Verwaltungsrecht

Keine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung wegen Beeinträchtigung der Familieneinheit durch die (vorübergehende) Trennung von Familienangehörigen

Aktenzeichen  10 CE 20.2680

Datum:
2.12.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 36085
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 60a Abs. 2 S. 1
GG Art. 6 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Für einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG kommt es darauf an, ob dem Ausländer die Ausreise zur Durchführung des Visumverfahrens zumutbar ist. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Nicht jede tatsächlich gelebte eheliche Lebensgemeinschaft führt zu einer rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung, vielmehr muss durch die Abschiebung eine unzumutbare Beeinträchtigung der Familieneinheit durch die (vorübergehende) Trennung von Familienangehörigen vorliegen. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 1 E 20.1325 2020-10-21 Bes VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.250,– Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller ist nigerianischer Staatsangehöriger und reiste am 13. April 2014 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sein Asylantrag wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 31. Januar 2018 als unzulässig abgelehnt. Die Entscheidung ist seit 25. April 2018 rechtskräftig. Seit dem 31. März 2018 ist der Antragsteller mit der deutschen Staatsangehörigen Frau S. K. verheiratet.
Der Antragsteller beantragte erstmals mit Schreiben vom 15. Mai 2018, ihm eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz Nr. 1 AufenthG zu erteilen und sagte zunächst zu, freiwillig nach Nigeria auszureisen, um das Visumverfahren durchzuführen. Bei einer neuerlichen Vorsprache am 17. April 2019 teilte er mit, dass er nicht freiwillig ausreisen werde, und beantragte erneut die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG. Diesen Antrag lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 9. Mai 2019 ab, weil der Antragsteller nicht mit dem erforderlichen Visum eingereist sei.
Der Antragsteller ist am 5. Februar 2020 zur Personenfahndung ausgeschrieben worden, weil seine Ehefrau am 1. November 2019 mitgeteilt hatte, dass er zur Beantragung des Visums nicht nach Nigeria reisen wolle, obwohl dort ein Termin für den 4. November 2019 bestätigt sei, und er seit 27. Oktober 2019 aus der Ehewohnung verschwunden sei.
Am 30. Juni 2020 beantragte der Antragsteller erneut die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und einer Duldung bis zur Ausstellung der Aufenthaltserlaubnis. Er lebe mit seiner Ehefrau in der ehelichen Wohnung in ehelicher Lebensgemeinschaft.
Den Antrag des Antragstellers, dem Antragsgegner zu untersagen, ihn bis zur Entscheidung über seinen Antrag auf Erteilung einer Duldungsbescheinigung nach § 60a Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 6 GG nach Nigeria abzuschieben oder vorbereitende Maßnahmen hierzu zu treffen, lehnte das Verwaltungsgericht Augsburg mit Beschluss vom 21. Oktober 2020 ab. Der Schutz aus Art. 6 GG stehe einer Abschiebung nicht entgegen. Der Antragsteller sei auf die Einholung des erforderlichen Visums zu verweisen. Im Fall des Antragstellers seien keine Umstände erkennbar, die die Durchführung des Visumverfahrens aus familiären Gründen unzumutbar erscheinen ließen.
Die Ausschreibung zur Personenfahndung hat der Antragsgegner im Laufe des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens gelöscht. Das Verfahren wurde nach übereinstimmender Erledigungserklärung der Parteien insoweit eingestellt.
Im Beschwerdeverfahren beantragt der Antragsteller,
den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 31. Oktober 2020 aufzuheben und dem Antragsgegner zu untersagen, ihn bis zur Entscheidung über seinen Klageantrag auf Erteilung einer Duldungsbescheinigung nach § 60a Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 6 GG nach Nigeria abzuschieben oder vorbereitende Maßnahmen hierzu zu treffen.
Zur Begründung bringt er vor, das Verwaltungsgericht habe seinen Anspruch auf Gewährung von rechtlichem Gehör verletzt, da es seinem Hinweis nicht nachgegangen sei, dass der Antragsgegner die gesamte Verwaltungsakte vorlegen müsse. Aus der vorgelegten Verwaltungsakte ergebe sich nämlich kein Hinweis darauf, dass die Ehefrau des Antragstellers gegenüber dem Antragsgegner angegeben habe, er sei verschwunden. Es sei nicht auszuschließen, dass ihm Informationen vorenthalten worden seien, zu denen er sich nicht habe äußern können. Aus der Begründung des Beschlusses müsse geschlossen werden, das Verwaltungsgericht habe angenommen, dass zwischen dem Antragssteller und seiner Ehefrau keine von Art. 6 GG geschützte tatsächliche Verbundenheit bestehe. Überraschend sei, dass das Verwaltungsgericht über einen Antrag entschieden habe, den er so nicht gestellt habe. Die Begründung des Gerichts, die kurzzeitige Trennung für eine Ausreise zur Nachholung des Visumverfahrens verstoße nicht gegen Art. 6 GG, möge bei der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis richtig sein, der Antragsteller habe jedoch einen Antrag auf Erteilung einer Duldung gestellt, nachdem der Antragsgegner sich geweigert habe, den erneuten Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aufgrund des Bescheids vom 9. Mai 2019 zu verbescheiden. Ein Anordnungsanspruch liege vor, weil der Antragsgegner beabsichtige, ihn trotz der Ehe mit einer deutschen Staatsangehörigen abzuschieben.
Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Das Verwaltungsgericht habe richtig entschieden. Das Beschwerdevorbringen sei teilweise nicht nachvollziehbar.
Ergänzend wird auf die Behördenakten und die Gerichtsakten Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Die vom Antragsteller in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe, die der Verwaltungsgerichtshof nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO alleine zu prüfen hat, rechtfertigen die Abänderung des angefochtenen Beschlusses nicht. Der Antragsteller hat im Beschwerdeverfahren nicht dargelegt, dass er entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts einen Anspruch auf Ausstellung einer Duldungsbescheinigung nach § 60a Abs. 2 AufenthG aufgrund der Ehe mit einer deutschen Staatsangehörigen hat und er deshalb derzeit nicht nach Nigeria abgeschoben werden darf.
Soweit er auf eine Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung von rechtlichem Gehör verweist, wird aus dem Beschwerdevorbringen bereits nicht deutlich, inwiefern sich daraus ein Anspruch auf Ausstellung einer Duldungsbescheinigung ergeben sollte. Es ist im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt des Senats ohne Einfluss auf das Bestehen eines Abschiebungshindernisses nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung, ob der Antragsteller ab November 2019 unbekannten Aufenthalts war. Die darauf beruhende Ausschreibung zur Personenfahndung hat der Antragsgegner mittlerweile gelöscht, die Parteien haben den Rechtsstreit insoweit für erledigt erklärt.
Entgegen dem Vorbringen des Antragstellers im Beschwerdeverfahren ist das Verwaltungsgericht auch nicht davon ausgegangen, dass zwischen dem Antragsteller und seiner Ehefrau keine „tatsächliche Verbundenheit“ bestünde. Die vom Antragsteller angegriffenen Ausführungen im Beschluss vom 21. Oktober 2020 (Rn. 30) geben lediglich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Schutzbereich des Art. 6 GG wieder, ohne auf den konkreten Sachverhalt des vorliegenden Rechtsstreits einzugehen. Das Verwaltungsgericht verneint einen Anspruch auf Ausstellung einer Duldungsbescheinigung deshalb, weil nach seiner Auffassung dem Antragsteller eine kurzzeitige Trennung von seiner Ehefrau zur Durchführung des Visumverfahrens zumutbar ist, auch wenn die eheliche Lebensgemeinschaft mit seiner Ehefrau in den Schutzbereich des Art. 6 GG fällt.
Das Verwaltungsgericht ist weiterhin zu Recht davon ausgegangen, dass es auch für einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG darauf ankommt, ob dem Antragsteller die Ausreise zur Durchführung des Visumverfahrens zumutbar ist. Dies ist nicht nur bei der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bzw. bei der Frage, ob von der Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG abgesehen werden kann, relevant. Daher geht das Vorbringen des Antragstellers, das Verwaltungsgericht habe über etwas entschieden, das er nicht beantragt habe, bzw. sei über seinen Antrag hinausgegangen, ins Leere. Dies ergibt sich aus Folgendem:
Art. 6 GG gewährt keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, d.h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen. Eine Gefährdung der durch Art. 6 GG geschützten ehelichen Lebensgemeinschaft durch eine drohende Abschiebung kann daher grundsätzlich einen Anspruch auf Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG begründen. Ausgangspunkt bildet die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, B.v. 13.11.1998 – 2 BvR 140/97 – juris), wonach ein Recht auf Wahrung eines Familienlebens in der Bundesrepublik besteht, das ggf. als Vollstreckungshindernis geltend gemacht werden kann, wenn dieses durch eine drohende Abschiebung beeinträchtigt wird. In diesem Sinne kann eine unzumutbare Trennung einer familiären Lebensgemeinschaft ein rechtliches Abschiebungshindernis aus Art. 6 Abs. 1 GG begründen.
Doch nicht jede tatsächlich gelebte eheliche Lebensgemeinschaft führt zu einer rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung (VGH BW, B.v. 19.4.2001 – 13 S 555/01 – juris Rn. 3), vielmehr muss durch die Abschiebung eine unzumutbare Beeinträchtigung der Familieneinheit durch die (vorübergehende) Trennung von Familienangehörigen vorliegen. Bei der Gewichtung der nach Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschützten Belange des Ausländers im Hinblick auf die rechtliche Zulässigkeit der zwangsweisen Beendigung einer im Bundesgebiet geführten familiären Lebensgemeinschaft ist maßgeblich zu berücksichtigen, ob nach den einschlägigen Regelungen des Aufenthaltsgesetzes über den Familiennachzug eine Zuwanderung ermöglicht werden soll. Liegen die Voraussetzungen für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach Maßgabe der §§ 27 ff. AufenthG nicht vor, kann nicht ohne weiteres durch Annahme einer aus Art. 6 Abs. 1 GG oder Art. 8 EMRK hergeleiteten rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung der weitere Aufenthalt erreicht werden (vgl. VGH BW, B.v. 29.3.2001 – 13 S 2643/00 – juris Rn. 13 m.w.N.). Denn die Erteilung der Duldung ist subsidiär (vgl. § 60a Abs. 2 S. 1 a.E. „und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird“). Vorrangig ist die Möglichkeit einer Aufenthaltserlaubnis zu prüfen. Eine bloß vorübergehende Trennung für die übliche Dauer eines Visumverfahrens allein reicht daher für eine Unzumutbarkeit im Hinblick auf Art. 6 GG sowie Art. 8 EMRK und die Annahme der rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung nicht aus, wenn grundsätzlich die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug in Betracht kommt. Mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG ist es grundsätzlich vereinbar, den Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen. Denn das Aufenthaltsgesetz trägt dem Gebot der Verhältnismäßigkeit Rechnung, indem es unter den Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG im Einzelfall erlaubt, von dem grundsätzlichen Erfordernis einer Einreise mit dem erforderlichen Visum (§ 5 Abs. Abs. 2 Nr. 1 AufenthG) abzusehen. Der mit der Durchführung des Visumverfahrens üblicherweise einhergehende Zeitablauf ist von demjenigen, der einen (dauerhaften) Aufenthalt zur Führung einer ehelichen Lebensgemeinschaft begehrt, regelmäßig hinzunehmen. Unzumutbar ist die Trennung vom Ehepartner nur, wenn die Abschiebung aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalles zwangsläufig zu einer dauerhaften bzw. einer nicht absehbaren Trennung führt. Dafür gibt es vorliegend keine Anhaltspunkte, weil der Antragsgegner bereits eine Vorabzustimmung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG erteilt hat und auch der Antragsteller im Beschwerdeverfahren nicht vorgetragen hat, dass einer zeitnahen Durchführung des Visumverfahrens und einer baldigen Wiedereinreise in das Bundesgebiet Hinderungsgründe entgegenstehen würden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG i.V.m. dem Streitwertkatalog der Verwaltungsgerichtsbarkeit.


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