Verwaltungsrecht

keine Wiedereinsetzung trotz schwerer Krebserkrankung

Aktenzeichen  4 ZB 19.1883

Datum:
5.3.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 4547
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 124a Abs. 5 S. 2

 

Leitsatz

1. Die Bemessung der Steuer nach der indexierten Jahresrohmiete als Mietwert ist nach der aktuellen höchstrichterlichen Rechtsprechung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar, so dass jedenfalls seit dem Jahr 2009 weder das Ziel der Verwaltungsvereinfachung noch Gründe der Typisierung und Pauschalierung die Verwendung des Maßstabs rechtfertigen können. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Krankheit greift nur dann als Grund für eine unverschuldete Versäumung einer Rechtsbehelfsfrist durch, wenn sie so schwer war, dass der von ihr betroffene Verfahrensbeteiligte nicht bloß unfähig war, selbst zu handeln, sondern auch außerstande war, einen Bevollmächtigten mit der Wahrnehmung seiner Interessen zu beauftragen und im gebotenen Umfang zu informieren (ebenso BVerwG BeckRS 2008, 38105). (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein Abgabenbescheid, dem es wegen der Verfassungswidrigkeit der zugrundeliegenden Satzung an einer wirksamen Rechtsgrundlage fehlt, ist nicht nichtig, sondern lediglich rechtswidrig und kann daher nach allgemeinen Grundsätzen in Bestandskraft erwachsen. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 10 K 18.4551 2019-05-23 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 23. Mai 2019 wird insoweit zugelassen, als das Verwaltungsgericht die Klage (gegen die Bescheide vom 17.9.2014 und 15.1.2018) als unbegründet abgewiesen hat.
II. Im Übrigen (soweit die Klage gegen den Bescheid vom 16.1.2015 als unzulässig abgewiesen wurde) wird der Antrag auf Zulassung der Berufung abgelehnt.
III. Die Kläger haben gesamtschuldnerisch die Kosten des erfolglosen Teils des Zulassungsverfahrens zu tragen. Im Übrigen bleibt die Kostenentscheidung der Endentscheidung vorbehalten.
IV. Der Streitwert für den erfolglosen Teil des Zulassungsverfahrens wird auf 1.308,33 Euro festgesetzt. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird vorläufig auf 3.619,83 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Kläger sind als Eheleute gemeinsame Eigentümer einer Ferienwohnung im Gemeindegebiet der Beklagten. Sie wenden sich gegen drei Zweitwohnungsteuerbescheide der Beklagten, die auf deren Satzung über die Erhebung einer Zweitwohnungsteuer (Zweitwohnungsteuersatzung – im Folgenden: ZwStS) vom 27. April 2005 gestützt sind. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Bescheide: Bescheid vom 17. September 2014 für die Jahre 2010 bis 2014 (jährlich 436,11 Euro), Bescheid vom 16. Januar 2015 für die Jahre 2015 bis 2017 (jährlich 436,11 Euro) und Bescheid vom 15. Januar 2018 für das Jahr 2018 und die Folgejahre (jährlich 479,76 Euro).
Das Verwaltungsgericht wies die nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhobene Klage mit Urteil vom 23. Mai 2019 als teilweise unzulässig (bezüglich des Bescheids vom 16.1.2015) und im Übrigen unbegründet (bezüglich der Bescheide vom 17.9.2014 und 15.1.2018) ab. Hiergegen richtet sich der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung, dem die Beklagte entgegentritt.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten verwiesen.
II.
1. Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts ist zulässig und teilweise begründet. Soweit sich der Antrag gegen die Teilabweisung der Klage als unbegründet richtet, ist die Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung zuzulassen (dazu a). Hinsichtlich des als unzulässig abgewiesenen Teils der Klage liegen hingegen keine Berufungszulassungsgründe vor (dazu b).
a) Zuzulassen ist die Berufung, soweit das Verwaltungsgericht die Klage (gegen die Bescheide vom 17.9.2014 und 15.1.2018) als unbegründet abgewiesen hat. Insoweit bestehen aus den mit dem Zulassungsantrag fristgerecht dargelegten Gründen (§ 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO) ernstliche Zweifel im Sinn von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts, wonach die in § 4 ZwStS vorgesehene Bemessung der Steuer nach der indexierten Jahresrohmiete als Mietwert keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegne, steht nicht im Einklang mit der aktuellen höchstrichterlichen Rechtsprechung. Hiernach ist der Steuermaßstab der indexierten Jahresrohmiete mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar, so dass jedenfalls seit dem Jahr 2009 weder das Ziel der Verwaltungsvereinfachung noch Gründe der Typisierung und Pauschalierung die Verwendung des Maßstabs rechtfertigen können (BVerfG, B.v. 18.7.2019 – 1 BvR 807/12 und 1 BvR 2917/13 – juris Rn. 32 f.; BVerwG, U.v. 27.11.2019 – 9 C 4.19 – juris Rn. 17 ff.). Die von der Beklagtenseite ins Spiel gebrachte Fortgeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts greift nur für die Satzungen der beiden Gemeinden, die Gegenstand der damaligen verfassungsgerichtlichen Prüfung und des dortigen Entscheidungsausspruchs waren. Sie erstreckt sich nicht auf eine denselben Mangel aufweisende Nachfolgesatzung (vgl. BayVGH, B.v. 24.2.2020 – 4 CS 19.2271 – Rn. 13) und kann erst recht nicht von der Verwaltungsgerichtsbarkeit auf die Satzungen anderer Gemeinden übertragen werden (vgl. BVerwG, U.v. 27.11.2019 – 9 C 4.19 – juris Rn. 20 ff.). Die streitgegenständlichen Bescheide vom 17. September 2014 und 15. Januar 2018 finden daher in der Zweitwohnungsteuersatzung der Beklagten vom 27. April 2005 keine wirksame Rechtsgrundlage.
b) Unbegründet ist der Zulassungsantrag, soweit sich die Kläger gegen die Teilabweisung ihrer Klage (betreffend den Bescheid vom 16.1.2015) als unzulässig wenden.
Die Kläger machen geltend, das Verwaltungsgericht hätte ihre Klage, soweit sie sich gegen den Zweitwohnungsteuerbescheid vom 16. Januar 2015 richtete, nicht als unzulässig ansehen dürfen. Das Verwaltungsgericht hat hierzu ausgeführt, dass der mit Schriftsatz vom 27. April 2015 erhobene Widerspruch gegen den – den Klägern laut ihrem handschriftlichen Eingangsvermerk am 22. Januar 2015 bekanntgegebenen – Bescheid verspätet gewesen sei; Gründe für eine Wiedereinsetzung in die versäumte Widerspruchsfrist seien auch unter Berücksichtigung der schweren Krebserkrankung der Klägerin zu 2 nicht gegeben. Die Widerspruchsbehörde habe den Widerspruch daher zu Recht ohne Sachentscheidung zurückgewiesen.
An der Richtigkeit der gerichtlichen Würdigung bestehen auch unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens keine ernstlichen Zweifel. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend dargelegt hat, greift eine Krankheit nur dann als Grund für eine unverschuldete Versäumung einer Rechtsbehelfsfrist durch, wenn sie so schwer war, dass der von ihr betroffene Verfahrensbeteiligte nicht bloß unfähig war, selbst zu handeln, sondern auch außerstande war, einen Bevollmächtigten mit der Wahrnehmung seiner Interessen zu beauftragen und im gebotenen Umfang zu informieren (vgl. nur BVerwG, B.v. 22.7.2008 – 5 B 50.08 – juris Rn. 7 m.w.N.). Eine derartige substantiierte Darlegung ist dem Vorbringen der Klägerseite weder im Widerspruchs- noch im Klageverfahren zu entnehmen. Insbesondere ist nicht ersichtlich und wird auch in der Zulassungsbegründung nicht vorgetragen, warum es der Klägerin zu 2 trotz ihrer schweren Erkrankung nicht möglich gewesen sein sollte, den Kläger zu 1 oder einen anderen Bevollmächtigten mit der Erhebung eines – fristwahrenden, nicht begründungspflichtigen – Widerspruchs zu beauftragen.
Soweit die Kläger in ihrer Zulassungsbegründung nunmehr rügen, der Bescheid sei zu Unrecht an ihre Privatadresse anstatt an die Kanzleianschrift der Klägerin zu 2 gerichtet worden, führt dies zu keiner anderen Beurteilung. Wie die Beklagte unter Hinweis auf die Behördenakten unwidersprochen ausgeführt hat, wurde die auf den 19. September 2014 datierte Vollmacht, die der Kläger zu 1 an die Klägerin zu 2 erteilt hat, erst mit Schreiben vom 27. April 2015 bei der Beklagten vorgelegt. Die Beklagte hat daher den Bescheid vom 16. Januar 2015 zu Recht an die Privatadresse der Kläger übermittelt. Unzutreffend ist schließlich auch die Rechtsauffassung der Kläger, wegen der inhaltlichen Rechtswidrigkeit des Bescheids bestehe unabhängig von der Wiedereinsetzungsfrage „kein materiell-rechtliches Bestandsinteresse der Beklagten an der Aufrechterhaltung des formell rechtskräftigen Bescheids“. Ein Abgabenbescheid, dem es wegen der Verfassungswidrigkeit der zugrundeliegenden Satzung an einer wirksamen Rechtsgrundlage fehlt, ist nicht nichtig, sondern lediglich rechtswidrig (vgl. nur NdsOVG, B.v. 18.6.2008 – 9 LA 51/07 – juris Rn. 6 m.w.N.). Er erwächst daher nach allgemeinen Grundsätzen in Bestandskraft.
2. Die Entscheidung über die Kosten des erfolglosen Teils des Zulassungsverfahrens folgt aus § 154 Abs. 2, § 159 Satz 2 VwGO. Soweit die Berufung zugelassen wurde, bleibt die Kostenentscheidung der Endentscheidung vorbehalten, weil das Zulassungsverfahren insoweit als Berufungsverfahren fortgesetzt wird (§ 124a Abs. 5 Satz 5 VwGO). Die Streitwertfestsetzung für den erfolglosen Teil des Zulassungsverfahrens beruht auf § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 3 GKG i.V.m. Nr. 1.6, Nr. 3.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit; die vorläufige Streitwertfestsetzung für das Berufungsverfahren beruht auf § 63 Abs. 1 Satz 1 GKG.
3. Soweit der Antrag auf Zulassung der Berufung abgelehnt wurde, ist dieser Beschluss unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts in diesem Umfang rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
Soweit die Berufung zugelassen worden ist, gilt folgende


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