Verwaltungsrecht

Keine Flüchtlingseigenschaft eines senegalesischen Asylbewerbers – Keine Berufungszulassung mangels grundsätzlicher Bedeutung und Gehörsverstoß

Aktenzeichen  21 ZB 17.30184

Datum:
15.3.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 7799
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
EMRK Art. 3
AsylG § 3, § 3c, § 3e, § 78 Abs. 3, Abs. 4
VwGO § 138 Nr. 3

 

Leitsatz

1. Die Frage, ob frühere Opfer von Menschenhandel, insbesondere Opfer von Menschenhandel zum Zwecke der Arbeitsausbeutung, eine bestimmte soziale Gruppe darstellen können, ist nicht grundsätzlich klärungsbedürftig iSd § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG, wenn das VG die begehrte Feststellung der Flüchtlingseigenschaft mit der Begründung abgelehnt hat, dass sich aus dem als wahr unterstellten Sachvortrag keine Verfolgung iSd § 3 Abs. 1 AsylG ergebe, sondern lediglich eine Bedrohung durch Dritte, für welche interner Schutz bestehe.  (Rn. 4 – 5) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Anspruch auf rechtliches Gehör verwehrt es dem Gericht nicht, das Vorbringen eines Beteiligten aus Gründen des materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt zu lassen. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 10 K 16.30286 2016-11-17 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG), der Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG) und eines in § 138 VwGO bezeichneten Verfahrensmangels (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG) liegen nicht vor.
1. Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinn des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG, wenn eine im Zulassungsantrag formulierte konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage für das Urteil des Verwaltungsgerichts entscheidungserheblich war, die Klärung dieser Frage im Berufungsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 36).
Dem genügen die mit dem Zulassungsantrag aufgeworfenen „Grundsatzfragen“ nicht.
1.1 Der Bevollmächtigte des Klägers misst zunächst der Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung bei, „ob frühere Opfer von Menschenhandel, insbesondere Opfer von Menschenhandel zum Zwecke der Arbeitsausbeutung, eine bestimmte soziale Gruppe darstellen können.“
Diese Frage war für das Verwaltungsgericht nicht entscheidungserheblich. Es hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft einmal mit der Begründung abgelehnt, aus dem als wahr unterstellten Vorbringen des Klägers ergebe sich keine Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG, sondern lediglich eine Bedrohung durch Dritte. Nach der Auskunftslage sei davon auszugehen, dass der senegalesische Staat willens und in der Lage sei, von Dritten verfolgte Staatsangehörige zu schützen. Damit hat das Verwaltungsgericht die Voraussetzungen des § 3c Nr. 3 AsylG für eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure verneint. Mithin war der Verfolgungsgrund des § 3 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 5 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG (Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe), auf den die Grundsatzfrage abzielt, für die angefochtene Entscheidung nicht von Belang. Zudem hat das Verwaltungsgericht die Flüchtlingseigenschaft unter Verweis darauf verneint, dem Kläger stehe bei einer Rückkehr in Anwendung von §§ 3d und 3e AsylG ausreichender interner Schutz zur Verfügung; insbesondere innerhalb der Großstädte des Landes bestünden hinreichende Ausweichmöglichkeiten (vgl. UA S. 5 mit Bezugnahme auf den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 16.6.2016 – M 10 S 16.30287, dort S. 8).
Es ist auch nicht offensichtlich, dass sich die aufgeworfene Grundsatzfrage in einem Berufungsverfahren stellen würde. Dabei kann dahinstehen, ob sich das Verfolgungsvorbringen als wahr erweisen würde. Jedenfalls ist es dem Kläger, der angeblich seit dem Jahr 2002 auf Veranlassung seines Onkels bei einem in Mauretanien ansässigen Händler als Sklave gearbeitet hat, seinem Vorbringen zufolge bereits im Jahr 2010 gelungen nach Marokko zu fliehen. Angesichts der mittlerweile vergangenen Zeit spricht schon nichts konkret dafür, dass die nichtstaatlichen (angeblichen) Verfolger die Möglichkeiten dafür hätten, den Kläger im Falle einer Rückkehr in den Senegal gezielt aufzufinden, sofern sie überhaupt noch ein Interesse an ihm haben sollten. Das zeigt letztlich auch der Umstand, dass im Zulassungsverfahren eine statistische Berechnung der „Wahrscheinlichkeit eines Kontakts zwischen dem Kläger und einer Person aus dem Einflussbereich seiner Verfolger“ für den Fall einer Abschiebung des Klägers nach Dakar vorgelegt wurde.
1.2 Der Klägerbevollmächtigte meint, grundsätzliche Bedeutung käme gegebenenfalls „auch der Rechtsfrage zu, ob, wenn kein Flüchtlingsschutz, so doch wenigstens subsidiärer Schutz oder Abschiebungsschutz zu bejahen ist.“
Das rechtfertigt bereits deshalb nicht die Zulassung der Berufung, weil diese Frage so allgemein formuliert ist, dass offenbleibt, welche konkrete, fallübergreifende Rechts- oder Tatsachenfrage berufungsgerichtlich geklärt werden soll.
1.3 Schließlich will der Klägerbevollmächtigte die Frage einer grundsätzlichen Klärung zuführen, „wie sich die Beweiserleichterung gemäß Art. 4 Absatz 4 QRL zur Vermutung der Verfolgungssicherheit nach § 29a AsylG verhält.“
Diese Frage war für das Verwaltungsgericht wiederum nicht entscheidungserheblich. Auf das unter Nr. 1.1 Dargelegte, das entsprechend gilt, wird verwiesen.
2. Die Berufung ist nicht wegen der behaupteten Abweichung des angegriffenen Urteils von Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG) zuzulassen. Aus dem Zulassungsvorbringen ergibt sich nicht, dass sich das Verwaltungsgericht in Anwendung derselben Rechtsvorschrift mit einem seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz zu einem in einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten Rechtssatz in Widerspruch gesetzt hat.
2.1 Der Klägerbevollmächtigte verweist darauf, das Bundesverwaltungsgericht habe in einem Urteil vom 27. April 2010 (10 C 15.12 – NVwZ 2013, 1167) entschieden, dass die Abschiebung durch einen Konventionsstaat dessen Verantwortlichkeit nach der Konvention begründen könne, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gebe, dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr laufe, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden; in einem solchen Fall ergebe sich aus Art. 3 EMRK die Verpflichtung, die Person nicht in dieses Land abzuschieben. Des Weiteren habe das Bundesverwaltungsgericht in diesem Urteil den Rechtssatz aufgestellt, für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, die nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaates fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung des Ausländers verbieten, sei grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung ende.
Der Zulassungsantrag zeigt nicht auf, welchen dazu im Widerspruch stehenden Rechtssatz das Verwaltungsgericht aufgestellt haben soll. Stattdessen ist lediglich ausgeführt, das Verwaltungsgericht habe im Widerspruch dazu weder Art. 3 EMRK in Betracht gezogen noch eine (konkret abschiebungszielbezogene) Beurteilung außergewöhnlicher Umstände vorgenommen. Beides trifft im Übrigen nicht zu. Das Verwaltungsgericht hat sich in der angegriffenen Entscheidung durch Bezugnahme auf den angefochtenen Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 4. Februar 2016 (§ 77 Satz 2 AsylG) die darin enthaltenen Ausführungen zu eigen gemacht. In dem Bescheid ist unter Berücksichtigung der individuellen Umstände des Klägers nachvollziehbar dargelegt, dass ihm bei einer Rückkehr in den Senegal keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinn des Art. 3 EMRK droht.
2.2 Des Weiteren rügt der Klägerbevollmächtigte, das Urteil des Verwaltungsgerichts weiche von folgendem im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. April 2010 (10 C 5.09 – NVwZ 2011, 51) enthaltenen Rechtssatz ab: „Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten bzw. Geschädigten durch die (widerlegbare) Vermutung, dass sich eine frühere Verfolgung oder Schädigung bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen wird. Ob die Vermutung durch »stichhaltige Gründe« widerlegt ist, obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung.“ Er meint, das Verwaltungsgericht habe diesen Grundsatz völlig ignoriert und sei im Gegenteil davon ausgegangen, dass die Einstufung als sicheres Herkunftsland die Beweiswirkung einer Vorverfolgung vollständig beseitige und im Gegenteil eine Beweislastumkehr bewirke.
Damit ist schon deshalb keine Divergenz dargelegt, weil das Verwaltungsgericht – wie bereits ausgeführt – entscheidungstragend davon ausgegangen ist, dass der Kläger in seinem Heimatland keiner Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3c AsylG ausgesetzt war und folglich auch nicht verfolgt oder geschädigt im Sinn des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011 ist.
3. Die geltend gemachte Gehörsrüge (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) greift nicht durch.
3.1 Der Klägerbevollmächtigte rügt, das Verwaltungsgericht sei zu keinem Zeitpunkt auf die vom Kläger substantiiert dargelegten Umstände zur Opfereigenschaft von Menschenhandel und Sklaverei eingegangen, obgleich mehrfach betont worden sei, dass dies der zentrale Punkt des Rechtsstreits sei.
Daraus ergibt sich nicht, dass dem Kläger das rechtliche Gehör versagt war. Denn der Anspruch auf rechtliches Gehör verwehrt es dem Gericht nicht, das Vorbringen eines Beteiligten aus Gründen des materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt zu lassen (vgl. Kraft in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 138 Rn. 32 m.w.N.). So ist es hier. Das Verwaltungsgericht hat es als wahr unterstellt, dass der Kläger Opfer von Menschenhandel war. Es brauchte darauf aber unter Berücksichtigung seines insoweit maßgebenden materiellrechtlichen Standpunktes nicht näher einzugehen, weil es angenommen hat, dass es an den Voraussetzungen des § 3c Nr. 3 AsylG für eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure fehlt.
3.2 Entsprechendes gilt, soweit der Kläger eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör darin sieht, dass sein Vorbringen zu Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU nicht gewürdigt wurde.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts München vom 17. November 2016 rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben