Verwaltungsrecht

Keine Zulassung der Berufung – Asylverfahren

Aktenzeichen  11 ZB 18.30631

Datum:
9.4.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 6950
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 2
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Dadurch, dass deutsche Gerichte und Behörden nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufgrund ihrer Bindung an Gesetz und Recht verpflichtet sind, die Gewährleistung der Europäischen Menschenrechtskonvention und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung zu berücksichtigen und dessen Entscheidungen damit eine faktische Präzedenzwirkung zukommt, wird weder der Europäische Menschenrechtsgerichtshof zum Divergenzgericht im Sinne von § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG noch dessen gesamte Rechtsprechung ohne konkrete Übernahme im Einzelfall durch das Bundesverfassungsgericht zu einer verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung.  (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 2 K 17.30712 2018-02-06 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Kläger trägen die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg, da ein Zulassungsgrund gemäß § 78 Abs. 3 AsylG nicht hinreichend dargelegt bzw. gegeben ist.
Das erstinstanzliche Urteil weicht – was die Kläger allein geltend machen – nicht von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ab. Dadurch, dass deutsche Gerichte und Behörden nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufgrund ihrer Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) verpflichtet sind, die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung zu berücksichtigen (B.v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04 – BVerfGE 111, 307/323 f. = juris Rn. 46 ff.) und dessen Entscheidungen damit eine faktische Präzedenzwirkung zukommt (BVerfG, B.v. 4.5.2011 – 2 BvR 2333/08 u.a. – BVerfGE 128, 326/368 = juris Rn. 89), wird weder der Europäische Menschenrechtsgerichtshof zum Divergenzgericht im Sinne von § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG (vgl. BayVGH, B.v. 10.1.2018 – 10 ZB 17.30394 – juris Rn. 4; B.v. 30.10.2012 – 9 ZB 12.30407 – juris Rn. 2; OVG NW, B.v. 21.11.2005 – 12 A 848/05 – juris Rn. 10; vgl. auch BVerwG, B.v. 20.7.2016 – 6 B 35/16 – juris Rn. 13 zum EuGH) noch dessen gesamte Rechtsprechung ohne konkrete Übernahme im Einzelfall durch das Bundesverfassungsgericht zu einer verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung.
Im Übrigen haben die Kläger eine Divergenz im Sinne von § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG auch nicht hinreichend dargelegt (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG), da sie keinen inhaltlich bestimmten, das erstinstanzliche Urteil tragenden abstrakten Rechtssatz oder verallgemeinerungsfähigen Tatsachensatz benennen, mit dem das Verwaltungsgericht in Anwendung derselben Rechtsvorschrift von einem in der Rechtsprechung eines Divergenzgerichts aufgestellten ebensolchen entscheidungstragenden Rechts- oder Tatsachensatz oder einer inhaltsgleichen Rechtsvorschrift ausdrücklich oder konkludent abweicht (vgl. stRspr, BVerwG, B.v. 6.3.2018 – 4 BN 13/17 – juris Rn. 37; Rudisile in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Juni 2017, § 124 Rn. 42; Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124a Rn. 73 m.w.N.). Dabei muss zwischen den Gerichten ein prinzipieller Auffassungsunterschied über den Bedeutungsgehalt einer bestimmten Rechtsvorschrift oder eines Rechtsgrundsatzes bestehen (vgl. BVerwG, B.v. 27.10.2014 – 2 B 52/14 – juris Rn. 5). Es genügt nicht, wenn in der angegriffenen Entscheidung ein in der Rechtsprechung der übergeordneten Gerichte aufgestellter Grundsatz lediglich übersehen, übergangen oder in sonstiger Weise nicht richtig angewandt worden ist (stRspr, BVerwG, B.v. 20.7.2016 – 6 B 35/16 –juris Rn. 12 m.w.N.; B.v. 27.10.2014 – 2 B 52/14 – juris Rn. 5; Happ, a.a.O.; Rudisile, a.a.O.).
Insbesondere wird durch den Vortrag, der Europäische Menschenrechtsgerichtshof habe in seiner Entscheidung vom 13. Dezember 2016 (– 41738/10, Paposhvili – NVwZ 2017, 1187) auf seine Entscheidung vom 4. November 2014 (– 29217/12, Tarakhel – NVwZ 2015, 129) Bezug genommen, woraus zu folgern sei, dass die Beklagte die konkreten Bedingungen einer Niederlassung der Kläger in der Russischen Föderation hätte mitteilen und die Möglichkeit hätte ausschließen müssen, dass der Ehemann bzw. Vater der Kläger diese dort aufspüre, dem Darlegungsgebot nicht genügt. Die Bezugnahmen im Urteil vom 13. Dezember 2016 (a.a.O. Rn. 185, 187, 191, 193) erfolgten hinsichtlich des Prüfverfahrens und des Maßstabs bei der Prüfung einer Gefahr im Sinne von Art. 3 EMRK, der Beschaffung einer Zusicherung des Aufnahmestaats bei Fortbestehen ernsthafter Zweifel an der konkreten Verfügbarkeit einer medizinischen Behandlung sowie der Frage, ob der Aufnahmestaat Konventionsstaat sein müsse. Hiermit setzt sich der Zulassungsantrag jedoch nicht ansatzweise auseinander. Mit ihrer Kritik an der Annahme einer innerstaatlichen Flucht-alternative in Landesteilen außerhalb Tschetscheniens machen die Kläger vielmehr in Wahrheit ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung geltend, was nach der abschließenden Sonderregelung des § 78 Abs. 3 AsylG jedoch kein Grund für die Zulassung der Berufung ist.
Auch trifft es nicht zu, dass das Verwaltungsgericht von den allgemeinen Grundsätzen des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs zur Darlegungslast und Würdigung des Sachvortrags im Asylverfahren (EGMR, U.v. 14.1.2014 – 58802/12 – NLMR 2014, 13 = juris Rn. 59 m.w.N.) abgewichen ist. Denn es hatte keine Zweifel am Sachvortrag der Klägerin zu 1., wonach sie nicht selbst politisch verfolgt worden ist und ihr bei einer Rückkehr in ihr Heimatland auch keine politische Verfolgung droht. Vielmehr befürchtet sie, dass die Familie des Vaters ihre minderjährigen Kinder, darunter die Kläger zu 2. bis 4., wegen der Trennung vom Ehemann nach traditionellem Recht zu sich nehmen wird. Die Einschätzung der Risiken bei einer Rückkehr in das Heimatland ist als tatsächliche und rechtliche Würdigung des Sachverhalts jedoch keine Frage der Glaubhaftigkeit des Sachvortrags, sondern Aufgabe des Gerichts, welches die Kläger hier unter ausführlicher Darstellung der Versorgungslage für alleinstehende Frauen mit Kindern auf eine Niederlassung in außerhalb Tschetscheniens gelegenen Landesteilen der Russischen Föderation und ggf. die Inanspruchnahme staatlicher Hilfe verwiesen hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.
Mit dieser gemäß § 80 AsylG unanfechtbaren Entscheidung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).


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