Verwaltungsrecht

Keine zielstaatbezogenen Abschiebungsverbote – Türkei

Aktenzeichen  Au 6 K 18.30608

Datum:
14.7.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 29769
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 16a
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
AsylG § 3, § 3a, § 4
VwGO § 92

 

Leitsatz

Tenor

I. Das Klageverfahren wird eingestellt, soweit die Klage auf Anerkennung als Asylberechtigter zurückgenommen worden ist.
II. Die Klage wird im Übrigen abgewiesen.
III. Der Kläger hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.
IV. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist in ihrem noch aufrecht erhaltenen Teil nicht begründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die Gewährung subsidiären Schutzes oder auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 14. März 2018 ist daher rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Es wird insoweit in vollem Umfang Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
1. Das Klageverfahren hinsichtlich einer Asylanerkennung nach Art. 16a GG wird nach Klagerücknahme nach § 92 VwGO deklaratorisch eingestellt.
2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.
Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen – den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG – muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
Eine Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31/18 – juris Rn. 16) entspricht.
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassen-den Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31/18 – juris Rn. 16).
Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU in Form einer widerlegbaren Vermutung ist im Asylerstverfahren zu beachten, wenn der Antragsteller frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung als Anhaltspunkt für die Begründetheit seiner Furcht geltend macht, dass sich die Verfolgung im Falle der Rückkehr in das Heimatland wiederholen werde. Die solchen früheren Handlungen oder Bedrohungen nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU zukommende Beweiskraft ist von den zuständigen Behörden unter der sich aus Art. 9 Abs. 3 RL 2011/95/EU ergebenden Voraussetzung zu berücksichtigen, dass diese Handlungen oder Bedrohungen eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen, den der Betreffende für seinen Antrag auf Schutz geltend macht (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31/18 – juris Rn. 17, 34). Die vorgenannte Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Hat der Asylbewerber seine Heimat jedoch unverfolgt verlassen, kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm auf Grund von Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – BVerwGE 136, 377/382 Rn. 18) droht.
Soweit keine Beweiserleichterung wie bei Vorverfolgung oder in Widerrufsfällen nach Art. 4 Abs. 4 bzw. Art. 14 Abs. 2 RL 2011/95/EU greift, bleibt es im Umkehrschluss beim allgemeinen Günstigkeitsprinzip, wonach die Nichterweislichkeit von Tatsachen, aus denen ein Beteiligter für sich günstige Rechtsfolgen herleitet, zu seinen Lasten geht, also der Schutzsuchende (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31/18 – juris Rn. 26 ff.).
Das Tatsachengericht hat sich im Rahmen der o.g. tatrichterlichen Würdigung volle Überzeugung zur Gefahrenprognose zu bilden, also ob bei einer hypothetisch unterstellten Rückkehr des Schutzsuchenden in den behaupteten Verfolgerstaat diesem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht. Für die Annahme einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bedarf es weder einer eindeutigen Faktenlage noch einer mindestens 50%-igen Wahrscheinlichkeit. Vielmehr genügt – wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt -, wenn bei zusammenfassender Würdigung die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31/18 – juris Rn. 22). Lückenhafte Erkenntnisse, eine unübersichtliche Tatsachenlage oder nur bruchstückhaften Informationen aus einem Krisengebiet stehen ebenso wenig wie gewisse Prognoseunsicherheiten einer Überzeugungsbildung nicht grundsätzlich entgegen, wenn eine weitere Sachaufklärung keinen Erfolg verspricht. Die Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit darf aber nicht unter Verzicht auf die Feststellung objektivierbarer Prognosetatsachen auf bloße Hypothesen und ungesicherte Annahmen gestützt werden (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31/18 – juris Rn. 22). Kann das Tatsachengericht dennoch keine Überzeugung gewinnen und bestehen keine Anhaltspunkte für eine weitere Sachverhaltsaufklärung, hat es die Nichterweislichkeit des behaupteten Verfolgungsschicksals festzustellen und nach o.g. Maßstäben eine Beweislastentscheidung zu treffen.
Gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen (Nr. 1), vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden (Nr. 2), oder den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat (Nr. 3). Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben (§ 3 Abs. 2 Satz 2 AsylG).
Es ist Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
a) Die politische Lage in der Türkei stellt sich derzeit wie folgt dar:
Die Türkei ist nach ihrer Verfassung eine parlamentarische Republik und ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat und besonders den Grundsätzen des Staatsgründers Mustafa Kemal („Atatürk“) verpflichtet. Der – im Jahr 2014 erstmals direkt vom Volk gewählte – Staatspräsident hatte eine eher repräsentative Funktion; die Regierungsgeschäfte führte der Ministerpräsident. Durch die Verfassungsänderungen des Jahres 2018 ist die Türkei in eine Präsidialrepublik umgewandelt worden, in welcher Staats- und Regierungschef personenidentisch sind: Staatspräsidenten Er. (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich – im Folgenden: BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 5 ff. m.w.N.).
Im Parlament besteht von Verfassungs wegen ein Mehrparteiensystem, in welchem die seit dem Jahr 2002 regierende „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) des früheren Ministerpräsidenten und heutigen Staatspräsidenten Er. die zahlenstärkste Fraktion darstellt. Die heutige Parteienlandschaft in der Türkei ist geprägt von drei Faktoren, die sich gegenseitig verstärken: Erstens herrschen zwischen den Parteien relativ stabile Größenverhältnisse in der Relation 4 zu 2 zu 1. Die AKP ist stets unangefochten stärkste Kraft. Mit klarem Abstand folgt die CHP, die in der Regel halb so viele Stimmen bekommt wie die AKP, und darauf die MHP mit wiederum circa der Hälfte der Stimmen der CHP. Die pro-kurdische Partei der Demokratie der Völker (HDP) hat sich erst in den letzten Jahren dauerhaft etabliert. Zweitens sind die Wähler von drei der genannten Parteien relativ klar abgegrenzten Milieus zuzuordnen, die sich nicht nur nach ethno-kulturellen Zugehörigkeiten unterscheiden lassen, sondern auch nach divergierenden Lebensstilen sowie schichten-spezifischen sozialen und wirtschaftlichen Lagen. Die AKP stützt sich primär auf eine türkisch-national empfindende und ausgeprägt religiöse Wählerschaft mit konservativer Sittlichkeit und traditionellem Lebensstil, die eher den unteren Einkommens- und Bildungsschichten zuzurechnen ist. Die CHP dagegen vertritt die türkisch-säkularen Schichten höheren Bildungsgrades mit einem europäischen Lebensstil und durchschnittlich deutlich höheren Einkommen. Ob im Hinblick auf Schicht oder Bildung, Modernität oder Konservatismus: Die MHP steht zwischen den beiden größeren Parteien. Charakteristisch für sie ist ein stark ethnisch gefärbter türkischer Nationalismus, der sich in erster Linie als bedingungslose Identifikation mit dem Staat und als starke Ablehnung kurdischer Identität äußert. Die HDP gibt sich als linke Alternative, wird jedoch generell als die Partei der kurdischen Bewegung wahrgenommen. Mehr noch als bei den anderen Parteien ist die ethnisch-nationale Komponente für die Zugehörigkeit ihrer Anhängerschaft bestimmend. Drittens verfügen drei der genannten Parteien über geographische Stammregionen mit einem eigenen Milieu. So ist die AKP in allen Landesteilen stark vertreten, hat aber ihr Stammgebiet in Zentralanatolien und an der Schwarzmeerküste. Die CHP hat an den Küsten der Ägäis und in zweiter Linie in Thrazien und am Mittelmeer großen Rückhalt; die HDP hingegen in den primär kurdisch besiedelten Regionen. Die klare Aufteilung folgt auch der wirtschaftlichen Entwicklung der Stammregionen, denn die CHP reüssiert in den ökonomisch am stärksten entwickelten Regionen, die keine oder nur wenig staatliche Förderung benötigen. Die AKP vertritt die immer noch eher provinziell geprägten Gebiete, die auf staatliche Infrastrukturleistungen und Investitionen angewiesen sind. Die HDP ist in den kurdischen besiedelten Gebieten zuhause, die als Schauplatz des türkisch-kurdischen Konflikts (dazu unten) besonders unterentwickelt sind. Wahlergebnisse in der Türkei bilden deshalb nicht primär Verteilungskonflikte ab, sondern Identitäten ihrer Wähler: In den europäischen Ländern, die türkische Arbeitsmigranten aufgenommen haben, stimmten weit über 60 Prozent für Er. und seine AKP; dagegen votierten in den USA, wo sich die türkische Migration aus Akademikern und anderen Angehörigen der Mittelschicht zusammensetzt, weniger als 20 Prozent für die AKP (zum Ganzen Stiftung Wissenschaft und Politik – SWP, Die Türkei nach den Wahlen: Alles wie gehabt und doch tiefgreifend anders, S. 2 f., www.swp-berlin.org).
In der Wahl vom 1. November 2015 errang die AKP zwar 49,5% der Stimmen, verfehlte aber die für eine Verfassungsänderung notwendige 2/3- bzw. 3/5-Mehrheit (mit anschließendem Referendum). Innenpolitisches Anliegen Er.s war der o.g. Systemwechsel hin zu einem exekutiven Präsidialsystem, was eine Verfassungsänderung voraussetzte. Nach dem Putschversuch im Juli 2016 (dazu sogleich) hat die AKP Anfang Dezember 2016 einen Entwurf zur Verfassungsänderung hin zu einem solchen Präsidialsystem ins Parlament eingebracht, das dieses Gesetz mit der für ein Referendum erforderlichen 3/5-Mehrheit beschloss. Das Verfassungsreferendum vom 16. April 2017 erreichte die erforderliche Mehrheit; mittlerweile wurde das bislang geltende Verbot für den Staatspräsidenten, keiner Partei anzugehören, aufgehoben; Staatspräsident Er. ist seit Mai 2017 auch wieder Parteivorsitzender der AKP. In der vorverlegten Präsidentschaftswahl vom 24. Juni 2018 hat er die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen können; auch die regierende AKP errang bei der Parlamentswahl mit 42,5% der Stimmen die relative Mehrheit und zusammen mit den 11,2% Stimmenanteil der mit ihr verbündeten MHP auch die Mehrheit der Parlamentssitze (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 5, 7 f. – im Folgenden: Lagebericht; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 6 f.).
Durch die damit abgeschlossene Verfassungsänderung wurde Staatspräsident Er. zugleich Regierungschef, denn das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Ohne parlamentarische Mitsprache ernennt und entlässt der Staatspräsident die Regierungsmitglieder, kann Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen und vier der 13 Mitglieder im Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK) ernennen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 7, 22; Lagebericht ebenda S. 7). In den Kommunalwahlen vom 30. März 2019 verlor die AKP nach 20 Jahren die Stadt A. an die Opposition, ebenso die Großstädte Ad., An. und Me. sowie in der Wiederholungswahl am 23. Juni 2019 auch das von ihr seit 25 Jahren regierte Is., wo Staatspräsident Er. einst als Bürgermeister seine politische Laufbahn begonnen hatte. Diese ist von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet. Zudem hatte Staatspräsident Er. mehrmals erklärt, wer Is. regiere, regiere die Türkei (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 6).
In der Nacht vom 15./16. Juli 2016 fand in der Türkei ein Putschversuch von Teilen des Militärs gegen Staatspräsident Er. statt, dem sich auf Aufrufe der AKP hin viele Bürger entgegenstellten und der innerhalb weniger Stunden durch regierungstreue Militärs und Sicherheitskräfte niedergeschlagen wurde. Staatspräsident Er. und die Regierung machten den seit dem Jahr 1999 im Exil in den USA lebenden islamischen Prediger F. G. und dessen bis dahin vor allem für ihr Engagement in der Bildung und in der humanitären Hilfe bekannte G.-Bewegung (zu ihrer Entwicklung Lagebericht ebenda S. 4 f.; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 12 f.) für den Putsch verantwortlich. Diese wurde als terroristische Organisation eingestuft und ihre echten oder mutmaßlichen Anhänger im Zuge einer „Säuberung“, die sich auch auf Anhänger der verbotenen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) erstreckte, mit einer Verhaftungswelle überzogen. Gegen ca. 511.646 Personen wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet, über 30.000 Personen befinden sich in Haft, darunter fast 20.000 Personen auf Grund von Verurteilungen. Über 154.000 Beamte und Lehrer an Privatschulen wurden vom Dienst suspendiert bzw. aus dem Militärdienst entlassen. Flankiert wurden diese Maßnahmen durch die Ausrufung des Ausnahmezustands (Notstand), welcher der Exekutive erhebliche Handlungsvollmachten einräumte, mehrfach verlängert wurde und zwar am 19. Juli 2018 auslief, aber in einigen Bereichen in dauerhaft geltendes Recht überführt wurde (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 4 f. – im Folgenden: Lagebericht; Zahlen auch bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 5, 7; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 8, 12, 23 f.). Zu diesen Regelungen gehören insbesondere die Ermächtigung der Gouverneure, Ausgangssperren zu verhängen, Demonstrationen und Kundgebungen zu verbieten, Vereine zu schließen sowie Personen und private Kommunikation intensiver zu überwachen (vgl. Stiftung Wissenschaft und Politik – SWP, Die Türkei nach den Wahlen: Alles wie gehabt und doch tiefgreifend anders, S. 8, www.swp-berlin.org; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 7).
Als Sicherheitsorgane werden die Polizei in den Städten, die Jandarma am Stadtrand und in den ländlichen Gebieten sowie der Geheimdienst (MIT) landesweit tätig; das Militär ging in den vergangenen Jahren seiner staatlichen Sonderrolle mit einer de-facto-Autonomie gegenüber parlamentarischer Kontrolle als Hüter kemalistischer Grundsätze verlustig (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 9) und dem Verteidigungsminister als ziviler Instanz unterstellt mit der zusätzlichen Befugnis des Staatspräsidenten, den Kommandeuren der Teilstreitkräfte direkt Befehle zu erteilen (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 27). Durch die „Säuberungen“ in Folge des Putsches wurde sein innenpolitisches Gewicht gemindert und durch den Einmarsch in den grenznahen Gebieten Syriens wurden seine Kapazitäten nach außen gelenkt.
b) Eine Gruppenverfolgung allein wegen einer Zugehörigkeit zur G.-Bewegung hat der Kläger nicht beachtlich wahrscheinlich zu befürchten.
Die Annahme einer Gruppenverfolgung setzt voraus, dass entweder sichere Anhaltspunkte für ein an asylerhebliche Merkmale anknüpfendes staatliches Verfolgungsprogramm oder für eine bestimmte Verfolgungsdichte gegenüber einer Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG vorliegen, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Eine Gruppe gilt als soziale Gruppe, wenn erstens die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen unveränderlichen Hintergrund gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betroffene nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und zweitens die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird; beide Merkmale müssen zugleich erfüllt sein. Am Merkmal einer deutlich abgegrenzten Identität fehlt es, wenn lediglich eine Vielzahl von Personen in vergleichbarer Weise von einer Verfolgungshandlung betroffen wird (vgl. BVerwG, B.v. 19.6.2019 – 1 B 30.19 – NVwZ-RR 2019, 1066/1067 Rn. 9 f.).
Es kann dahinstehen, ob bereits Anhaltspunkte für eine staatliche Gruppenverfolgung von Anhängern der G.-Bewegung vorliegen, da jedenfalls die Merkmale, nach denen der türkische Staat Personen der G.-Bewegung zurechnet, nicht hinreichend kongruent sind, um sie als eine durch ein gemeinsames und unverzichtbares Merkmal im Innern geprägte und auch eine nach außen deutlich abgegrenzte Identität innehabende Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 4 AsylG anzusehen.
Die Annahme einer Gruppenverfolgung setzt – wie soeben erläutert – voraus, dass entweder sichere Anhaltspunkte für ein an asylerhebliche Merkmale anknüpfendes staatliches Verfolgungsprogramm oder für eine bestimmte Verfolgungsdichte vorliegen, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt.
Dies ist bei vom türkischen Staat der G.-Bewegung zugerechneten Personen nicht der Fall, wie der Blick auf die unterschiedlichen Anhaltspunkte zeigt, welche der türkische Staat im Einzelfall als Indiz für eine Anhängerschaft ausreichen lässt oder auch nicht:
Die vom islamistischen, seit 1999 im Exil in den USA lebenden Prediger F. G. 1969 gegründete Bewegung war lange Zeit eng mit der AKP verbunden und hat durch ihr Engagement im Bildungsbereich über Jahrzehnte ein islamisches Bildungs-Elitenetzwerk aufgebaut, aus dem die AKP nach der Regierungsübernahme 2002 Personal für die staatlichen Institutionen rekrutierte im Rahmen ihrer Bemühungen, die kemalistischen Eliten zurückzudrängen. Im Dezember 2013 kam es zum politischen Zerwürfnis zwischen der AKP und der G.-Bewegung, als der Bewegung zugerechnete Staatsanwälte und Richter K. gegen die Familie des damaligen Ministerpräsidenten E. sowie Minister seines Kabinetts aufnahmen. Seitdem wirft die Regierung G. und seiner Bewegung vor, die staatlichen Strukturen der Türkei unterwandert zu haben. Seit Ende 2013 hat die Regierung in mehreren Wellen Zehntausende mutmaßlicher Anhänger der G.-Bewegung in diversen staatlichen Institutionen suspendiert, versetzt, entlassen oder angeklagt. Die Regierung hat ferner Journalisten strafrechtlich verfolgt und Medienkonzerne, Banken und auch andere Privatunternehmen durch die Einsetzung von Treuhändern zerschlagen und teils enteignet. Die türkische Regierung hat die G.-Bewegung als terroristische Organisation eingestuft, die sie „FETÖ“ oder auch „FETÖ/PDY“ nennt („F.istische Terrororganisation/ Parallele Staatliche Struktur“; dazu Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 4; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 11 ff.; Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 8 f.).
Es liegen keine Anhaltspunkte vor, dass die G.-Bewegung als sunnitisch-islamische Gruppierung bestimmte Anforderungen an die Volkszugehörigkeit ihrer Anhänger stellte (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 6).
Es liegen auch nach Einschätzung des Auswärtigen Amts deutliche Anhaltspunkte für eine systematische Verfolgung vermeintlicher Anhänger der G.-Bewegung vor, welcher von türkischer Regierungsseite her der Putschversuch im Juli 2016 zur Last gelegt wird (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 9 f. – im Folgenden: Lagebericht). Grundsätzlich wird jede Person, die in irgendeiner Weise Kontakt zur G.-Bewegung hatte, von den türkischen Ermittlungsbehörden überprüft; Strafverfahren werden insbesondere gegen in G.nahen Einrichtungen und Vereinen aktive oder gar in leitender Position tätige Personen sowie Inhaber eines Kontos bei der Bank Asya eingeleitet (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 5). Türkische Behörden und Gerichte können eine Person nicht erst dann als „FETÖ“-Terrorist einordnen, wenn diese Person Mitglied der G.-Bewegung ist oder persönliche Beziehungen zu den Mitgliedern der Bewegung unterhält. Als Indiz für eine Mitgliedschaft in der G.-Bewegung genügen aus Sicht der türkischen Sicherheitsbehörden u.a. schon der Besuch der Person oder eines Kindes an einer der Organisation angeschlossenen Schule, die Einzahlung von Geldern in eine der Organisation angeschlossenen Bank, i.e. Geldanlagen nach dem Aufruf von Fetullah G. ab 25. Dezember 2013 bei der Bank Asya, der Besitz einer 1-US-Dollar-Banknote der F-Serie (als geheimes Erkennungszeichen), die Anstellung an einer mit der G.-Bewegung (ehemals) verbundenen Institution – z.B. einer Universität oder einem Krankenhaus; der Abonnementvertrieb (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 11) und das Abonnieren der (vormaligen) G.-Zeitung „Z.“ oder „Bügün“ oder der Nachrichtenagentur Cihan oder der Besitz von G.s Büchern sowie Kontakte zu der G.-Bewegung zugeordneten Einrichtungen. Nutzer der Smartphone-Anwendung „B.-L.“ stehen ebenfalls in Verdacht und ist mit der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens zu rechnen (Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 13), 23.171 Nutzer seien verhaftet, allerdings auch Hunderte Personen zu Unrecht der Nutzung der mobilen Anwendung beschuldigt und deswegen wieder freigelassen worden (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 9 f.; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 13 ff.).
Daher kann davon ausgegangen werden, dass eine Person, welche der türkische Staat der G.-Bewegung zurechnet, in der Türkei mit systematischen asylerheblichen Verfolgungshandlungen rechnen muss. Ob bereits eine vermutete G.-Anhängerschaft ausreicht, wegen Terrorverdachts inhaftiert zu werden (vgl. VG Aachen, U.v. 5.3.2018 – 6 K 3554/17.A – juris Rn. 36), hängt vom Einzelfall und den plausibel geltend gemachten Ansatzpunkten ab, die aus Sicht des türkischen Staats eine solche Zurechnung tragen würden. G.-Anhänger werden wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt; das Strafmaß für eine Mitgliedschaft in einer bewaffneten Organisation beträgt nach § 314 Abs. 2 tStGB (türkisches Strafgesetzbuch) i.V.m. Art. 5 tStGB (Erhöhung um die Hälfte bei Terrorstraftaten) 7,5- 15 Jahre Freiheitsstrafe, die aber häufig wegen guter Führung nach Art. 62 tStGB auf ein regelmäßig zu erwartendes Strafmaß von 6 Jahren und drei Monaten gemindert wird (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 1d). Zusätzlich können sie noch wegen Terrorfinanzierung, Leitung bestimmter Gruppierungen, als Imame der Armee, Polizei, usw. angeklagt werden. Die Höchststrafe ist lebenslänglich. Mehrere Delikte (z.B. Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Finanzierung, Mord, etc.) können gleichzeitig angeklagt werden, eventuell verhängte Freiheitsstrafen werden zusammengerechnet. Ob eine „Sippenhaft“ gegen Familienangehörige von G.verdächtigen Personen stattfindet, ist nicht sicher: Zwar wird unter Nennung von Quellen aus dem Jahr 2016 behauptet, staatliche Behörden gingen mit Entlassungen oder Verhaftungen gegen Familienangehörige vor, um Druck auf die eigentlich gesuchten Personen auszuüben (SFH, Türkei: Gefährdungsprofile vom 19.5.2017, S. 6). Allerdings sind dem Verwaltungsgericht bislang nur Fälle bekannt geworden, in denen Familienangehörige selbst wegen des Verdachts der G.-Mitgliedschaft z.B. auf Grund ihrer eigenen Lehrtätigkeit in einer G.nahen Einrichtung strafrechtlich belangt wurden (vgl. VG Augsburg, U.v. 12.11.2019 – Au 6 K 17.34204).
Personalausweise und sogar Reisepässe werden G.-Verdächtigen ausgestellt, sofern keine Ausreisesperre gegen sie besteht (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 14; näher zu Ausreisesperren unten). Auch ein Ermittlungsverfahren hindert die Ausstellung eines Personalausweises nicht. Solange nur ein Ermittlungsverfahren offen ist, aber keine Haft vollstreckt wird, ist die Reisefreiheit nicht beschränkt (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 14). Gezielte Annullierungen oder Nichtverlängerungen von türkischen Pässen hingegen scheinen verbreitet gegen G.-Anhänger und auch gegen Familienangehörige stattzufinden.
Insgesamt sollen rund 512.000 Personen wegen Verbindungen zur G.-Bewegung verhaftet und ihre Verbindung untersucht, ca. 31.000 Personen inhaftiert und über 19.000 Personen verurteilt worden sein. Zudem sollen direkt wegen des Putschversuchs 3.838 Personen verurteilt worden sein, 2.327 Personen davon zu lebenslanger Haft und weitere 1.511 Personen zu Freiheitsstrafen von 14 Monaten bis 20 Jahre (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 12).
Laut offiziellen türkischen Angaben seien seit dem gescheiterten Putschversuch über 100 türkische Staatsbürger im Ausland festgenommen und in die Türkei verschleppt worden, so aus As., Ga., Ka., dem Ko., Ma., Mo., My., Pa. und der Uk.(BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 14). Auslieferungen von G.-Anhängern aus Drittstaaten an die Türkei sind aber aus Al. und aus Ka. nicht bekannt (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 14.1.2019 an das BAMF zu Frage 1; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 15.5.2019 an das BAMF zu Frage 2). Ebenso wenig gibt es Hinweise auf eine Verfolgung von G.-Anhängern in Ni. durch den türkischen Staat, auf deren Auslieferung durch Ni. oder auf eine Schließung von seitens der Türkei der G.-Bewegung zugerechneten Schulen dort (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Augsburg vom 19.9.2019, S. 1 f.). Hingegen entließ die aserbaidschanische Regierung auf Bitten der Türkei rund 50 Lehrer und Dozenten als Anhänger F. G.s, schloss einen TV-Sender (ANS) und „säuberte“ die ehemals (bis 2013) der G.-Organisation H. nahestehende Universität Q.. Auch eine Reihe von Personen, die der säkularen politischen Opposition angehören, wurde unter dem Vorwurf des „G.ismus“ verhaftet und teilweise an die Türkei ausgeliefert (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik As. vom 22.2.2019, S. 11).
Daraus ergibt sich derzeit noch kein so konkretes und vom türkischen Staat auch konsequent angewandtes Profil einer Einstufung einer Person als G.-Anhänger und ihrer Zurechnung zur G.-Bewegung, dass dieses den Rückschluss zuließe, dass jede Person, die dieses Profil erfüllt, bereits in das Risiko einer landesweiten Verfolgung geriete. Dies gilt auch für die klägerseitig unter Bezugnahme auf vom Kassationshof oder vom ehemaligen Ministerpräsidenten genannte Kriterien für eine Strafbarkeit von G.-Anhängern, die – abgesehen davon – im Übrigen erst nach Ablauf der mit der Ladung gesetzten Präklusionsfrist vorgetragen wurden.
Es ist vielmehr davon auszugehen, dass eine nicht näher objektivierbare Gewichtung von einzelnen Anhaltspunkten seitens des türkischen Staats vorgenommen wird, ohne dass im Einzelfall von außen immer nachvollziehbar ist, ob und warum eine Person zugerechnet und strafrechtlich verfolgt wird oder nicht. Dies gilt auch für den Kläger.
c) Eine individuelle Verfolgung wegen einer Zurechnung zur G.-Bewegung hat der Kläger nicht beachtlich wahrscheinlich zu befürchten.
Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung wegen einer Zurechnung zur G.-Bewegung liegt hier nicht vor, weil der Kläger zwar einige Kriterien erfüllt, die in der Türkei zu einer Verfolgung führen könnten, jedoch in seinem Fall keine hinreichenden Anhaltspunkte vorliegen, dass sich die abstrakte Gefahr in seiner Person auch hinreichend wahrscheinlich konkretisieren würde. Bei zusammenfassender Würdigung besitzen die für eine Verfolgung sprechenden Umstände hier kein größeres Gewicht gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen:
aa) Soweit der Kläger zu seinem Bildungs- und Berufsweg angibt, seit der Kindheit über Nachhilfeunterricht durch G.-Anhänger zur Bewegung gelangt zu sein, führt dies noch nicht zu einer nach den Kriterien der türkischen Regierung auch hinreichend beachtlichen Verfolgung.
Er hat – soweit ersichtlich – später selbst Studenten beraten und Nachhilfe gegeben sowie sich im Verein K. Y. M. als Mitglied ehrenamtlich und auch mit Bargeldspenden engagiert (vgl. Protokoll vom 14.7.2020 S. 6 f., 8), aber nicht herausgehoben oder in leitender Funktion. Er war Mieter einer Wohnung, die auch als Treffpunkt für Gesprächskreise gedient habe (BAMF-Akte Bl. 84), deren Eigentümer bereits im Jahr 2016 verhaftet, unter Meldeauflagen freigelassen (BAMF-Akte Bl. 84, 85) und nun strafrechtlich verfolgt worden sein soll, während der Kläger damals strafprozessual nicht behelligt wurde. Zudem war der Kläger nur von April bis Juni 2016 in einer Immobilienfirma tätig und ist dort aber noch vor dem Putschversuch entlassen worden (BAMF-Akte Bl. 84 f.; VG-Akte Bl. 112), deren Inhaber damals verhaftet, unter Meldeauflagen freigelassen (BAMF-Akte Bl. 84, 85) und nun strafrechtlich verfolgt worden sein soll, während der Kläger damals ebenfalls strafprozessual nicht behelligt wurde.
Jedoch war der Kläger zu keiner Zeit im türkischen Staatsdienst oder im türkischen Bildungswesen hauptamtlich beschäftigt oder – anders als z.B. seine nach seinen Angaben verurteilte Schwester (vgl. Protokoll vom 14.7.2020 S. 5 f., zuvor BAMF-Akte Bl. 86) – nicht als Lehrkraft an einer der G.-Bewegung nahestehenden Schule oder Universität, sondern selbst noch Student in der Türkei und auch in Deutschland ohne dortigen Studienabschluss.
Allein von seinem Bildungs- und Berufsweg her erfüllt er also keines der typischen Risikokriterien, wie sie die Türkei nach der Auskunftslage auf von ihr zur Verfolgung vorgesehene G.-Anhänger anwendet.
bb) Ebenso wenig unterscheidet sich die sonstige Lebensgestaltung des Klägers von Personen, die zwar G.-Anhänger waren, aber nicht verfolgt werden:
Er war passiver Abonnent oder Besitzer der Zeitschriften Z. und Sizinti (BAMF-Akte Bl. 85), aber kein Abonnentenwerber. Dass er ein Zeitschriftenabonnement („Z.“) nach dem Dezember 2013 fortgesetzt habe, um eine Schließung zu verhindern, sowie gegen die Schließung in … demonstriert habe (VG-Akte Bl. 137), führt zu keiner anderen Betrachtung. Seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung zu Folge habe er am 14. Dezember 2014 in … mit dem Eigentümer der von ihm gemieteten Wohnung und seinem Arbeitgeber zusammen gegen die Verhaftung eines Autors von „Z.“ und eines Produzenten bzw. Geschäftsführers des TV-Senders „Z. Y.“ demonstriert, wo die Polizei Foto- und Videoaufnahmen gemacht habe (vgl. Protokoll vom 14.7.2020 S. 6). Erstens handelt sich um über fünf Jahre zurückliegende Vorgänge, die der Kläger längst hätte geltend machen können. Zweitens stellt dieses Vorbringen sachlich eine erhebliche Steigerung gegenüber dem Vorbringen beim Bundesamt dar, wo er nur das Abonnement erwähnt und die Vollständigkeit seiner Angaben bestätigt hatte (BAMF-Akte Bl. 85, 93), mit der Folge einer Unglaubhaftigkeit dieser Angaben. Da drittens nur sein Vermieter und sein Arbeitgeber, nicht aber der Kläger im Sommer 2016 noch vor dem Putschversuch strafprozessual behelligt und vorübergehend inhaftiert wurden (BAMF-Akte Bl. 84 f.; Protokoll vom 14.7.2020 S. 5), aber der Kläger unbehelligt blieb und auch ohne Probleme die Grenzkontrollen passieren und auf dem Luftweg ausreisen konnte (ebenda Bl. 88), spricht dies auch sachlich nicht für eine vergleichbare Zurechnung des Klägers durch den türkischen Staat zur G.-Bewegung wie möglicherweise für jene anderen Kundgebungsteilnehmer.
Als der Kläger in den Jahren 2014/2015 B.-L. benutzt haben will (vgl. Protokoll vom 14.7.2020 S. 6, zuvor BAMF-Akte Bl. 87), war er nur Benutzer von B.-L. und führt dies allein nicht zu einer beachtlichen Verfolgungsgefahr. Soweit er seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung zu Folge sich für einen in der Hierarchie der G.-Bewegung über ihm stehenden Kollegen eine SIM-Karte auf seinen Namen zu dessen Verwendung habe ausstellen lassen (vgl. Protokoll vom 14.7.2020 S. 6), ist auch dies sachlich eine erhebliche Steigerung gegenüber dem Vorbringen beim Bundesamt, wo er nur die eigene Benutzung erwähnt und die Vollständigkeit seiner Angaben bestätigt hatte (BAMF-Akte Bl. 87, 93), mit der Folge einer Unglaubhaftigkeit auch dieser Angaben.
Im Verein K. Y. M. war der Kläger nach seinen Angaben Mitglied und Unterstützer durch Bargeldzahlungen (vgl. Protokoll vom 14.7.2020 S. 6 f.), aber eben nur einfaches Mitglied ohne besondere oder gar herausgehobene Funktionen.
Dass er in einer Sammelanklage erwähnt sei, die nach Ablauf der mit der Ladung gesetzten Präklusionsfrist ebenfalls erst am 10. Juli 2020 elektronisch und nur auf Türkisch (ohne deutsche Übersetzung wenigstens der klägerseitig in Bezug genommenen Teile) vorgelegt wurde, ist präkludiert und ohne Übersetzung auch der gerichtlichen Würdigung entzogen (§ 184 GVG). Dieses Vorbringen ist erst mit Telefax am 10. Juli 2020 mitgeteilt worden, obwohl die Ladung dem Klägerbevollmächtigten ausweislich des Empfangsbekenntnisses am 8. Mai 2020 zugegangen (VG-Akte Bl. 95) und die gesetzte Wochenfrist demnach am 15. Mai 2020 abgelaufen ist. Es ist daher nach § 87b Abs. 3 VwGO prozessual präkludiert und die Verspätung auch nicht entschuldigt. Zudem sind – ungeachtet etwaiger Geheimhaltung von türkischen Ermittlungsverfahren – auch in e-Devlet nach Angaben des Klägers jedenfalls keine Ermittlungsverfahren erkennbar (vgl. Protokoll vom 14.7.2020 S. 3), was daher auch zu keiner anderen Bewertung führt.
Daher reicht die an sich glaubhafte Verbindung des Klägers in die G.-Bewegung insgesamt nicht zur Annahme eines der typischen Risikokriterien, wie sie die Türkei nach der Auskunftslage auf von ihr zur Verfolgung vorgesehene G.-Anhänger anwendet, aus, um allein deswegen oder in der Gesamtschau eine Verfolgung bei Rückkehr für beachtlich wahrscheinlich einzustufen. Er selbst hat – anders als andere G.-Anhänger in seinem familiären, privaten und beruflichen Umfeld mit jeweils individuell anderer Position – bis zu seiner Ausreise keine konkreten Verfolgungsmaßnahmen erlitten und nach Überzeugung des Einzelrichters auch nicht bei einer Rückkehr zu befürchten.
bb) Dem Kläger droht im Fall einer Rückkehr in die Türkei daher auch nicht beachtlich wahrscheinlich ein Strafverfahren, so dass offenbleiben kann, ob ein solches noch lediglich der jedem Staat grundsätzlich zustehenden Strafverfolgung dienen würde oder bereits der Verfolgung vermeintlicher Regimegegner i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung („FETÖ“).
3. Der Kläger hat aus diesen Gründen auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S. des § 4 Abs. 1 AsylG. Er hat keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihm bei einer Rückkehr in die Türkei ein ernsthafter Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht. Auf die Begründung des angefochtenen Bescheids wird ergänzend verwiesen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
4. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor. Auf den Bescheid des Bundesamts wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
a) Dem Kläger steht kein Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu.
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Dies ist auch der Fall, wenn es dem Betroffenen nicht (mehr) gelingen würde, seine elementaren Bedürfnisse wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – Asylmagazin 2015, 197) und die aus zu erwartenden schwierigen Lebensbedingungen resultierenden Gefährdungen im Einzelfall eine solche Intensität aufweisen, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist. Die Gefahren müssen ein Mindestmaß an Schwere unter Berücksichtigung der Gesamtumstände aufweisen.
Hier liegen diese besonders strengen Voraussetzungen nicht vor:
aa) Der erwachsene, hinreichend gesunde und erwerbsfähige Kläger würde im Fall seiner Abschiebung in die Türkei keiner besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt sein, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass seine elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nicht gesichert wären. Im Gegenteil war er trotz seiner depressiven Erkrankung im November 2017 fähig und willens, eine Erwerbstätigkeit in einem G.-Verein anzunehmen und auch auszuüben, was lediglich an der fehlenden Arbeitserlaubnis scheiterte.
bb) Der Kläger würde im Fall seiner Abschiebung in die Türkei auch nicht wegen seiner Asylantragstellung unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.
Rückkehrerinnen und Rückkehrer werden nach vorliegenden Erkenntnissen keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen. Dem Auswärtigen Amt und türkischen Menschenrechtsorganisationen, zu denen die Deutsche Botschaft engen Kontakt unterhält, ist in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten – dies gilt auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen – gefoltert oder misshandelt worden ist (vgl. Lagebericht ebenda S. 28; a.A. allerdings unter Verweis auf Quellen lediglich zum Risiko von Festnahmen und nicht von Folter VG Freiburg, U.v. 13.6.2018 – A 6 K 4635/17 – juris Rn. 28 ff.). Dem gegenüber wird geltend gemacht, dass der Bundesregierung keine Abschiebungen bzw. Auslieferungen dieses Personenkreises bekannt und daraus auch keine Rückschlüsse auf ihre Gefährdung zu ziehen seien (so AI, Auskunft vom 28.1.2020 an das VG Magdeburg, S. 2 f.).
Aufgrund eines Runderlasses des türkischen Innenministeriums dürfen keine Suchvermerke (insbesondere für Wehrdienstflüchtlinge oder zur Fahndung ausgeschriebene Personen) mehr ins Personenstandsregister eingetragen werden; vorhandene Suchvermerke sollen Angaben türkischer Behörden zufolge im Jahr 2005 gelöscht worden sein (vgl. Lagebericht ebenda S. 28). Allerdings werden Wehrdienstflüchtige aufgrund einer Fahnenflucht gesucht; eine Strafverfolgung erfolgt unabhängig vom politischen, biografischen und ethnischen Hintergrund; die Personendaten von Wehrdienstflüchtigen werden im nationalen Polizeiinformationssystem hinterlegt und sind dort für die Polizeibehörden abrufbar (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.1.2020 an das VG Augsburg zu Frage 3a -e). Das Verteidigungsministerium meldet Wehrdienstflüchtige dem Innenministerium zwecks Festnahme; im Fall der Festnahme wird der Wehrdienstflüchtige in „Obhut“ genommen und innerhalb der Dienstzeiten der nächsten Wehrbehörde überstellt; bei Festnahme außerhalb der Dienstzeit oder an Orten ohne Wehrbehörde werden sie nach Protokollierung des Sachverhalts durch die Sicherheitskräfte (Polizei und Jandarma) sofort freigelassen (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.1.2020 an das VG Augsburg zu Frage 3f).
An Grenzübergängen werden im Rahmen der allgemeinen und erkenntnisbasierten Fahndung der türkischen Polizei mobile Kommunikationsendgeräte (Handy, Tablet, Laptop) von Reisenden ausgelesen, um insbesondere regierungskritische Beiträge / Kommentare auf Facebook, WhatsApp, Instagram etc. festzustellen, die wiederum in Maßnahmen wie z.B. Einreiseverweigerung, Vernehmung, Mitnahme zur Dienststelle, Festnahme, Strafanzeige usw. münden können (vgl. Lagebericht ebenda S. 32).
Zu beruflichen Perspektiven von vermeintlichen G.-Anhängern bei einer Rückkehr in die Türkei liegen keine Erkenntnisse vor (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 20).
Bei dem e-Devlet System (eDevlet Sistemi) handelt es sich um ein staatlich betriebenes Online-Portal, in das staatliche Institutionen mit ihren Datenbanken integriert sind. Türkische Staatsbürger erhalten, nachdem sie sich durch Hinterlegung ihrer persönlichen Daten zur Teilnahme am System angemeldet haben, durch Einloggen mit einem Passwort Zugang zu allen freigegebenen Daten, die die eigene Person betreffen. Mit Hilfe des e-Devlet Systems können türkische Staatsbürger u.a. diverse behördliche Dienstleistungen im Online-Verfahren in Anspruch nehmen, ohne persönlich bei den Behörden vorsprechen zu müssen. Haftbefehle und andere Eintragungen aus dem Justizbereich sind im sog. UYAP-System erfasst. Über einen Link im e-Devlet System kann sich jeder türkische Staatsbürger – nach Hinterlegung seiner persönlichen ID-Daten für die Zugangsberechtigung – auch im UYAP-System anmelden (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 11.10.2018 an das BAMF, S. 1 f.) und dort als Privatnutzer allerdings nur schlagwortartig Übersichten einsehen, via Internet sogar aus dem Ausland (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 13.2.2019 an das BAMF, S. 2).
Für den Zugang zu e-Devlet ist in der Türkei für jeden türkischen Staatsbürger ein Passwort bei der türkischen Post hinterlegt, dass durch Vorlage des Personalausweises erhältlich ist. Im Ausland wird dies von den türkischen Auslandsvertretungen übernommen. Es gibt aber auch verschiedene andere Möglichkeiten, sich zu registrieren, ohne sich an die Post oder die zuständige Auslandsvertretung wenden zu müssen. So kann sich ein Bürger außer mit dem Passwort für e-Devlet auch mit einer Mobil-Signatur, einer e-Signatur, der T.C.-Kimlik-Nummer oder an Hand der Eingangsdaten zum Online-Banking einloggen; auch vom Ausland aus (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 2d).
Das UYAP-System ist eine vom Justizministerium betriebene Online Plattform, zu der jeder türkische Staatsbürger den Zugang beantragen kann. In diesem System kann der Privatnutzer schlagwortartig seine eigene Person betreffende Übersichten aus dem justiziellen Bereich, z.B. Art der (Straf)-Verfahren, Aktenzeichen, Gerichtsbezeichnung, Verhandlungstage einsehen. Zugang zu (Volltext-)Akteninhalten der einzelnen Verfahren wie z.B. Anklageschriften, Urteile u.a., besteht für Privatnutzer nicht (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 27.9.2018 an das BAMF, S. 2 f.). Eingesehen und ausgedruckt werden kann von Privatnutzern lediglich die o. g. Kurzübersicht. Einträge über ihre Mandanten sind für Anwälte, die den Justizbehörden die Bevollmächtigung ihrer Mandatsgeber nachgewiesen haben, auch auf elektronischen Weg zugänglich. Die Justizbehörden erteilen bevollmächtigten Rechtsanwälten den Zugang auf die im UYAP-System erfassten Eintragungen ihrer Mandanten. Bevollmächtigte Rechtsanwälte haben außer auf die oben beschriebenen Kurzübersichten dann auch Zugriff auf Volltexte und können diese herunterladen (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 11.10.2018 an das BAMF, S. 2). Dazu zählen grundsätzlich auch in e-Devlet und UYAP hinterlegte Informationen über Ermittlungsverfahren und Haftbefehle selbst in Verfahren mit Bezug zur G.-Bewegung („FETÖ“); lediglich im Ermittlungsstadium vor der Anklageschrift und für als „geheim“ eingestufte Ermittlungen ist der anwaltliche Anspruch auf Einsicht oder ist ein Herunterladen der Aktenbestandteile nicht oder nur eingeschränkt möglich (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 27.9.2018 an das BAMF, S. 1 f.; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 13.2.2019 an das BAMF, S. 3; auch SFH, Türkei: Zugang zu verfahrensrelevanten Akten vom 1.2.2019, S. 5 f., 7 f.; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 2a). Art und Umfang der Beschränkung der Akteneinsicht variieren von Fall zu Fall (so Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Türkei: Zugang zu verfahrensrelevanten Akten vom 1.2.2019, S. 6 f.). Sind die Ermittlungen abgeschlossen und wird ein Gerichtsverfahren eingeleitet, bestehen solche Einschränkungen in der Regel nicht mehr; im Stadium des Gerichtsverfahrens haben der Angeklagte bzw. sein Bevollmächtigter – seit ca. Oktober 2018 auch online über UYAP – Zugriff auf die zu den Verfahrensakten gehörenden Schriftstücke und Beweismittel (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 13.2.2019 an das BAMF, S. 3). Teilweise abweichend wird berichtet, Akten der Staatsanwaltschaft in abgeschlossenen oder nicht abgeschlossenen Gerichtsverfahren seien seit Frühjahr 2018 nicht mehr über UYAP zugänglich (so SFH, Türkei: Zugang zu verfahrensrelevanten Akten vom 1.2.2019, S. 5); gleichwohl wird in derselben Quelle ausgeführt, dass ein Zugriff über UYAP nach Anklageerhebung üblicherweise und erst recht nach Annahme der Anklage durch das Gericht sowie nach Abschluss des Verfahrens möglich sei (so SFH, Türkei: Zugang zu verfahrensrelevanten Akten vom 1.2.2019, S. 8 f.). Eine Registrierung ist auch vom Ausland aus möglich (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 2a).
In der Türkei finden Einreisekontrollen für alle Personen statt. Bei dieser Personenkontrolle können türkische Staatsangehörige mit einem gültigen türkischen, sie zur Einreise berechtigenden Reisedokument die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 werden alle türkischen Staatsangehörigen auch auf Inlandsflügen einer fahndungsmäßigen Überprüfung unterzogen. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 28 f.). Die Einreisekontrollen wurden bereits im Zuge der Flüchtlingskrise verstärkt, nicht erst seit dem Putschversuch (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 3), nun aber gezielter mit Listen mutmaßlicher G.- oder PKK-Anhänger (Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche an das VG Karlsruhe vom 17.2.2017, S. 2). Ein abgelehnter kurdischer Asylbewerber läuft bei der Rückkehr nicht Gefahr, allein wegen seiner Volkszugehörigkeit verhaftet zu werden; hat er sich in Deutschland für kurdische Rechte oder Organisationen aktiv eingesetzt oder z.B. regelmäßig an pro-kurdischen Demonstrationen teilgenommen, erhöht dies das Risiko (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 3 f., 28 f.; auch SFH ebenda S. 2, 3, 10 f.).
Angesichts der offiziellen Denunziationsaufrufe amtlicher türkischer Stellen auch in Deutschland in Tageszeitungen und DITIB-Moscheen ist aber damit zu rechnen, dass türkische Staatsangehörige in der Türkei und auch in Deutschland ihren Heimatbehörden Personen gemeldet haben, denen sie eine Nähe zur PKK oder zur G.-Bewegung nachsagen (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 25 ff.; AI, Stellungnahme an das VG Karlsruhe vom 9.3.2017, S. 1; AI, Auskunft an das VG Magdeburg vom 1.3.2018, S. 3). Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Wenn festgestellt wird, dass ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person ebenfalls in Polizeigewahrsam genommen (vgl. auch Auswärtiges Amt, Auskunft an das BAMF vom 17.10.2016, S. 2). Im sich anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten, wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert, ein Anwalt in der Regel hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter mit dem Antrag auf Erlass eines Haftbefehls. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn auf Grund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt. Ein Anwalt wird hinzugezogen und eine ärztliche Untersuchung vorgenommen. Der Staatsanwalt überprüft von Amts wegen, ob der Betroffene von den Amnestiebestimmungen der Jahre 1991 oder 2000 profitieren kann oder ob Verjährung eingetreten ist, dann wird der Festgenommene freigelassen (vgl. Lagebericht ebenda S. 29; zur Verjährungsprüfung auch Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach vom 20.5.2016, S. 1 f. zu Aktivist für „ATIF“, „Partizan“ und TKP-ML; Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach vom 4.4.2017, S. 2).
Verurteilungen wegen im Ausland begangener Straftaten ziehen nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amts keine Sanktionen türkischer Behörden nach sich (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach vom 4.4.2017, S. 2), soweit es sich nicht um eine politisch motivierte Straftat handele (vgl. SFH ebenda S. 10).
Für eine im hier maßgeblichen Zeitpunkt erfolgte Einleitung eines Strafverfahrens gegen den Kläger, die eine Ingewahrsamnahme und eine Bestrafung nach sich ziehen könnte, bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte (siehe oben).
b) Ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 ff. AufenthG wegen einer zielstaatsbezogenen erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen, die eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung voraussetzt, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, liegt im Fall des Klägers nicht vor. Depressive Erkrankungen sind wie alle psychischen Erkrankungen in der Türkei behandelbar:
Die medizinische Versorgung durch das staatliche Gesundheitssystem hat sich in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert, vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite vor allem in ländlichen Provinzen bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet. Landesweit gab es im Jahr 2017 1.518 Krankenhäuser mit einer Kapazität von 226.000 Betten, davon ca. 60% in staatlicher Hand. Die Behandlung bleibt für die bei der staatlichen Krankenversicherung Versicherten mit Ausnahme der „Praxisgebühr“ unentgeltlich. Grundsätzlich können sämtliche Erkrankungen in staatlichen Krankenhäusern angemessen behandelt werden, insbesondere auch chronische Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, Aids, Drogenabhängigkeit und psychiatrische Erkrankungen. Wartezeiten in den staatlichen Krankenhäusern liegen bei wichtigen Behandlungen/Operationen in der Regel nicht über 48 Stunden. In vielen staatlichen Krankenhäusern ist es jedoch (nach wie vor) üblich, dass Pflegeleistungen nicht durch Krankenhauspersonal, sondern durch Familienangehörige und Freunde übernommen werden. Durch die zahlreichen Entlassungen nach dem gescheiterten Putschversuch, von denen auch der Gesundheitssektor betroffen ist, kommt es nach Medienberichten gelegentlich zu Verzögerungen bei der Bereitstellung medizinischer Dienstleistungen (vgl. Lagebericht ebenda S. 26). Psychiater praktizieren und elf psychiatrische Fachkliniken mit einer Bettenkapazität von rund 4.000 Plätzen standen im Jahr 2017 zur Verfügung, weitere Betten gibt es in besonderen Fachabteilungen einiger Regionalkrankenhäuser. Auch sind therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige vorhanden (vgl. Lagebericht ebenda S. 26; zur Behandlung psychischer Erkrankungen auch ebenda Anlage I S. 33 f. sowie Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 18.8.2016, Behandlung und Pflege einer schizophrenen Person im Südosten der Türkei, S. 2). Die spezialisierte psychiatrische Fachklinik in El. deckt die Versorgung von Patienten in Südost- und Ostanatolien ab und verfügt über insgesamt 488 Betten, stationäre psychiatrische Versorgung ist auch in den Universitätskliniken in Ga., Di. und S. gewährleistet (SFH ebenda S. 3).
Zum 1. Januar 2012 hat die Türkei eine allgemeine, obligatorische Krankenversicherung eingeführt für alle Personen mit Wohnsitz in der Türkei mit Ausnahmen u.a. für Soldaten/Wehrdienstleistende und Häftlinge. Die obligatorische Krankenversicherung erfasst u. a. Leistungen zur Gesundheitsprävention, stationäre und ambulante Behandlungen und Operationen, Laboruntersuchungen, zahnärztliche Heilbehandlungen sowie Medikamente, Heil- und Hilfsmittel. Unter bestimmten Voraussetzungen sind auch Behandlungen im Ausland möglich. Nicht der Sozialversicherungspflicht unterfallende türkische Staatsbürger mit einem Einkommen von weniger als einem Drittel des Mindestlohns können von der Beitragspflicht befreit werden. Bei einem Einkommen zwischen einem Drittel und dem doppelten Mindestlohn gelten ermäßigte Beitragssätze. Bis Mitte des Jahres 2014 haben sich rund 12 Mio. Türken einer solchen Einkommensüberprüfung unterzogen, für rund 8 Mio. von ihnen hat der Staat die Zahlung der Beiträge übernommen (vgl. Lagebericht, ebenda S. 27). Die für eine gesundheitliche Versorgung mittelloser türkischer Staatsbürger bisher geltenden „Grünen Karten“ (2011: knapp 9 Millionen Inhaber) sind ausgelaufen, ihre Inhaber sollen in die allgemeine Krankenversicherung überwechseln. Für Kinder bis zum Alter von 18 bzw. 25 Jahren, Ehepartner und (Schwieger-)Elternteile ohne eigenes Einkommen besteht die Möglichkeit einer Familienversicherung. Besondere Beitragsregelungen gelten schließlich auch für Bezieher von Alters- und Erwerbsminderungsrenten (vgl. Lagebericht ebenda S. 28).
5. Nachdem sich auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG als rechtmäßig erweist, war das Klageverfahren hinsichtlich des zurückgenommenen Teils nach § 92 VwGO mit der dortigen Kostenfolge einzustellen und die Klage im Übrigen mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben