Verwaltungsrecht

Keine Gruppenverfolgung wegen Bedrohung von Sunniten durch schiitische Miliz im Irak

Aktenzeichen  5 ZB 17.31639

Datum:
16.11.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 133302
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 5, § 78 Abs. 3 Nr. 1

 

Leitsatz

1 Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung setzt voraus, dass eine konkrete, bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert wird, die für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, deren Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und der eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt. (Rn. 2) (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Nach derzeitigen Erkenntnissen liegt eine Gruppenverfolgung von Sunniten im Irak durch schiitische Milizen nicht vor (wie BayVGH BeckRS 2017, 128096). Verfolgungshandlungen, denen der sunnitische Bevölkerungsteil im Irak ausgesetzt ist, erreichen nicht die efrorderliche kritische Verfolgungsdichte (wie BayVGH BeckRS 2017, 100394). (Rn. 9) (Rn. 11) (red. LS Clemens Kurzidem)
3 Eine für die Annahme einer Gruppenverfolgung ausreichende Verfolgungsdichte ergibt sich auch nicht für Sunniten in Bagdad. (Rn. 12) (red. LS Clemens Kurzidem)

Verfahrensgang

AN 2 K 16.31365 2017-09-14 Urt VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die Berufung ist nicht gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.
1. Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung setzt voraus, dass eine konkrete, bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert wird, die für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, deren Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und der eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124a Rn. 72). Hierfür ist eine Auseinandersetzung mit den Ausführungen des Verwaltungsgerichts erforderlich (vgl. Berlit in GK-AsylG, § 78 Rn. 592, 607 und 609). Bei einer auf tatsächliche Verhältnisse gestützten Grundsatzrüge muss der Rechtsmittelführer Erkenntnisquellen zum Beleg dafür angeben, dass die Feststellungen, Erkenntnisse und Einschätzungen des Verwaltungsgerichts unzutreffend oder zumindest zweifelhaft sind (vgl. OVG NW, B.v. 12.12.2016 – 4 A 2939/15.A – juris m.w.N.).
a) Die Kläger halten die Fragen für klärungsbedürftig,
„ob bzw. inwieweit irakische Antragsteller generell bei fluchtauslösenden Problemen mit nichtstaatlichen Personen oder Organisationen wie der schiitischen Miliz auf die Inanspruchnahme staatlichen Schutzes verwiesen werden können“
und
„ob für irakische Asylantragsteller mit sunnitischer Religionszugehörigkeit im Falle von Übergriffen durch die schiitische Miliz auf sie eine inländische Fluchtalternative innerhalb Bagdads zu bejahen ist“.
Diese Fragen wären in einem Berufungsverfahren nicht klärungsfähig, da sie für das Verwaltungsgericht hier nicht entscheidungserheblich waren. Das Verwaltungsgericht hat in seinem Urteil (UA S. 5) ausgeführt, dass sich die vorgetragenen Vorfälle mit der schiitischen Miliz als kriminelle Handlungen darstellten, die nicht konkret an ein Verfolgungsmerkmal im Sinne von § 3b AsylG anknüpften. Die vorgetragene Verfolgungsgeschichte sei auch nicht glaubhaft. Die Kläger hätten nicht konkret und substantiiert darlegen können, dass und warum ihnen im Irak eine individuelle Verfolgung seitens der schiitischen Miliz drohe.
b) Soweit die Kläger allgemein eine Verfolgung von Sunniten in Bagdad durch die schiitische Miliz anführen, sind Zulassungsgründe im Hinblick auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichts (UA S. 6 f.) zu den Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 5 AsylG (Gruppenverfolgung) nicht ausreichend dargelegt (vgl. § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG).
Im Übrigen liegt eine Gruppenverfolgung von Sunniten im Irak durch schiitische Milizen nach derzeitiger Erkenntnislage nicht vor (vgl. BayVGH, B.v. 21.9.2017 – 4 ZB 17.31091 – juris).
Für die Annahme einer Gruppenverfolgung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 5 AsylG) ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (vgl. BVerwG, U.v. 31.4.2009 – 10 C 11.08 – AuAs 2009, 173; v. 1.2.2007 – 1 C 24.06 – NVwZ 2007, 590; v. 18.7.2006 – 1 C 15.05 – BVerwGE 126, 243 = BayVBl 2007, 151).
In der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist geklärt, dass die Verfolgungshandlungen, denen der sunnitische Bevölkerungsteil ausgesetzt ist, im Staat Irak die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche kritische Verfolgungsdichte nicht aufweisen (U.v. 9.1.2017 – 13a ZB 16.30740 – juris m.w.N.). Der Umfang der Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter, die an die sunnitische Religionszugehörigkeit anknüpfen, rechtfertigt in der Relation zu der Größe dieser Gruppe nicht die Annahme einer alle Mitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung. Die irakische Bevölkerung setzt sich zu 60 bis 65% aus arabischen Schiiten, zu 17 bis 22% aus arabischen Sunniten und zu 15 bis 20% aus (überwiegend sunnitischen) Kurden zusammen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 7.2.2017 S. 7). Bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 36 Millionen Einwohnern (vgl. www.auswaertiges-amt.de – Länderinfos, Stand: März 2017) würde das bedeuten, dass sechs bis acht Millionen arabische Sunniten im Irak im oben geschilderten Sinn als Gruppe verfolgt würden. Für eine solche Annahme gibt es keine ausreichenden Hinweise.
Dies gilt auch für die Stadt Bagdad, in der 7,6 Millionen Einwohner leben (vgl. www.auswaertiges-amt.de – Irak, Länderinformation, Stand: März 2017). Zwar hat nach der Dokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) der Republik Österreich vom 24. August 2017 die zielgerichtete Gewalt gegen sunnitische Araber in Bagdad ebenso wie in anderen von der Regierung kontrollierten Gebieten des Irak seit 2014 zugenommen. In Bagdad sei gemeldet worden, dass sunnitische Binnenvertriebene gedrängt worden seien, aus schiitischen und gemischt sunnitisch-schiitischen Wohngebieten auszuziehen, wie auch die Klagepartei vorträgt. Auch gewaltsame Vertreibungen von Sunniten aus mehrheitlich von Schiiten bewohnten Vierteln Bagdads seien vorgekommen. Zum Teil gehe es allerdings darum, die Grundstücke der vertriebenen Familien übernehmen zu können. Laut Berichten begingen die (schiitischen) PMF-Milizen in Bagdad immer wieder Kidnappings und Morde an der sunnitischen Bevölkerung. Viele Familien seien in Bagdad durch den konfessionellen Konflikt dazu gezwungen gewesen, ihre Häuser zu verlassen und sich zunehmend entlang konfessioneller Grenzen wieder anzusiedeln. Somit seien separate sunnitische und schiitische Viertel entstanden. Bagdad sei weiterhin entlang konfessioneller Linien gespalten.
Anhaltspunkte für das Vorliegen einer kritischen Verfolgungsdichte ergeben sich daraus nicht.
Die Fragen, ob Sunniten in Bagdad auf die Inanspruchnahme staatlichen Schutzes verwiesen werden können oder eine Fluchtalternative innerhalb Bagdads haben, stellt sich daher auch aus rechtlichen Gründen nicht. Faktisch steht eine Fluchtalternative nach der dargestellten Erkenntnislage in den sunnitischen Vierteln Bagdads grundsätzlich zur Verfügung.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
3. Dieser Beschluss, mit dem die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig wird (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG), ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben