Verwaltungsrecht

Keine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme bei Einhaltung der Abstandsflächen

Aktenzeichen  M 1 K 16.338

Datum:
9.8.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 50529
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 34 Abs. 1 S. 1
BayBO Art. 6

 

Leitsatz

Bei Einhaltung der Abstandsflächen sind die nachbarlichen Belange ausreichender Belichtung, Besonnung und Belüftung sowie die Begrenzung der Einsichtsmöglichkeiten im Regelfall nicht verletzt, da das Gebot der nachbarlichen Rücksichtnahme vom Landesgesetzgeber mit diesen Belangen in den bauordnungsrechtlichen Abstandsflächenvorschriften konkretisiert worden ist. Das heißt, dass für die Anwendung des Rücksichtnahmegebots insoweit kein Raum ist, als die durch dieses Gebot geschützten Belange auch durch spezielle bauordnungsrechtliche Vorschriften geschützt werden und das konkrete Vorhaben deren Anforderungen genügt. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Der Kläger haben als Gesamtschuldner die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage hat keinen Erfolg. Der angegriffene Bescheid ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Die Kläger haben als Nachbarn nicht schon bei objektiver Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung einen Rechtsanspruch auf ihre Aufhebung. Sie müssen vielmehr durch die Baugenehmigung gerade in eigenen Rechten verletzt sein. Dies ist nur dann der Fall, wenn die verletzte Norm zumindest auch dem Schutz des Nachbarn zu dienen bestimmt ist, sie also drittschützende Wirkung hat (vgl. BayVGH, B. v. 2.9.2013 – 14 ZB 13.1193 – juris Rn. 11). Hier ist eine Verletzung der Kläger in drittschützenden Rechten zu verneinen. Das Gebot der Rücksichtnahme ist nicht verletzt. Auch die erteilte Befreiung von den Abstandsflächenvorschriften führt nicht zu einer Verletzung in drittschützenden Rechten. Zur Begründung dieser Auffassung wird auf die ausführliche Begründung im Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 14. März 2016 (M 1 SN 16.339) und im Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 3. Juni 2016 (1 CS 16.747) verwiesen.
Zum weiteren Vorbringen des Klägerbevollmächtigten mit Schriftsatz vom …. Juli 2016 ist auszuführen:
1. Die im Gutachten des …-büros für energieeffiziente Stadtplanung vom …. April 2016 dargestellte zunehmende Verminderung der Besonnungszeit für das Anwesen der Kläger vor allem im Winter und im Winterhalbjahr führt nicht zu einem Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Dies hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in seinem Beschluss vom 3. Juni 2016 (dort Rn. 8) mit eingehender Begründung ausgeführt. Die Kläger haben keinen Anspruch darauf, dass die bisherige Bebauungssituation mit einem weit nach hinten versetzten Nachbargebäude bestehen bleibt.
2. Soweit der Klägerbevollmächtigte vorträgt, die Reduzierung der Besonnungszeit infolge des Vorhabens überschreite die in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U. v. 23.2.2005 – 4 A 2.04 und 4 A 0.04 – juris) aufgestellte Zumutbarkeitsgrenze, ist bereits zweifelhaft, ob die in den angeführten Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts getroffenen Feststellungen aus dem planfeststellungsbezogenen Entschädigungsrecht auf das Bauplanungsrecht übertragbar sind (vgl. BVerwG, B. v. 15.6.2016 – 4 B 52.15 – juris Rn. 13). Jedenfalls erreicht die Verminderung der Besonnung hier aber noch nicht den nach den zitierten Urteilen erforderlichen Umfang. Nach dem Gutachten vom …. April 2016 beträgt die zusätzliche Verschattung insgesamt, d. h. an allen Fenstern, im Jahresmittel 8,1% und im Winterhalbjahr 23% (vgl. dort S. 16), nicht aber über das Jahr verteilt 14% und in den Wintermonaten ein Drittel (vgl. hierzu BVerwG, U. v. 23.2.2005 – 4 A 2.04 – juris Rn. 3 und 56).
3. Der Klägerbevollmächtigte trägt zutreffend vor, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U. v. 11.1.1999 – 4 B 128.89 – BayVBl 1999, 568 – juris Rn. 3) bauordnungsrechtliche Abstandsvorschriften den städtebaulichen Schutz durch die bauplanungsrechtliche Regelung des § 34 Abs. 1 BauGB hinsichtlich Belichtung, Besonnung und Belüftung nicht verdrängen können. Allerdings ist das Gebot der Rücksichtnahme zumindest aus tatsächlichen Gründen im Regelfall nicht verletzt, wenn die Abstandsvorschriften eingehalten sind (BVerwG, U. v. 11.1.1999, a. a. O., Rn. 3). Im vorliegenden Fall spricht bei der gebotenen Einzelfallbetrachtung zudem die nach wie vor bestehende aufgelockerte Umgebungsbebauung und die Ausnutzung des 16 m-Privilegs durch die Kläger selbst gegen eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme.
4. Auch das Vorbringen des Klägerbevollmächtigten, die Gesamtschau der Abweichungen von der Umgebungsbebauung führe zu einem schweren und unerträglichen Eingriff in das Eigentumsgrundrecht der Kläger, erfordert keine neue rechtliche Beurteilung. Nach der Rechtsprechung (vgl. nur BVerwG, U. v. 26.9.1991 – 4 C 5.87 – DVBl 1992, 564 – juris Ls. 3) hat das einfache Recht ein schweren und unerträglichen Eingriff in das Eigentum inzwischen verdrängt, so dass neben dem Gebot der Rücksichtnahme und anderen drittschützenden Vorschriften kein Raum mehr für einen Rückgriff auf Art. 14 Abs. 1 GG bleibt (Dirnberger in Simon/Busse, BayBO, Stand Jan. 2016, Art. 66 Rn. 457). Im Übrigen führt die Verneinung einer Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme, das niedrigschwelliger ansetzt als ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG, dazu, dass auch letzterer nicht vorliegt.
5. Soweit der Klägerbevollmächtigte vorträgt, das Vorhaben führe zu bodenrechtlich beachtlichen Spannungen, weil es eine neue Größenordnung von Vorhaben mit sich bringe, betrifft dies den objektiv-rechtlichen Teil des Gebots der Rücksichtnahme und vermittelt dies keine drittschützende Wirkung (vgl. BayVGH, B. v. 3.6.2016, Rn. 4).
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Kläger tragen die Kosten dabei als Gesamtschuldner (§ 159 Satz 2 VwGO). Die Beigeladene, die einen Antrag gestellt und sich deshalb einem Kostenrisiko ausgesetzt hat, kann ihre außergerichtlichen Kosten von den Klägern ersetzt verlangen (§ 154 Abs. 3, § 162 Abs. 3 VwGO). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).
Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Sprungrevision unter Übergehung der Berufungsinstanz war abzulehnen. Diese Entscheidung kann bereits in dem vorliegenden Urteil getroffen werden (Kraft in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 134 Rn. 25; Winkelmüller/van Schewick in Gärditz, VwGO, 1. Aufl. 2013, § 134 Rn. 24). Ein Zulassungsgrund nach § 134 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 132 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 VwGO liegt nicht vor. Die Verwaltungsstreitsache hat keine grundsätzliche Bedeutung, weil die Beurteilung der Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme eine Einzelfallfrage ist (vgl. BayVGH, B. v. 3.6.2016, Rn. 4). Das Verwaltungsgericht weicht auch nicht von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U. v. 23.5.1986 – 4 C 34.85 – DVBl 1986, 1271 – juris) ab. Es hat vielmehr im Beschluss vom 14. März 2016, auf dessen Ausführungen hier verwiesen wird, einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme zuerst im Hinblick auf Belichtung, Belüftung und Besonnung und anschließend im Hinblick auf die erdrückende oder abriegende Wirkung des Vorhabens geprüft und dabei gerade auch die angeblich widersprechende Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zitiert.
Rechtsmittelbelehrung:
1. Nach §§ 124, 124 a Abs. 4 VwGO können die Beteiligten die Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil innerhalb eines Monats nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayer-straße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
beantragen. In dem Antrag ist das angefochtene Urteil zu bezeichnen. Dem Antrag sollen vier Abschriften beigefügt werden.
Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist bei dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof,
Hausanschrift in München: Ludwigstraße 23, 80539 München, oder
Postanschrift in München: Postfach 34 01 48, 80098 München
Hausanschrift in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach
einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.
2. Die Ablehnung der Zulassung der Sprungrevision ist unanfechtbar (§ 134 Abs. 2 Satz 3 VwGO).
Beschluss:
Der Streitwert wird auf Euro 7.500,- festgesetzt (§ 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz – GKG – i. V. m. Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit).


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