Verwaltungsrecht

Keine Klärungsfähigkeit der Gefahr von Genitalverstümmelungen in Äthiopien nach einer Abschiebung

Aktenzeichen  8 ZB 18.32980

Datum:
21.11.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 37583
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 30 Abs. 3 Nr. 2, § 78 Abs. 3 Nr. 1, Abs. 4 S. 4

 

Leitsatz

1 Es ist ausschließlich Sache des Tatrichters, die Glaubwürdigkeit eines Asylbewerbers im Rahmen der freien Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 S. 1 VwGO im Einzelfall zu beurteilen (vgl. BVerwG BeckRS 2005, 26351). (Rn. 5 – 7) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Aufhebung einer auf § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylG gestützten Offensichtlichkeitsentscheidung des Bundesamts durch das Verwaltungsgericht steht nicht im Widerspruch zur Beurteilung eines klägerischen Vortrags als unglaubhaft. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
3 Die im Zulassungsantrag aufgeworfene Tatsachenfragen, „wie groß die Gefahr der weiblichen Genitalverstümmmelung in Äthiopien nach wie vor ist“ und „ob junge Mädchen aufgrund der großen Gefahr von brutalen Beschneidungen nach Äthiopien abgeschoben werden können“, sind Fragen des Einzelfalls, die einer grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich sind. (Rn. 9 – 14) (redaktioneller Leitsatz)
4 Auch die Frage, „ob alleinstehende Mütter mit kleiner Tochter nach Äthiopien abgeschoben werden können“, ist in dieser Allgemeinheit nicht klärungsfähig, da die Antwort auf diese Frage von den individuellen Umständen des Einzelfalls abhängt, insbesondere davon, ob eine Unterstützung durch den Familienverband zu erwarten ist. (Rn. 15 – 17) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

AN 3 K 17.34111, AN 3 K 17.34439 2018-10-02 Urt VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerinnen tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
1. Der allein geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) ist nicht in einer Weise dargetan, die den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG genügt.
Einer Rechtssache kommt grundsätzliche Bedeutung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG zu, wenn für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine konkrete, jedoch fallübergreifende Tatsachen- oder Rechtsfrage von Bedeutung war, deren noch ausstehende obergerichtlich Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint (vgl. BayVGH, B.v. 5.12.2017 – 11 ZB 17.31711 – juris Rn. 2; BVerwG, B.v. 21.11.2017 – 1 B 148.17 u.a. – juris Rn. 4 zu § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Dementsprechend verlangt die Darlegung der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung nach § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG, dass eine konkrete Tatsachen- oder Rechtsfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und entscheidungserheblich (klärungsfähig) ist. Ferner muss dargelegt werden, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht (vgl. BayVGH, B.v. 5.12.2017 – 11 ZB 17.31711 – juris Rn. 2; BVerwG, B.v. 30.9.2015 – 1 B 42.15 – juris Rn. 3). Darzulegen sind mithin die konkrete Frage sowie ihre Klärungsbedürftigkeit, Klärungsfähigkeit und allgemeine Bedeutung (vgl. OVG NRW, B.v. 15.12.2017 – 13 A 2841/17.A – juris Rn. 3 ff.).
Diesen Anforderungen wird das klägerische Vorbringen nicht gerecht.
1.1 Die von den Klägerinnen für grundsätzlich bedeutsam erachtete Tatsachenfrage,
„ob die Klägerin zu 1 glaubwürdig ist“,
ist einer generellen Klärung nicht zugänglich. Vielmehr ist es ausschließlich Sache des Tatrichters, die Glaubwürdigkeit des Asylbewerbers im Rahmen der freien Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO im Einzelfall zu beurteilen (vgl. BVerwG, B.v. 18.7.2001 – 1 B 118.01 – DVBl 2002, 53 = juris Rn. 3; B.v. 22.2.2005 – 1 B 10.05 – juris Rn. 2; BayVGH, B.v. 17.1.2018 – 10 ZB 17.30723 – juris Rn. 5).
Soweit der Zulassungsantrag geltend macht, das Verwaltungsgericht hätte von der Glaubwürdigkeit der Klägerin zu 1 ausgehen müssen, richtet er sich gegen die richterliche Sachverhalts- und Beweiswürdigung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), die grundsätzlich dem materiellen Recht zuzuordnen ist. Im Asylprozess kann die Verletzung materiellen Rechts als solche nicht zu einer Berufungszulassung führen, weil § 78 Abs. 3 AsylG – anders als § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO – den Zulassungsgrund der „ernstlichen Zweifel“ an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung gerade nicht vorsieht. Durch Mängel der gerichtlichen Sachverhalts- und Beweiswürdigung kann allenfalls der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG, § 138 Nr. 3 VwGO, § 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt sein, allerdings nur dann, wenn ein besonders schwerwiegender Verstoß vorliegt, vor allem wenn die Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Gerichts auf einem Rechtsirrtum beruht, objektiv willkürlich ist oder allgemeine Erfahrungssätze missachtet (vgl. BVerwG, B.v. 31.1.2018 – 9 B 11.17 – juris Rn. 3; B.v. 12.3.2014 – 5 B 48.13 – NVwZ-RR 2014, 660 = juris Rn. 22; BayVGH, B.v. 7.5.2018 – 21 ZB 18.30867 – juris Rn. 4). Dass ein solcher Mangel vorliegt, zeigt der Zulassungsantrag nicht auf. Die Aufhebung der auf § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylG gestützten Offensichtlichkeitsentscheidung des Bundesamts durch das Verwaltungsgericht steht entgegen der Auffassung der Klägerinnen nicht im Widerspruch zur Beurteilung ihres Vortrags als unglaubhaft. Denn die Abweisung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet erfordert nach § 30 Abs. 3 AsylG qualifizierende Merkmale; die Unbegründetheit des Asylbegehrens muss sich „geradezu aufdrängen“ (vgl. BVerfG, B.v. 22.10.2008 – 2 BvR 1819/07 – juris Rn. 19). Ausgehend davon hat das Verwaltungsgericht zutreffend angenommen, dass alleine seine – als Ergebnis der Sachverhalts- und Beweiswürdigung gewonnene – Überzeugung, dass der Vortrag der Klägerin zu 1 nicht glaubhaft sei, die Ablehnung des Asylbegehrens als offensichtlich unbegründet nach § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG nicht trägt (vgl. hierzu auch Funke-Kaiser in GK AsylG, Stand September 2018, § 30 Rn. 36).
1.2 Die im Zulassungsantrag aufgeworfene Tatsachenfrage,
„wie groß die Gefahr der weiblichen Genitalverstümmmelung in Äthiopien nach wie vor ist“
ist nicht klärungsbedürftig. Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Genitalverstümmelung bei Frauen und Mädchen in Äthiopien nach wie vor weit verbreitet ist (vgl. S. 12 UA). Dass den Klägerinnen bei einer Rückkehr in Äthiopien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) eine Genitalverstümmelung droht, hat es trotzdem verneint, weil es das Vorbringen der Klägerin zu 1 zu der versuchten Beschneidung vor ihrer Ausreise als unglaubhaft beurteilt und im Übrigen angenommen hat, dass diese dafür sorgen kann, dass ihre Tochter nicht beschnitten wird. Ob dies zutrifft, ist eine Frage des Einzelfalls, die einer grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich ist (vgl. BayVGH, B.v. 22.2.2017 – 9 ZB 17.30027 – juris Rn. 6; OVG NRW, B.v. 6.12.2006 – 19 A 2171/06.A – juris).
1.3 Aus demselben Grund ist auch die angeführte Tatsachenfrage,
„ob junge Mädchen aufgrund der großen Gefahr von brutalen Beschneidungen nach Äthiopien abgeschoben werden können“,
nicht allgemein klärungsfähig. Denn es ist weder dargelegt noch sonst erkennbar, dass Eltern bzw. Mütter betroffener Mädchen generell nicht in der Lage wären, ihr Kind vor einer Beschneidung zu schützen, zumal es das erklärte Ziel der äthiopischen Regierung ist, die mit großen regionalen Unterschieden nach wie vor weit verbreitete Genitalverstümmelung durch Aufklärungs- und Überzeugungskampagnen abzuschaffen (vgl. Auswärtiges Amt, Adhoc Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Äthiopien vom 17.10.2018, S. 18).
1.4 Die für grundsätzlich bedeutsam erachtete Tatsachenfrage,
„ob alleinstehende Mütter mit kleiner Tochter nach Äthiopien abgeschoben werden können“
ist in dieser Allgemeinheit nicht klärungsfähig. Sie ist viel zu weit gefasst, um in einem Berufungsverfahren abstrakt beantwortet werden zu können. Die Antwort auf diese Frage hängt von den individuellen Umständen des Einzelfalls ab, insbesondere davon, ob eine Unterstützung durch den Familienverband zu erwarten ist. Hiervon ist das Verwaltungsgericht vorliegend ausgegangen (vgl. S. 16 UA). Der Einwand, es hätte die Möglichkeit der Rückkehr der Klägerinnen in einen Familienverband nicht unterstellen dürfen, richtet sich gegen die dem materiellen Recht zuzuordnende Sachverhalts- und Beweiswürdigung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), deren Verletzung im Asylprozess als solche nicht zu einer Berufungszulassung führen kann (vgl. oben 1.1). Dass insoweit ein besonders schwerwiegender Verstoß gegen die gerichtliche Sachverhalts- und Beweiswürdigung vorläge, der den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzen könnte (vgl. BVerwG, B.v. 31.1.2018 – 9 B 11.17 – juris Rn. 3; B.v. 12.3.2014 – 5 B 48.13 – NVwZ-RR 2014, 660 = juris Rn. 22; BayVGH, B.v. 7.5.2018 – 21 ZB 18.30867 – juris Rn. 4), zeigt der Zulassungsantrag nicht auf.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 RVG.
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).


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