Verwaltungsrecht

Keine systemischen Mängel des Asylverfahrens in Italien

Aktenzeichen  M 1 S 16.50001

Datum:
27.5.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 27a, § 34a
VwGO VwGO § 80 Abs. 5
VO 2013/604/EU Art. 18 Abs. 1 lit. b)

 

Leitsatz

Die Mängel des italienischen Aufnahme- und Versorgungssystems sind nicht derart flächendeckend und gravierend, dass von einem grundlegenden, systemischen Versagen Italiens ausgegangen werden müsste, das mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung iSv Art. 4 der Grundrechtscharta führt (ebenso VG Ansbach BeckRS 2016, 40098). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage wird abgelehnt.
II.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO.

Gründe

I.
Der Antragsteller ist eigenen Angaben zufolge Staatsangehöriger der Republik Sierra Leone und reiste am 25. Juli 2015 in das Bundesgebiet ein. Er beantragte hier am 14. September 2015 seine Anerkennung als Asylberechtigter.
Bei seiner Befragung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 14. September 2015 gab er an, in sich vor seiner Einreise in das Bundesgebiet in Italien aufgehalten zu haben. Das Wiederaufnahmegesuch des Bundesamts gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin-III-VO) wurde durch die italienischen Behörden nicht innerhalb von zwei Wochen beantwortet.
Mit Bescheid vom 5. Dezember 2015, zugestellt am 16. Dezember 2015, wurde der Asylantrag des Antragstellers als unzulässig abgelehnt (Nr. 1) und die Abschiebung nach Italien angeordnet (Nr. 2). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Asylantrag sei gemäß § 27a AsylVfG unzulässig, weil Italien aufgrund des dort bereits gestellten Asylantrags gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) Dublin-III-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich. Die Anordnung der Abschiebung beruhe auf § 34a Abs. 1 S. 1 AsylVfG.
Am … Januar 2016 erhob der Antragsteller Klage gegen den Bescheid des Bundesamts vom 5. Dezember 2015 (M 1 K 15.50000) und beantragte dessen Aufhebung. Am selben Tag hat er beantragt, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Das Bundesamt legte mit Schreiben vom 29. Dezember 2015 die Behördenakte vor. Ein Antrag wurde nicht gestellt.
Zu den weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten und die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der gemäß § 34a Abs. 2 S. 1 AsylVfG i. V. m. § 80 Abs. 5 VwGO zulässige Antrag ist unbegründet, denn die Hauptsacheklage hat keine Erfolgsaussicht.
Der Bescheid der Beklagten vom 5. Dezember 2015 erweist sich als rechtmäßig.
Nach § 27 a AsylVfG ist ein Asylantrag als unzulässig abzulehnen, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Gemäß § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ordnet das Bundesamt in einem solchen Fall die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
1. Italien ist als erster Mitgliedstaat, in dem der Antragsteller einen Asylantrag gestellt hat, für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig. Aufgrund der fehlenden fristgerechten Reaktion Italiens auf das Wiederaufnahmegesuch vom 30. Oktober 2015 ist nach Art. 25 Abs. 2 i. V. m. Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) Dublin-III-VO davon auszugehen, dass Italien als Mitgliedstaat der Europäischen Union seiner Verpflichtung, den Antragsteller wieder aufzunehmen, nachkommen und ihm tatsächlich Zugang zum italienischen Asylverfahren verschaffen wird.
2. Die Abschiebung nach Italien kann gemäß § 34a Abs. 1 AsylG auch durchgeführt werden. Es liegen keine Gründe i. S. d. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-VO vor, die der Überstellung des Antragstellers nach Italien entgegenstünden.
Nach dem Konzept der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – juris) und dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10, C-493/10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechtscharta, der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und der EMRK steht. Diese Vermutung ist jedoch nicht unwiderleglich. Den nationalen Gerichten obliegt vielmehr die Prüfung, ob ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Grundrechtscharta implizieren (EuGH v. 21.12.2011 a. a. O. Rn. 86). Dabei ist die Vermutung nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. Vielmehr ist von systemischen Mängeln nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber auch im konkret zu entscheidenden Einzelfall dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris; B.v. 6.6.2014 – 10 B 35.14 – juris).
Gemessen an diesem Maßstab und übereinstimmend mit der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. BayVGH, U.v. 28.2.2014 – 13a B 13.30295 – juris) stehen der Rückführung des Antragstellers nach Italien derzeit keine systemischen Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber entgegen. Auch wenn es vorkommen mag, dass das Asylverfahren in Italien zum Teil lange dauert und Asylsuchende während der Bearbeitung ihres Asylantrags auf sich alleine gestellt und zum Teil obdachlos sind, sind die Mängel des italienischen Aufnahme- und Versorgungssystems doch nicht derart flächendeckend und gravierend, dass von einem grundlegenden, systemischen Versagen Italiens in dem Sinne ausgegangen werden müsste, dass Asylsuchende mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Grundrechtscharta zu rechnen hätten (vgl. auch VG Ansbach, U.v. 11.12.2015 – AN 14 K 15.50316 – juris Rn. 22 ff. m. w. N.; VG Hannover, U.v. 7.12.2015 – 13 A 3503/15 – juris; VGH BW, U.v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris Rn. 43 ff.; OVG NRW, U.v. 7.3.2014 – 1 A 21/12.A – juris). Der teilweise hiervon abweichenden Rechtsprechung (vgl. etwa VG Düsseldorf, U.v. 15.12.2015 – 12 K 7303/15.A – juris Rn. 33) folgt das entscheidende Gericht nicht.
Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte betreffend die Abschiebung einer Familie mit minderjährigen Kindern nach Italien (EGMR, U.v. 4.11.2014 – Nr. 29217/12 Tarakhel – NVwZ 2015, 127) ergibt sich nichts anderes. Hiernach ist sorgfältig und auf die Person des Betroffenen ausgerichtet zu prüfen, ob aufgrund der allgemeinen Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien und der besonderen Lage des Betroffenen nachweislich ernsthafte Gründe für die Annahme bestehen, dass er im Fall der Überstellung nach Italien Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Die Überstellung ist auszusetzen, wenn die Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung nachgewiesen ist (EGMR, U.v. 4.11.2014 a. a. O. Rn. 104 f.). Der EGMR geht davon aus, dass aufgrund von Berichten international anerkannter Flüchtlingsschutzorganisationen und des Auswärtigen Amtes ernstliche Zweifel an der jetzigen Kapazität des italienischen Systems bestünden. Danach könne die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass eine erhebliche Zahl von Asylbewerbern keine Unterkunft finde oder in überbelegten Einrichtungen auf engstem Raum oder sogar in gesundheitsschädlichen oder gewalttätigen Verhältnissen untergebracht werde. Jedoch verhinderten Struktur und allgemeine Lage der Aufnahme in Italien allein nicht jegliches Überstellen von Asylbewerbern in dieses Land (EGMR, Urt.v. 4.11.2014 a. a. O. Rn. 115). Für den Fall der Abschiebung einer Familie mit minderjährigen Kindern fordert der EGMR die Abgabe einer Zusicherung durch die italienischen Behörden, um sicherzustellen, dass die Familieneinheit erhalten bleibt und die Asylbewerber in Einrichtungen und unter Bedingungen untergebracht werden, die dem Alter der Kinder entsprechen (vgl. EGMR, U.v. 4.11.2014 a. a. O. Rn. 120; vgl. auch BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 1795/14 – juris).
Der EGMR stellt in seinem Urteil also nicht systemische Mängel im italienischen Asylverfahren fest. Vielmehr schränkt er die Abschiebung von Familien mit minderjährigen Kindern nach Italien ein. Diese Entscheidung ist auf die persönliche Situation des Antragstellers übertragbar. Weder gehört er als Volljähriger zu dieser Personengruppe noch kann er sich auf die zu bewahrende Familieneinheit berufen noch ergibt sich aus anderen Gründen seine besondere Schutzbedürftigkeit. Daher darf er auch ohne behördliche Zusicherung nach Italien abgeschoben werden.
Darüber hinaus sind außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Antragsgegnerin zur Ausübung ihres Selbsteintrittsrechts verpflichten würden, nicht ersichtlich.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.


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