Verwaltungsrecht

Keine Gruppenverfolgung von Personen mit Zugehörigkeit zur sunnitischen Glaubensrichtung im Irak

Aktenzeichen  20 ZB 17.30824

Datum:
26.2.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 3053
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1, Abs. 4 S. 4
AufenthG § 60 Abs. 5
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1 Die EMRK zielt hauptsächlich darauf ab, bürgerliche und politische Rechte zu schützen; nur in ganz außergewöhnlichen Fällen können auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind (EGMR BeckRS 2012, 08147). (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2 Der Umfang der Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter, die an die sunnitische Religionszugehörigkeit anknüpfen, rechtfertigt in der Relation zu der Größe dieser Gruppe nicht die Annahme einer alle Mitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

W 4 K 16.32496 2017-05-12 Urt VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg, da die geltend gemachten Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) sowie der Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) nicht in einer § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG genügenden Art und Weise dargelegt wurden (hierzu 1.) beziehungsweise nicht vorliegen (hierzu 2.).
1. Soweit der Kläger die Frage für grundsätzlich klärungsbedürftig hält,
„ob die allgemeine humanitäre Situation im Irak nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK für Personen, die der sunnitischen Glaubensrichtung angehören, ein Abschiebungsverbot begründet“,
hat er die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht entsprechend den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG dargelegt. Diese Darlegung erfordert, dass der Rechtsmittelführer eine konkrete Tatsachen- oder Rechtsfrage formuliert und aufzeigt, weshalb diese Frage für den Rechtsstreit entscheidungserheblich und klärungsbedürftig ist. Ferner muss dargelegt werden, weshalb der Frage eine allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt. Hierfür ist eine Auseinandersetzung mit den Ausführungen des Verwaltungsgerichts erforderlich (vgl. Berlit in GK-AsylG, Rn. 592, 607 und 609 zu § 78).
Das Verwaltungsgericht hat in seiner Entscheidung (UA S. 9) ausgeführt, dass konkrete Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht gegeben seien/vorgetragen seien. Es kam deshalb zu dem in seinem Obersatz (UA S. 5) festgehaltenen Ergebnis, dass der streitgegenständliche Bescheid (auch insoweit) rechtmäßig sei und den Kläger nicht in seinen Rechten verletze (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 VwGO). Das Bundesamt hat hierzu in seinem Bescheid vom 25. November 2016 ausgeführt, dass angesichts der individuellen Umstände des Klägers eine Verletzung von Art. 3 EMRK durch die Abschiebung im Hinblick auf die humanitären Bedingungen im Irak nicht beachtlich wahrscheinlich sei. Denn der Kläger habe vorgetragen, dass er seinen Lebensunterhalt im Herkunftsland als Installateur für Satellitenanlagen selbst verdient habe.
In seinem Urteil vom 28. Juni 2011 im Verfahren Sufi und Elmi gegen Vereinigtes Königreich (Nr. 8319/07 – NVwZ 2012, 681) stellt der EGMR klar, dass in Abschiebungsfällen nur zu prüfen ist, ob unter Berücksichtigung aller Umstände ernstliche Gründe für die Annahme nachgewiesen worden sind, dass der Betroffene im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr liefe, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Wenn eine solche Gefahr nachgewiesen ist, verletzt die Abschiebung des Ausländers notwendig Art. 3 EMRK, einerlei, ob sich die Gefahr aus einer allgemeinen Situation der Gewalt ergibt, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden (Rn. 218). Zugleich weist der EGMR darauf hin, dass die sozioökonomischen und humanitären Verhältnisse im Bestimmungsland nicht notwendig für die Frage bedeutsam und erst recht nicht dafür entscheidend sind, ob der Betroffene in diesem Gebiet wirklich der Gefahr einer Misshandlung unter Verstoß gegen Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre. Denn die Konvention ziele hauptsächlich darauf ab, bürgerliche und politische Rechte zu schützen. Die grundlegende Bedeutung von Art. 3 EMRK mache nach Auffassung des EGMR aber eine gewisse Flexibilität erforderlich, um in sehr ungewöhnlichen Fällen eine Abschiebung zu verhindern. In ganz außergewöhnlichen Fällen könnten daher auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ seien (Rn. 278). Der Kläger bezieht sich zur Begründung der Klärungsbedürftigkeit der von ihm formulierten Frage auf die Position des UNHCR zu Rückkehrern in den Irak vom 14. November 2016. Darin wird zwar anschaulich die schlechte Versorgungslage im Irak dargestellt, allerdings fehlt es der Antragsbegründung an einer Auseinandersetzung mit den individuellen Umständen des Klägers, die das Bundesamt in seinem Bescheid gewürdigt hat. Mit den dort zugrunde gelegten Annahmen zur konkreten persönlichen Situation des Klägers setzt sich das Zulassungsvorbringen gerade nicht auseinander. Dass es dem Kläger trotz seiner Ausbildung und früheren Tätigkeit nicht möglich sein sollte, seinen Lebensunterhalt im Irak zu bestreiten, ergibt sich aus der Position des UNHCR vom 14. November 2016 gerade nicht. Daher sind die Darlegungsanforderungen insoweit nicht erfüllt.
2. Soweit der Kläger als grundsätzlich klärungsbedürftig erachtet,
„ob eine Gruppenverfolgung von Personen mit Zugehörigkeit zur sunnitischen Glaubensrichtung im Irak stattfindet“,
ist diese Frage nicht klärungsbedürftig. Denn sie ist bereits durch die Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs geklärt.
Für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (BVerwG, U.v. 31.4.2009 – 10 C 11.08 – AuAS 2009, 173; U.v. 1.2.2007 – 1 C 24.06 – NVwZ 2007, 590; U.v. 18.7.2006 – 1 C 15.05 – BVerwGE 126, 243). Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat in mehreren Entscheidungen geklärt, dass die Verfolgungshandlungen, denen die sunnitische Bevölkerungsgruppe im Irak ausgesetzt ist, die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche kritische Verfolgungsdichte nicht aufweist (U.v. 14.12.2010 – 13a B 10.30084 – juris; B.v. 15.8.2011 – 20 B 11.30217– juris). Der Umfang der Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter, die an die sunnitische Religionszugehörigkeit anknüpfen, rechtfertigt in der Relation zu der Größe dieser Gruppe nicht die Annahme einer alle Mitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung. Das gilt auch, wenn man nur die Zahl der arabischen (unter Ausschluss der kurdischen) Sunniten betrachtet. Die irakische Bevölkerung setzt sich zu 60 bis 65 Prozent aus arabischen Schiiten, zu 17 bis 22 Prozent aus arabischen Sunniten und zu 15 bis 20 Prozent aus (überwiegend sunnitischen) Kurden zusammen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 7.2.2017, S. 7). Bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 36 Mio. Einwohnern (vgl. www.auswaertiges-amt.de – Länderinfos Stand März 2017) würde das bedeuten, dass 6 bis 8 Mio. arabische Sunniten im Irak im oben geschilderten Sinn als Gruppe verfolgt würden. Für eine solche Annahme gibt es nicht annähernd ausreichende Hinweise. Diese können auch nicht den ausführlich in der Begründung des Zulassungsantrags zitierten Quellen entnommen werden. Diese zeigen zwar teilweise erhebliche Spannungen entlang der Konfessionslinien innerhalb der irakischen Bevölkerung, die in Einzelfällen auch zu Bedrohungen, Verletzungen und Todesfällen aufgrund der konfessionellen Zugehörigkeit, insbesondere der zum sunnitischen Islam, geführt haben. Hintergrund dieser Vorfälle ist vor allem in jüngerer Zeit auch der Einsatz der schiitisch dominierten Volksmobilisierungseinheiten (PMU) bei der Rückeroberung der – mehrheitlich sunnitisch bevölkerten – Gebiete unter Kontrolle des IS (vgl. Wille, EASO, Practical Cooperation Meeting on Iraq, held on 25./26. April 2017 in Brussels, S. 13/14). Diese gehen verbreitet willkürlich gegen die vorgefundene oder in die rückeroberten Gebiete zurückkehrende sunnitische Bevölkerung vor, allerdings ist auch deren Handeln kein flächendeckendes Vorgehen gegen Sunniten zu entnehmen, vielmehr handelt es sich immer noch, betrachtet man die Gruppe der Sunniten im Irak, um Einzelfälle. Dementsprechend lässt sich auch unter Würdigung dieser neueren Entwicklung die für eine Gruppenverfolgung der sunnitischen Bevölkerung im Irak notwendige Verfolgungsdichte nicht erkennen.
3. Die geltend gemachte Verletzung rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) liegt nicht vor.
Der Kläger sieht einen Gehörsverstoß in einer unzulässigen Überraschungsentscheidung, weil das Verwaltungsgericht seinen Vortrag ohne einen vorherigen Hinweis – und damit für ihn überraschend – als unglaubwürdig gewertet habe. Dies trifft jedoch nicht zu. Zum Grundsatz des rechtlichen Gehörs gehört auch das Verbot von Überraschungsentscheidungen. Das Gericht darf einen bisher nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt nicht ohne einen Hinweis zur Grundlage seiner Entscheidung machen, wenn dieser dem Prozess eine so überraschende Wendung gibt, dass auch ein sorgfältiger Prozessbeteiligter damit nicht rechnen muss (Berlit in GK-AsylG, § 78 Rn. 283 ff.). Allerdings muss das Gericht nicht vorab auf seine Rechtsauffassung oder die von ihm beabsichtigte Würdigung des Prozessstoffs hinweisen. Falls es jedoch eine vorläufige Einschätzung der Rechtslage zu erkennen gegeben hat, muss es deutlich machen, wenn es hiervon wieder abweichen will (vgl. zum Ganzen Kraft in Eyermann, VwGO, § 138 Rn. 33 m.w.N.). Das Verwaltungsgericht war deshalb nicht verpflichtet, in der Verhandlung seine Zweifel an der Glaubwürdigkeit des vom Kläger vorgetragenen Sachverhalts zu äußern. Es hat den Kläger ausweislich der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 12. Mai 2017 zu seinen Fluchtgründen angehört und dabei ausdrücklich nach den Bedrohungen gefragt. Die (abschließende) Beurteilung der Glaubhaftigkeit des (gesamten) klägerischen Vortrags bleibt jedoch der abschließenden Beratung des Gerichtes nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung vorbehalten; ihr Ergebnis kann nicht in der mündlichen Verhandlung vorweggenommen und mit den Beteiligten erörtert werden. Im Übrigen musste der Kläger auch mit den vom Verwaltungsgericht bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit seines Vortrags (sinngemäß) angewendeten Maßstäben rechnen, da sie sich aus der ständigen asylrechtlichen Rechtsprechung ergeben (vgl. BVerfG, B.v. 19.7.1990 – 2 BvR 2005/89 – juris; BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris; U.v. 30.10.1990 – 9 C 72.89 – juris; B.v. 21.7.1989 – 9 B 239.89 – juris).
4. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 83b AsylG.
Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig, § 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG.


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