu nehmen ist dabei auch, dass die Kläger bereits Ende 2017 ins Bundesgebiet eingereist sind, die Behandlung aber erst im April 2019 einsetzte, so dass anzunehmen ist, dass nicht so sehr die Bedrohung, sondern vielmehr die Angst vor einer Abschiebung im Vordergrund steht. Dies sieht auch die Klägerin zu 2 so, die angibt, dass eigentlich die Angst um das Leben der Kinder im Vordergrund steht.
Eine ausreichende medizinische Behandlung einer depressiven Störung ist in Georgien gewährleistet und für den Kläger insbesondere auch finanziell erreichbar.
In Georgien besteht eine staatlich finanzierte Grundversorgung (Universal Health Care-UHC), die kostenlos gewährleistet wird. Dieses staatliche Gesundheitssystem umfasst ambulante und stationäre Behandlungen für Begünstigte verschiedener Alters- und Sozialgruppen. Die meisten der Medikamente werden bei ambulanter Behandlung jedoch nicht vom staatlichen Programm erfasst. Anfallende Behandlungskosten, die vom Patienten selber getragen werden müssen, können gemäß dem staatlichen Programm bei der zuständigen Kommission des Ministeriums, JPÖR, mittels entsprechenden Antrags eingebracht werden und es kann um Kostenersatz nachgesucht werden. Psychiatrische Behandlungen werden durch das „State Programme for Mental Health“ abgedeckt. Die psychiatrische Behandlung steht allen Georgiern offen und wird von 23 psychiatrischen Einrichtungen im Land kostenlos angeboten (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Georgien: Zugang zu medizinischer Versorgung, vom 28. August 2018). Der ambulante Dienst bei der Behandlung psychischer Erkrankungen beinhaltet u.a. die Versorgung der Patienten durch den Arzt, kurzfristige stationäre Dienste. Medikamente werden verordnet und sind weitgehend selbst zu bezahlen (vgl. im Einzelnen: BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Georgien, vom 25. Juni 2018; S. 42 ff.; Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Georgien: posttraumatische Belastungsstörung, Depressionen – Therapie und Kosten, vom 21. Juni 2017; BFA Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19. Oktober 2019, S. 16).
Soweit Medikamente selber bezahlt werden müssen, halten sich die Kosten für eine Reihe von Antidepressiva im Rahmen und können auch unter Zuhilfenahme verwandtschaftliche Hilfe durchaus gestemmt werden (vgl. Verfügbarkeit einzelner Antidepressiva und Preise in MedCOI Country Fact Sheet to Healthcare: Georgia, MedCOI II-Belgian Desk on Accessibility, vom 27.06.2014, S. 41f.). Auch nach der MedCOI Anfragebeantwortung BDA 20190724-GE-7042 vom 7. August 2019 sind Antidepressiva erhältlich. Zwar sind die dem Kläger zu 1 in Deutschland verordneten Medikamente Quetiapin und Mirtazapin in Georgien nur zu einem hohen Preis erhältlich, jedoch hat der Kläger zu 1 keinen Anspruch darauf, dass diese auch in Georgien für ihn finanziell erreichbar sein müssen, denn es gibt keinen Anspruch auf die identische Fortführung der in Deutschland begonnenen Behandlung. Maßgeblich ist, ob eine hinreichende Behandlung des Krankheitsbildes möglich ist, was in Georgien der Fall ist. Es stehen eine Reihe anderer günstiger Antidepressiva zur Verfügung (Amitryptillin, Clomipramine, Sertralin; als Alternativmedikament zu Mirtazapin wird Trazodon genannt; als Alternativmedikamente zu Quetiapin sind Clozapin, Olanzapin und Risperidon erhältich, vgl. die Auflistung in MedCOI Country Sheet Fact vom 27.06.2014, a.a.O., S. 41f.).
Abschiebungsverbote aus gesundheitlichen Gründen wurden für die übrigen Familienmitglieder nicht mehr geltend gemacht.
d. Der Bescheid des Bundesamtes gibt hinsichtlich der Ziffer 5, wonach die Kläger unter Androhung der Abschiebung zur Ausreise aufgefordert worden sind, keinen Anlass zu Bedenken. Zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, auf den gemäß § 77 Abs. 1 AsylG abzustellen ist, sind Gründe, die dem Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen gegenüber den Klägern entgegenstünden, nicht ersichtlich.
e. Nach neuerer Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 21.08.2018 – 1 C 21/17) hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Hinblick auf das Einreiseund Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG nicht nur über die Befristung, sondern auch über die Anordnung an sich zu entscheiden. Obwohl dies explizit im streitgegenständlichen Bescheid vom 19. Januar 2018 nicht erfolgt ist, führt dies nicht zur Aufhebung der Ziffer 6 des streitgegenständlichen Bescheids. Vielmehr wird man in Auslegung der Ziffer 6 des Bescheides davon ausgehen müssen, dass das Bundesamt konkludent auch über die Anordnung des Einreiseund Abschiebungsverbots eine Entscheidung getroffen hat. Die Befristung dieses Verbots auf 30 Monate gibt im Rahmen der den Gericht möglichen Überprüfung (vgl. § 114 VwGO) keinen Anlass zur Beanstandung (vgl. hierzu auch BayVGH, B.v. 28.11.2016, 11 ZB 16.30463).
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und § 159 Satz 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
3. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf§ 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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