Verwaltungsrecht

Keine Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus für Asylbewerber

Aktenzeichen  W 2 K 15.30731

Datum:
4.10.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 113699
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 4
AsylG § 3c
AufenthG § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1

 

Leitsatz

1 Schwerwiegende familiäre Konflikte können geeignet sein, einen subsidiären Schutz für Asylbewerber zu begründen, wenn nicht ausreichender staatlicher Schutz gewährleistet wird. Dies erfordert jedoch einen substantiierten und glaubhaften Sachverhaltsvortrag. (redaktioneller Leitsatz)
2 Für einen aus Afghanistan stammenden Asylsuchenden steht in Mazar-e-Sharif die landesinterne Fluchtalternative zu. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage, über die auch in Abwesenheit eines Vertreters der Be-klagten verhandelt und entschieden werden konnte (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist unbegründet.
Dem Kläger stehen die geltend gemachten Ansprüche nicht zu (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) weder einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 AsylG, noch liegen in seiner Person nationalen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vor.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG. Danach ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als solcher gilt die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG). Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG gelten dabei die §§ 3c bis 3e AsylG entsprechend. Damit werden die dortigen Bestimmungen über den Vorverfolgungsmaßstab, Nachfluchtgründe, Verfolgungs- und Schutzakteure und internen Schutz als anwendbar auch für die Zuerkennung subsidiären Schutzes erklärt.
Dem Kläger steht kein subsidiärer Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 1 oder Nr. 3 AsylG zu. Es liegen weder Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger wegen einer Straftat gesucht wird und bei seiner Rückkehr nach Afghanistan die Gefahr einer Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe besteht, noch besteht in Bamyan, der Heimatprovinz des Klägers, eine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes. Bamyan gehört zu den relativ sicheren und wirtschaftlich moderat prosperierenden Provinzen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan/Stand: November 2015).
Auch die Voraussetzung für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG liegen nicht vor. Zwar kann grundsätzlich auch die Bedrohung im Rahmen von familiären Auseinandersetzungen zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S. von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG führen, wenn staatliche Organe oder an die Stelle der Staatsmacht tretende Parteien oder Organisationen erwiesener Maßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten. Jedoch hat der Kläger in der Bundesamtsanhörung lediglich angegeben, sein Onkel, der ihn schon immer sehr schlecht behandelt habe, habe im Streit eine Schaufel gehoben und er habe deswegen Angst bekommen und er sei geflohen. In der mündlichen Verhandlung hat er seinen Vortrag dahingehend ergänzt, dass sein Onkel vorgehabt habe, ihn umzubringen, weil er das ganze Land habe behalten wollen, das seinem Vater gehört habe. Auf konkrete Vorfälle hat er dabei nicht Bezug genommen, sondern lediglich seinen Vortrag aus der Bundesamtsanhörung wiederholt, dass der Onkel ihn schlecht behandelt habe, ihm nicht erlaubt habe zur Schule zu gehen und ihn Sommer wie Winter nach draußen zum Arbeiten geschickt habe. Das Gericht folgt insoweit seinem Vortrag als es davon ausgeht, dass das Verhältnis des Klägers zu seinem Onkel zerrüttet ist und der Onkel nicht mehr gewillt wäre, den Kläger im Fall einer Rückkehr bei sich aufzunehmen.
Selbst wenn man dem Kläger mit seiner weitergehenden Einlassung folgen würde, dass er nicht mehr in sein Heimatdorf zurückkehren könne, weil ihn sein Onkel dort umbringen würde, scheitert die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus jedenfalls daran, dass dem Kläger interne Fluchtalternativen zur Verfügung stehen. Beispielsweise sei hier vor allem Kabul und Mazar-e-Sharif genannt. Denn nach eigenem Vortrag des Klägers lebt der Cousin väterlicherseits, der – zusammen mit seinem Onkel mütterlicherseits – seine Ausreise organisiert habe, in Mazar-e-Sharif, so dass er dort eine Anlaufstelle hat und über das Netzwerk seines Cousins auch entsprechend aufgefangen und dort in die Arbeitswelt integriert werden kann. Bei dem 402.806 Einwohner zählenden Mazar-e-Sharif handelt es sich laut European Asylum Support Office (EASO, Country of Origin Information Report: Afghanistan Security Situation, Januar 2016) um eines der größten Handels- und Finanzzentren Afghanistans – die „inoffizielle Hauptstadt Nordafghanistans“, deren politisches wie wirtschaftliches Gewicht immer größer wird. Mazar-e-Sharif ist eine der sichersten Städte Afghanistans (EASO, a.a.O., S. 145). Zwar haben auch in Mazar-e-Sharif bewaffnete Überfälle zugenommen (EASO, a.a.O., S. 146 mit Bezug auf Edinburgh International, Afghanistan Weekly Security Report, 4. Dezember 2014). Es gab vereinzelte Bombenexplosionen sowie gezielte Attentate (EASO, a.a.O.S. 147). Trotzdem gilt Mazar-e-Sharif als wesentlich sicherer als Kabul (EASO, a.a.O.). Jedenfalls in Bezug auf Mazar-e-Sharif geht deshalb auch die Behauptung des Klägers ins Leere, dass er als Hazara und Schiit von den Taliban verfolgt würde. So gibt es in der mehrheitlich von Tadschiken und Paschtunen bewohnten Provinz Balkh auch eine hazarische Minderheit, in deren Netzwerk sich der Kläger – vermittelt über seinen Cousin – eingliedern und es zur Suche nach Arbeit und Unterkunft nutzen kann, so dass davon auszugehen ist, dass der Kläger selbst ohne abgeschlossene Berufsausbildung sein Existenzminimum dort wird sichern können. Da Mazar-e-Sharif auf der wichtigen Ost-West-Verbindung zwischen Herat sowie Kabul und Kunduz liegt, hat es eine vergleichweise große Präsenz von internationalen Organisationen und Unternehmen. Die in Deutschland vom Kläger erworbenen Fähigkeiten im Rahmen seines derzeitigen Berufsschulbesuches dürften ihm dort auf dem Arbeitsmarkt erhebliche Wettbewerbsvorteile bringen. Nach Vortag des Klägers hält sich auch sein Onkel mütterlicherseits regelmäßig in Mazar-e-Sharif auf. Zwar hat der Kläger erklärt, er kenne den dortigen Aufenthaltszweck seines Onkels nicht. Jedoch geht das Gericht nach allgemeiner Lebenserfahrung davon aus, dass es sich dabei um Geschäftsreisen handelt, so dass der Kläger auch mit dem Onkel mütterlicherseits einen Fürsprecher hat, der ihm mit der Vermittlung von Kontakten bei der Arbeitssuche in Mazar-e-Sharif behilflich sein kann. Zwar dürfte er in Bezug auf Arbeit und Unterkunft auch in Mazar-e-Sharif in Konkurrenz zu dem wachsenden Zustrom von internen Flüchtlingen stehen, jedoch dürfte es aufgrund seiner familiären Kontakte gewährleistet sein, dass er von seinem Cousin und Onkel mütterlicherseits jedenfalls solange mit dem Notwendigsten unterstützt wird, bis er selbst Fuß gefasst hat und sich eine eigene Existenzgrundlage erwirtschaften kann. Aus alledem folgt, dass der Kläger jedenfalls in Mazar-e-Sharif eine interne Fluchtaltnative hat, die der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gem. § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e AslyG entgegensteht. Denn der – jenseits seines Heimatdorfes – jedenfalls unverfolgte Kläger hat dort Schutz vor Verfolgung, kann dorthin sicher und legal reisen und wird dort aufgenommen. Es kann deshalb vernünftigerweise von ihm erwartet werden, dass er sich dort niederlässt.
Aus den allgemeinen humanitären Verhältnissen in Afghanistan folgt keine Gefahr im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG i.V.m. Art. 3 EMRK. Nur in ganz außergewöhnlichen Fällen können schlechte humanitäre Verhältnisse für sich isoliert zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK führen. In Afghanistan ist die Lage für alleinstehende männliche arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige nicht so ernst, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – NVwZ 2013, 1167, BayVGH, U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris; B.v. 30.9.2015 – 13a ZB 15.30063 – juris). Unter Einbeziehung der vorliegenden Erkenntnismittel ist nicht davon auszugehen, dass insoweit eine deutliche Verschlechterung der humanitären Verhältnisse eingetreten ist. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe sieht Rückkehrer beim Wiederaufbau einer Lebensgrundlage in Afghanistan mit gravierenden Schwierigkeiten konfrontiert (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update zur aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan vom 30.9.2016, S. 27). Den Ausführungen ist zu entnehmen, dass sich im Hinblick auf die Rückkehrersituation in den vergangenen Monaten keine erheblichen Veränderungen ergeben haben. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes ist die Grundversorgung für große Teile der Bevölkerung in Afghanistan eine Herausforderung. Die internationale Gemeinschaft unterstütze die afghanische Regierung maßgeblich in ihren Bemühungen, die Lebensbedingungen in Afghanistan zu verbessern. (Auswärtiges Amt, Bericht vom 6.11.2015 über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, S. 23 f.). Laut der Schweizerischen Flüchtlingshilfe verfügten nur etwa 46% der afghanischen Bevölkerung über Zugang zu sauberem Trinkwasser und gar erst 7,5% zu einer adäquaten Abwasserentsorgung (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update zur aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan vom 30.9.2016, S. 20 ff.). Naber berichtet u.a. davon, dass junge zurückkehrende Männer im Durchschnitt ca. neun Monate lang nach einer Arbeit suchen und sich in Kabul vielfach auf eigene Faust durchschlagen, weil sie dort keine Familie haben oder sich nicht in deren Obhut begeben wollen. Außerdem ist vom Tagelöhnerdasein mit temporärer Minimalgrundsicherung und von absoluter Armut die Rede (Naber, Afghanistan: Gründe der Flucht und Sorgen jugendlicher Rückkehrer, Asylmagazin 1-2/2016, S. 4 ff.). Insgesamt lässt sich auch unter Berücksichtigung der Zunahme der Arbeitslosigkeit und der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in Afghanistan aus den vorliegenden Erkenntnismitteln nicht der Schluss ziehen, dass der Kläger aufgrund der Versorgungslage einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. Art. 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ausgesetzt ist. Darüber hinaus ist auch an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass der alleinstehende und gesunde Kläger aufgrund seiner in Deutschland erworbenen Qualifikationen vergleichsweise gute Möglichkeiten hat, eine Arbeit zur Sicherung seines Existenzminimums zu erlangen.
Kann der Schutzsuchende keinen subsidiären Schutz erlangen, sind weiter hilfsweise die nationalen Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 5 AufenthG und des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu prüfen.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. In Konstellationen wie der Vorliegenden, in der gleichzeitig über die Gewährung unionsrechtlichen und nationalen Abschiebungsschutzes zu entscheiden ist, scheidet bei Verneinung der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG regelmäßig aus denselben tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK aus (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris; VG München, U.v. 8.5.2014 – M 15 K 12.30903 – juris Rn. 37). Es bestehen keine Anhaltspunkte für eine hiervon abweichende Fallgestaltung.
Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG besteht ebenfalls nicht. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Allerdings sind nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG derartige Gefahren, denen die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Demnach kann der Schutzsuchende auf der Grundlage von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG lediglich individuelle nur ihm persönlich drohende Gefahren geltend machen (BVerwG, U.v. 29.6.2010 – 10 C 10/09 – NVwZ 2011, 48). Hingegen können allgemeine Gefahren außerhalb bewaffneter Konflikte, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Schutzsuchende angehört, nur bei Anordnungen nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG berücksichtigt werden. Hierzu zählt auch eine unzureichende Versorgungslage in Afghanistan, die insbesondere für Rückkehrer ohne Berufsausbildung und ohne familiäre Unterstützung besteht. Diese Gefahr kann auch dann nicht im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG berücksichtigt werden, wenn sie durch Umstände in der Person oder in den Lebensverhältnissen des Ausländers begründet oder verstärkt wird, aber nur eine typische Auswirkung der allgemeinen Gefahrenlage darstellt (BVerwG, U.v. 8.12.1998 – 9 C 4.98 – BverwGE 108, 77). Dann greift grundsätzlich die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. Eine Abschiebestoppanordnung besteht jedoch für die Personengruppe, der der Kläger angehört, nicht.
Jedoch ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Einzelfall Ausländern, die einer gefährdeten Gruppe i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG angehören, für die kein Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 AufenthG vorliegt, ausnahmsweise Schutz vor der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletzen würde. Dies ist der Fall, wenn der Schutzsuchende gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert werden würde (st. Rspr. des BVerwG, z.B. U.v. 12.7.2001 – 1 C 5/01 – BVerwGE 115,1 m.w.N.).
Die allgemeine Gefahr in Afghanistan hat sich für den Kläger nicht derart zu einer extremen Gefahr verdichtet, dass eine entsprechende Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG geboten ist. Wann allgemeine Gefahren sich zu einer extremen Gefahr verdichten und somit zu einem Abschiebungsverbot von Verfassungs wegen führen, hängt maßgeblich von den Umständen des Einzelfalls ab. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Die Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Zudem müssen sich die Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage auch dann, wenn der Schutzsuchende mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. BVerwG, U.v. 29.6.2010 – 10 C 10.09 – BVerwGE 137, 226).
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bayer. Verwaltungsgerichtshofs (z.B. U.v. 3.2.2011 – 13a B 10.30394 – juris Rn. 31 ff.; U.v. 8.11.2012 – 13a B 11.30391 – juris Rn. 28 ff; U.v. 15.3.2013 – 13a B 12.30292, 13a B 12.30325 – juris Rn. 35 ff.; B.v. 19.12.2014 – 13a ZB 14.30065; B.v. 30.7.2015 – 13a ZB 15.30031 – juris; B.v. 10.8.2015 – 13a ZB 15.30050 – juris; B.v. 30.9.2015 – 13a ZB 15.30063 – juris; s.a. OVG NW, U.v. 3.3.2016 – 13 A 1828/09.A – juris), der sich das Gericht anschließt, ist trotz der schlechten allgemeinen Versorgungs- und Sicherheitslage unter Zugrundelegung sämtlicher Auskünfte und Erkenntnismittel nicht davon auszugehen, dass ein arbeitsfähiger männlicher afghanischer Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Rückkehr in eine derartige extreme Gefahrenlage geraten würde, die eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich als unzumutbar erscheinen ließe. Dies gilt grundsätzlich auch für Rückkehrer, die keine Berufsausbildung haben und über keinen aufnahmefähigen Familienverband verfügen. Den vorliegenden Erkenntnismitteln sind keine Anhaltspunkte dahingehend zu entnehmen, dass diese Einschätzung überholt wäre.
Die Versorgungslage ist, wie zuvor umfassend erläutert, zwar kritisch. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes ist Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt und belegt trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der Regierung und kontinuierlicher Fortschritte im Jahr 2015 weiterhin einen sehr niedrigen Rang im Human Development Index (Auswärtiges Amt, Bericht vom 6.11.2015 über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, S. 24). Wie zuvor erläutert stieg die Arbeitslosenquote im Oktober 2015 auf 40% an. Demgegenüber ringt die afghanische Wirtschaft nach Angaben des Auswärtigen Amtes mit sinkenden internationalen Investitionen und einer stark schrumpfenden Nachfrage. Das Jahr 2015 werde nach Weltbank-Angaben mit einem geringen Wirtschaftswachstum schließen. Die afghanische Regierung erhalte weiterhin erhebliche finanzielle Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft (Auswärtiges Amt, Bericht vom 6.11.2015 über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, S. 24).
Zusammenfassend lassen sich damit auch aus den aktuellsten Erkenntnismitteln keine für die Beurteilung der hier relevanten Gefahrenlage bedeutsamen Änderungen entnehmen. Aufgrund der in den Auskünften geschilderten Rahmenbedingungen sind insbesondere Rückkehrer aus dem Westen in einer vergleichsweise guten Position. Allein schon durch ihre Sprachkenntnisse sind ihre Chancen, einen Arbeitsplatz zu erhalten, gegenüber Flüchtlingen, die in Nachbarländer geflohen sind, wesentlich höher. Hinzu kommt, dass eine extreme Gefahrenlage zwar auch dann besteht, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert würde (vgl. BVerwG, U.v. 29.6.2010 – 10 C 10.09 – BVerwGE 137, 226), jedoch Mangelernährung, unzureichende Wohnverhältnisse und eine schwierige Arbeitssuche nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit „alsbald“ zu einer extremen Gefahr führen. Diese muss zwar, wie oben ausgeführt, nicht sofort, also noch am Tag der Ankunft eintreten. Erforderlich ist allerdings eine hinreichende zeitliche Nähe zwischen Rückkehr und unausweichlichem lebensbedrohenden Zustand. Die Gefahr muss sich alsbald nach der Rückkehr realisieren. Dies ist aus den genannten Erkenntnismitteln nicht ersichtlich. Aus den von der Klägerseite vorgelegten Berichten ergibt sich nichts anderes.
Im Sinne einer Gesamtgefahrenschau ist nicht davon auszugehen, dass dem Kläger bei einer Rückführung nach Afghanistan, sei es nach Kabul, Mazar-e-Sharif oder Bamyan alsbald der sichere Tod drohen oder ernste Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten wären. Der Kläger ist gesund, leistungsfähig und verfügt über Landeskenntnisse. Es ist auch in Anbetracht seines noch vergleichsweise jungen Alters und der Tatsache, dass er sich vor seiner Flucht nicht außerhalb seiner Heimatregion aufgehalten hat, davon auszugehen, dass er befähigt sein wird, sein Existenzminimum zu sichern.
Die vom Bundesamt verfügte Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung sind nicht zu beanstanden. Die betreffende Entscheidung beruht auf § 34 Abs. 1 AsylG, § 59 Abs. 1 bis 3 AufenthG, § 38 Abs. 1 AsylG.
Schließlich sind auch gegen die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots des § 11 Abs. 1 AufenthG auf elf Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6 des Bescheids) keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken vorgetragen worden oder sonst ersichtlich. Insbesondere sind keine Ermessensfehler des Bundesamts bei der Bemessung der Frist nach § 11 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 AufenthG zu erkennen.
Somit konnte die Klage keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei (§ 83b AsylG).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708, 711 ZPO.


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