Verwaltungsrecht

Keine Gruppenverfolgung von Kurden in der Türkei

Aktenzeichen  24 ZB 20.30271

Datum:
10.2.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 6605
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AslyG § 3 Abs. 4, § 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. b
GG Art. 103 Abs. 1

 

Leitsatz

Angehörige der kurdischen Volksgruppe unterliegen in der Türkei keiner Gruppenverfolgung. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 6 K 17.34550 2019-12-10 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren wird abgelehnt.
II. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
III. Die Kläger haben die Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens zu tragen.

Gründe

Der Antrag der Kläger auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren wird abgelehnt, da dem Zulassungsantrag aus den nachfolgenden Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg zukommt (§ 166 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg. Der von ihnen geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG liegt nicht vor. Gleiches gilt für den wenigstens sinngemäß geltend gemachten Zulassungsgrund der Verletzung rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO).
1. Grundsätzliche Bedeutung hat eine Asylrechtsstreitigkeit, wenn mit ihr eine grundsätzliche, bisher höchstrichterlich und obergerichtlich nicht beantwortete Rechtsfrage oder eine im Bereich der Tatsachenfeststellungen bisher obergerichtlich nicht geklärte Frage von allgemeiner Bedeutung aufgeworfen wird, die sich in dem erstrebten Berufungsverfahren stellen würde und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlicher Klärung bedarf. Die Darlegung dieser Voraussetzungen erfordert wenigstens die Bezeichnung einer konkreten Frage, die sowohl für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war als auch für das Berufungsverfahren erheblich wäre. Eine verallgemeinerungsfähige Frage tatsächlicher Natur ist als grundsätzlich bedeutsam anzusehen, wenn sich nach Auswertung der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel klärungsbedürftige Gesichtspunkte ergeben, weil diese Erkenntnismittel in ihrer Gesamtheit keine klare und eindeutige Aussage zu der Tatsachenfrage zulassen. Insoweit verlangt das Darlegungserfordernis gemäß § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG, dass die tatsächliche Frage nicht nur aufgeworfen wird, sondern im Wege der inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Ausführungen in dem angefochtenen Urteil und mit den wichtigsten Erkenntnismitteln, etwa aktuellen Lageberichten des Auswärtigen Amtes, herausgearbeitet wird, warum ein allgemeiner Klärungsbedarf bestehen soll (Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 211 ff.). Dabei gilt allgemein, dass die Anforderungen an die Darlegung nicht überspannt werden dürfen, sondern sich nach der Begründungstiefe der angefochtenen Entscheidung zu richten haben.
a) Soweit die Kläger für allgemein klärungsbedürftig halten, ob Personen mit kurdischer Volkszugehörigkeit eine derartige Diskriminierung durch den türkischen Staat erfahren, dass die Schwelle der kritischen Verfolgungsdichte für die Annahme einer staatlichen Gruppenverfolgung überschritten ist und daher eine Verfolgung nach § 3 AsylG vorliegt, besteht kein grundsätzlicher Klärungsbedarf.
Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung nach Maßgabe eines staatlichen Verfolgungsprogramms sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärt (BVerwG, B.v. 16. November 2015 – 1 B 76.15 – juris Rn. 4). Danach kann sich die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt – abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms – ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt.
Nach einhelliger obergerichtlicher Rechtsprechung unterliegen Angehörige der kurdischen Volksgruppe in der Türkei keiner Gruppenverfolgung i. S. v. § 3 Abs. 4, § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AsylG (etwa SächsOVG, B.v. 9.4.2019 – 3 A 358/19 Rn. 13; BayVGH, B. v. 3.6.2016 – 9 ZB 12.30404 – juris Rn. 13; OVG NRW, B. v. 29.7.2014 – 8 A 1678/13.A – juris Rn. 10; VGH BW, U.v. 27. August 2013 – A 12 S 2023/11 – juris Rn. 18 f.). Diese Einschätzung wird auch durch den aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amts (Bericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14. Juni 2019, S. 12 f.) bestätigt. Dagegen benennen die Kläger (zu der zweiten von ihnen als grundsätzlich klärungsbedürftig behaupteten Frage, deren Thematik aber grundsätzlich ähnlich gelagert ist) zwar Erkenntnismittel, die ihrer Auffassung nach eine solche Gruppenverfolgung belegen sollen. Damit ist der Zulassungsgrund der Grundsatzberufung jedoch nicht hinreichend dargelegt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (vgl. BVerwG, U.v. 21.4.2009 – 10 C 11.08 – juris Rn. 13 f.). Dass diese Voraussetzungen gegeben sind, ergibt sich weder aus den von den Klägern benannten Quellen, noch wird dies von ihnen in sonstiger Weise dargelegt.
b) Soweit die Kläger für grundsätzlich klärungsbedürftig halten, ob Personen mit kurdischer Volkszugehörigkeit und türkischer Staatsangehörigkeit, die im Städte-Krieg zwischen dem türkischen Militär und jungen militanten Kurden (die der PKK untergeordnet waren) im Südosten der Türkei ihre gesamte Existenz verloren und im Westen der Türkei keine Fluchtalternative gefunden haben, einen Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes oder auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG haben, wird ebenfalls kein grundsätzlicher Klärungsbedarf aufgezeigt. Zum einen ist die aufgeworfene Frage bereits nicht verallgemeinerungsfähig. Die Formulierung „ihre gesamte Existenz verloren“ kann nicht losgelöst vom jeweiligen Einzelfall eingeschätzt werden. Schon im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Umfang der Existenzgefährdung, die durch diese Formulierung ausgedrückt wird, je nach Standpunkt des Formulierenden und vor dem Hintergrund dessen eigener Existenzgrundlage nicht einheitlich beurteilt. Im asyl- und ausländerrechtlichen Sinn kommt es insoweit vor allem darauf an, ob dem Betroffenen ein menschenwürdiges Dasein möglich ist. Es liegt auf der Hand, dass hierfür in jedem konkreten Einzelfall festgestellt werden muss, wie weit die behauptete Existenzgefährdung vor dem Hintergrund der jeweiligen persönlichen Lebensverhältnisse tatsächlich geht bzw. überhaupt vorhanden ist. Zum anderen steht die Prämisse, dass diese von der Zulassungsbegründung in Bezug genommenen Betroffenen nicht in der Lage waren, im Westen der Türkei eine Fluchtalternative zu finden, grundsätzlich im Widerspruch zur Rechtsprechung der Verwaltungsgerichtshofs. Danach steht Kurden in der West-Türkei trotz der auch dort problematischen Sicherheitslage und der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen eine inländische Fluchtalternative offen (BayVGH, B.v. 3.6.2016 – 9 ZB 12.30404).
2. Die Zulassungsbegründung führt im Zusammenhang mit der Darlegung der als grundsätzlich klärungsbedürftig erachteten zweiten Frage (vgl. oben 1.b) aus, die Frage nach einem Abschiebungsverbot in die Türkei ergebe sich zudem aus einer Verletzung des rechtlichen Gehörs durch das Tatsachengericht im Hinblick auf die gesundheitlichen Beschränkungen der Klägerin zu 2. und des Klägers zu 4. Das rechtliche Gehör als prozessuales Grundrecht (Art. 103 Abs. 1 GG) sichert den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten eigenverantwortlich und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden (BVerfG, B.v. 30.4.2003, – 1 PBVU 1/02 – BVerfGE 107, 395/409). Es gewährleistet im Sinn der Wahrung eines verfassungsrechtlich gebotenen Mindestmaßes, dass ein Kläger die Möglichkeit haben muss, sich im Prozess mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten (BVerfG, B.v. 21.4.1982 – 2 BvR 810/81 – BVerfGE 60,305). Die Gerichte brauchen sich jedoch nicht mit jedem Vorbringen der Beteiligten in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich auseinanderzusetzen. Denn es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ein Gericht das von ihm entgegengenommene Beteiligtenvorbringen auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Etwas anderes gilt, wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (BVerwG, B.v. 2.5.2017 – 5 B 75.15 D).
Das Verwaltungsgericht hat die diesbezüglichen Ausführungen der Kläger zur Kenntnis genommen und sich hiermit in seiner Entscheidung auch auseinandergesetzt (dort S. 38). Es hat das Vorbringen jedoch anders gewürdigt, als dies nach Meinung der Kläger hätte der Fall sein müssen. Letztlich zielt das klägerische Vorbringen damit auf die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO ab. Wird aber die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts gerügt, scheidet schon deshalb eine Gehörsverletzung im Sinne des Art. 103 Abs. 1 GG aus, weil die Grundsätze der Beweiswürdigung nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in der Regel nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem materiellen Recht zuzuordnen sind (BVerwG, B.v. 21.1.2019 – 6 B 120.18). Aus diesem Grund führt eine fehlerhafte Sachverhalts- oder Beweiswürdigung grundsätzlich zu einem materiell-rechtlichen Fehler, der im Asylprozess nicht zu einer Berufungszulassung führen kann, weil § 78 Abs. 3 AsylG einen dem § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO entsprechenden Zulassungsgrund der „ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils“ nicht vorsieht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.


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