Verwaltungsrecht

Keine Zuweisung in eine Gemeinschaftsunterkunft für Erwachsene wegen Zweifeln über die Volljährigkeit

Aktenzeichen  Au 6 S 17.1805

Datum:
4.1.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 135
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 50 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 S. 5, Abs. 6
AufnG Art. 5 Abs. 2 S. 1, 2, Abs. 3
DVAsyl § 7 Abs. 3
SGB VIII § 42a Abs. 1 S. 1, Abs. 5 S. 2, Abs. 6, § 42f Abs. 2 S. 1
RL 2013/32/EU Art. 2 lit. e, Art. 25 Abs. 5 S. 1, 2

 

Leitsatz

1. Das Zuweisungsverfahren nach § 50 AsylG ist aus Gründen des Kindeswohls nicht anwendbar, wenn ein unbegleiteter Ausländer minderjährig ist. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei Zweifeln in Bezug auf die Volljährigkeit eines Asylbewerbers sind die zuständigen Behörden verpflichtet, hinreichende Ermittlungen anzustellen, dabei alle Erkenntnismöglichkeiten auszuschöpfen und bei nicht ausräumbaren Zweifeln von einer Zuweisung in eine Gemeinschaftsunterkunft für Erwachsene abzusehen. Dabei besteht keine Bindung der Zuweisungsbehörde an eine Entscheidung des Jugendamts zur Volljährigkeit. (Rn. 27 – 29) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der am 30. November 2017 erhobenen Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 20. November 2017 wird angeordnet.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Der Kläger und Antragsteller (im Folgenden: Antragsteller) wendet sich gegen einen Zuweisungsbescheid des Beklagten, nach dem er seinen Wohnsitz in einer Gemeinschaftsunterkunft im Landkreis … zu nehmen hat.
Der Antragsteller ist nach eigenen Angaben nigerianischer Staatsangehöriger und reiste 2017 alleine in die Bundesrepublik Deutschland ein. Seine Mutter lebt in einer Privatwohnung in …
Am 6. August 2017 beantragte der Antragsteller seine vorläufige Inobhutnahme. Im Rahmen eines Erstgesprächs mit dem Stadtjugendamt der Stadt … am 10. August 2017 gab er Antragsteller an, am … 2002 in … (Nigeria) geboren zu sein. Drei Mitarbeiter des Stadtjugendamts stellten jedoch die Volljährigkeit des Antragstellers durch Inaugenscheinnahme fest (Bl. 39 der Behördenakte). Am selben Tag lehnte das Stadtjugendamt eine vorläufige Inobhutnahme ab (Bl. 46 der Behördenakte). Die Minderjährigkeit des Antragstellers habe zweifelsfrei ausgeschlossen werden können. Handschriftlich heißt es zu den Gründen: „Inhalt: sehr widersprüchliche, sich um Jahre verändernde Angaben, rechnet immer lange nach → nicht nachvollziehbar. Verhalten: nicht authentisch, ruhig, keine jugendlichen Verhaltensweisen. Äußeres Erscheinungsbild: markante Gesichtszüge, ausgewachsener Körperbau.“ Der Antragsteller wurde daraufhin am 14. August 2017 in einer Aufnahmeeinrichtung (für Erwachsene) in … unterbracht.
Mit Antrag vom 17. August 2017 erhob er einen Eilantrag vor dem Bayerischen Verwaltungsgericht … (Az.: …) auf einstweilige Inobhutnahme, über den soweit ersichtlich bisher nicht entschieden wurde. Im Rahmen des Eilrechtsschutzverfahrens zur vorläufigen Inobhutnahme gab die Mutter des Antragstellers eine eidesstattliche Versicherung zu dessen Minderjährigkeit ab und erklärte sich bereit, ihren Sohn in ihrer Wohnung aufzunehmen. Zudem legte der Antragsteller die Kopie einer am 18. Oktober 2017 ausgestellten nigerianischen Geburtsurkunde vor, nach der der Antragsteller am … 2002 in … (Nigeria) geboren sei.
Am 9. November 2017 stellte er einen Asylantrag, über den soweit ersichtlich noch nicht entschieden wurde. Im Rahmen des Asylverfahrens wird der … 1996 als Geburtsdatum des Antragstellers geführt. Am 13. November 2017 beantragte er die private Wohnsitznahme bei seiner Mutter in …
Mit Bescheid vom 20. November 2017 wies die Regierung von … den Kläger einer Gemeinschaftsunterkunft im Landkreis … zu.
Am 30. November 2017 ließ der Antragsteller gegen den Bescheid Klage erheben und beantragen, den Bescheid der Regierung von … vom 20. November 2017 aufzuheben. Gleichzeitig beantragte er:
Die aufschiebende Wirkung der Klage wird angeordnet.
Zur Begründung trägt der Antragsteller vor, er sei minderjährig. Dies ergebe sich aus § 42f SGB VIII. Das Jugendamt habe zu Unrecht die Geburtsurkunde als Ausweispapier nicht berücksichtigt. Auch die qualifizierte Inaugenscheinnahme sei fehlerhaft durchgeführt worden. Eine ärztliche Untersuchung sei trotz Antrags des Antragstellers und Vorliegens eines Zweifelsfalls unterblieben. Jedenfalls solange ihm eine Wohnsitznahme bei seiner Mutter nicht erlaubt sei, gelte er daher im Zweifel als unbegleiteter Minderjähriger. Daher unterliege er den Regelungen des SGB VIII und nicht denen des AsylG. Selbst wenn der Antragsteller ein begleiteter Minderjähriger sei, verstoße die Entscheidung, ihn getrennt von seiner Mutter in eine Gemeinschaftsunterkunft für Erwachsene zu verlegen, gegen den Schutz der Familie gemäß Art. 6 GG.
Der Antragsgegner beantragt Klageabweisung sowie
den Antrag abzulehnen.
Der Antragsteller halte sich noch im Regierungsbezirk … auf. Grundsätzlich entfalteten Klagen gegen eine Unterbringung nach Art. 4 Abs. 1, Art. 10 Abs. 1 AufnG keine aufschiebende Wirkung. Eine Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren sei damit obsolet. Zum Zeitpunkt der Zuweisungsentscheidung sei zudem weder der Landesbeauftragten noch der Regierung von … [„der Antragsgegnerin“] bekannt gewesen, dass der Antragsteller evtl. minderjährig sei. Eine Zuweisung des Antragstellers in einen anderen Regierungsbezirk sei für die Regierung von … [„Antragsgegnerin“] zudem nicht möglich. Eine Umverteilung in den Regierungsbezirk … sei auch nicht geplant, da zum Zeitpunkt der Entscheidung dort ebenfalls von einer eventuellen Minderjährigkeit nichts bekannt gewesen sei. Die Altersfestsetzung durch die Landeshauptstadt … könne von der Regierung von … nicht angezweifelt werden. Die Ausländerbehörde forciere keine Änderung des Geburtsdatums. Eine Prüfung der vorgelegten Dokumente und eine Änderung des Geburtsdatums seien durch die Regierung von … nicht möglich. Bis zur endgültigen Klärung im gerichtlichen Verfahren gelte der Antragsteller daher als volljährig und müsse einer Unterkunft zugewiesen werden.
II.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage, über den die gesetzliche Einzelrichterin nach § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG entscheidet, ist zulässig und begründet.
1. Gegenstand des Antrags- und Klageverfahrens ist nach § 88 VwGO i.V.m. § 122 Abs. 1 VwGO der Zuweisungsbescheid des Antragsgegners vom 20. November 2017. Ob der Antragsteller einen Anspruch auf vorläufige Inobhutnahme, auf private Wohnsitznahme bei seiner Mutter oder auf Umverteilung in einen anderen Landkreis bzw. Regierungsbezirk hat, ist ausweislich der eindeutigen Antragsformulierung des Verfahrensbevollmächtigten und in Hinblick auf die Klagen und Anträge vor dem Bayerischen Verwaltungsgericht … nicht Gegenstand des hiesigen Verfahrens. Auf die Frage, ob die Regierung von … den Antragsteller auch in einen anderen Regierungsbezirk umverteilen kann, kommt es daher nicht an.
2. Der Antrag ist zulässig.
1. Ein Rechtsschutzinteresse für den Antrag besteht.
Der Antragsgegner stützt seine Zuweisungsentscheidung maßgeblich auf § 50 AslyG und damit auf eine Norm des Asylgesetzes. Klagen gegen Entscheidungen nach dem AsylG haben jedoch grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung (§ 75 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO). Der Antragsteller ist damit nach § 50 Abs. 6 AsylG trotz Klageerhebung verpflichtet, sich unverzüglich zum Zuweisungsort zu begeben. Kommt er dieser Verpflichtung nicht nach, droht ihm die Vollstreckung durch unmittelbaren Zwang (vgl. Ziffer 4 des streitgegenständlichen Bescheids). Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage und damit den vorübergehenden Entfall der Verpflichtung, sich zum Zuweisungsort zu begeben, kann der Antragsteller nur durch die Durchführung eines Eilverfahrens erreichen. Aus diesem Grunde besteht in derartigen Fällen regelmäßig ein Rechtsschutzinteresse zur Durchführung eines Eilverfahrens. Dieses ist nicht – wie der Antragsgegner vorträgt – wegen des Entfalls der aufschiebenden Wirkung der Klage obsolet, sondern vielmehr gerade deswegen notwendig. Ein Rechtschutzinteresse besteht insbesondere auch deswegen, weil der Antragsteller derzeit ein gerichtliches Verfahren für seine vorläufige Inobhutnahme betreibt bzw. seine private Wohnsitznahme in der Landeshauptstadt … beantragt hat. Eine bestandskräftige Zuweisung im Regierungsbezirk … läuft diesen Interessen entgegen.
2. Das Bayerische Verwaltungsgericht Augsburg ist nach § 52 Nr. 2 Satz 3 VwGO i.V.m. Art. 1 Abs. 2 Nr. 6 AGVwGO örtlich zuständig, da der Antragsteller mangels aufschiebender Wirkung der Klage (s.o.) derzeit zur Wohnsitznahme im Landkreis … verpflichtet ist (vgl. VG Würzburg, B.v. 19.2.2016 – W 6 K 16.30046 – juris Rn. 3). Darauf, dass sich der Antragsteller tatsächlich und zuweisungswidrig im Regierungsbezirk … aufhält, kommt es nicht an.
3. Der Antrag ist auch begründet.
Das Gericht trifft im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO eine eigene, originäre Entscheidung über die Aussetzung bzw. die Aufhebung der Vollziehung auf Grund der sich ihm im Zeitpunkt seiner Entscheidung darbietenden Sach- und Rechtslage. Dabei hat das Gericht die widerstreitenden öffentlichen und privaten Vollzugsinteressen der Beteiligten gegeneinander abzuwägen und die Erfolgsaussichten der Klage mit zu berücksichtigen, soweit sich diese bereits übersehen lassen. Lässt sich bei der im gerichtlichen Eilverfahren gebotenen summarischen Überprüfung die Rechtswidrigkeit der angefochtenen Verfügung ohne Weiteres feststellen, ist sie also offensichtlich rechtswidrig, so ist die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs anzuordnen bzw. wiederherzustellen, weil aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG an der sofortigen Vollziehung eines offensichtlich rechtswidrigen Bescheides kein öffentliches Interesse bestehen kann. Erweist sich dagegen die angefochtene Verfügung als offensichtlich rechtmäßig, so kann in der Regel davon ausgegangen werden, dass das öffentliche Interesse an der Vollziehung das private Aufschubinteresse überwiegt. Lässt sich die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der Verfügung bei der im gerichtlichen Eilverfahren gebotenen summarischen Überprüfung nicht feststellen, nimmt das Verwaltungsgericht eine Folgenabwägung vor unter Berücksichtigung der Folgen, die einträten, würde die Verfügung sofort vollzogen, aber im Nachhinein im Klageverfahren aufgehoben, gegenüber den Folgen, bliebe die Verfügung zunächst außer Vollzug, würde aber später im Klageverfahren bestätigt.
Im vorliegenden Fall erweist sich der streitgegenständliche Bescheid vom 20. November 2017 nach einer summarischen Prüfung als voraussichtlich rechtswidrig, weshalb das private Aufschubinteresse das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegt.
1. Als Rechtsgrundlage für die Zuweisungsentscheidung in eine Gemeinschaftsunterkunft für Erwachsene kommen vorliegend nur § 50 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Satz 5 AsylG i.V.m. Art. 5 Abs. 2 Satz 1 und 2, Abs. 3 Gesetz über die Aufnahme und Unterbringung der Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (Aufnahmegesetz – AufnG) vom 24. Mai 2002 (GVBl. S. 192; BayRS 26-5-A) i.V.m. § 7 Abs. 3 der Verordnung zur Durchführung des Asylgesetzes, des Asylbewerberleistungsgesetzes, des Aufnahmegesetzes und des § 12a des Aufenthaltsgesetzes (Asyldurchführungsverordnung – DVAsyl) vom 16. August 2016 (GVBl. S. 258; BayRS 26-5-1-A/I) in Betracht.
2. Entscheidungserheblicher Zeitpunkt ist dabei, da sich der Antragsgegner auf § 50 AsylG als Rechtsgrundlage beruft, nach § 77 AsylG der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. im Eilverfahren der Zeitpunkt, in dem die Entscheidung gefällt wird. Daher kommt es entgegen den Ausführungen des Antragsgegners für die Fragen, ob der Antragsteller minderjährig und unbegleitet ist, nicht auf den Zeitpunkt der Zuweisungsentscheidung an.
3. Ebenso wenig ist es für die Frage, ob der Antragsteller minderjährig ist, entscheidungserheblich, ob und wann der Antragsgegner hiervon Kenntnis erlangt hat. Die Tatsache der Minderjährigkeit ist ein objektives Merkmal, das nicht von der subjektive Kenntnis des Antragsgegners abhängt.
4. Die Rechtsgrundlage der Zuweisungsentscheidung (§ 50 AsylG) ist derzeit durch die vorrangigen gesetzlichen Verfahrensregelungen gem. §§ 42 ff. SGB VIII gesperrt, da der Antragsteller derzeit wegen Vorliegens eines Zweifelsfalls als ein unbegleiteter Minderjähriger anzusehen ist.
a) Nach § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, einen ausländischen Jugendlichen vorläufig in Obhut zu nehmen, sobald dessen unbegleitete Einreise nach Deutschland festgestellt wird. Hält sich eine mit dem Jugendlichen verwandte Person im Inland auf, hat das Jugendamt auf die Zusammenführung mit dieser Person hinzuwirken, § 42a Abs. 5 Satz 2 SGB VIII. Mit der Übergabe des Minderjährigen an den Personensorge- oder Erziehungsberechtigten endet die vorläufige Inobhutnahme, § 42a Abs. 6 SGB VIII. Die Verpflichtung, unbegleitete Minderjährige in Obhut zu nehmen, gilt ausnahmslos, weswegen in derartigen Fällen die Bestimmungen zur Wohnpflicht nach dem Asylgesetz zurücktreten (vgl. BayVGH, B.v. 23.9.2014 – 12 CE 14.1833, 12 C 14.1865 – juris Rn. 16). Eine Kollision zwischen dem Asylgesetz und dem Achten Buch des Sozialgesetzbuchs ist insofern nicht möglich (BayVGH, a.a.O.). Das Zuweisungsverfahren nach § 50 AsylG ist daher aus Gründen des Kindeswohls nicht anwendbar, wenn ein unbegleiteter Ausländer minderjährig ist.
b) Im vorliegenden Fall bestehen Zweifel daran, ob der Antragsteller minderjährig ist. Dabei kann offen bleiben, ob auch im Rahmen einer auf § 50 AsylG beruhenden Zuweisungsentscheidung einer Bezirksregierung der Rechtsgedanke des § 42f SGB VIII, der unmittelbar nur das Verfahren der Jugendämter regelt, entsprechend Anwendung findet. Jedenfalls aus der Gesamtschau der nationalen, unionsrechtlichen und völkerrechtlichen Vorschriften des Asylrechts ergibt sich, dass die zuständigen Behörden bei Zweifeln in Bezug auf die Volljährigkeit des Asylbewerbers verpflichtet sind, hinreichende Ermittlungen zur Feststellung der Volljährigkeit anzustellen, dabei alle Erkenntnismöglichkeiten auszuschöpfen und bei nicht ausräumbaren Zweifeln wegen des Kindeswohls von einer Zuweisung in eine Gemeinschaftsunterkunft für Erwachsene abzusehen.
c) Nach Art. 25 Abs. 5 Satz 1 Richtlinie 2013/32/EU vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Neufassung) können die Mitgliedstaaten ärztliche Untersuchungen durchführen, wenn aufgrund allgemeiner Aussagen oder anderer einschlägiger Hinweise Zweifel bezüglich des Alters eines Asylbewerbers bestehen. Bei verbleibenden Zweifeln ist von der Minderjährigkeit auszugehen, Art. 25 Abs. 5 Satz 2 Richtlinie 2013/32/EU. Nach Art. 22 Abs. 2 des UN-Übereinkommens über die Rechte des Kindes sind minderjährige, unbegleitete Asylbewerber wie inländische Kinder zu behandeln. Auch nach Art. 1 und 2 des Haager Übereinkommens über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen vom 5. Oktober 1961 (Minderjährigenschutzabkommen – MSA) ist der Staat zum Schutz Minderjähriger nach ihrem innerstaatlichen Recht verpflichtet. § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB wiederum verpflichtet die Jugendämter, in Zweifelsfällen ärztliche Untersuchungen durchzuführen, anstatt allein aufgrund einer qualifizierten Inaugenscheinnahme von der Volljährigkeit eines unbegleiteten Ausländers auszugehen. Die Wertung dieser Normen ist auch bei der Auslegung des § 50 AsylG zu beachten. Im Zweifel hat auch die Zuweisungsbehörde von der Minderjährigkeit des Asylbewerbers auszugehen und deshalb eine Zuweisung in eine Gemeinschaftsunterkunft für Erwachsene zu unterlassen.
d) Insbesondere ist die Regierung als zuständige Zuweisungsbehörde nicht an eine anderweitige Entscheidung des Jugendamtes gebunden. Zum einen enthält § 42f SGB VIII trotz Anregung des Bundesrats im Gesetzgebungsverfahren keine Anordnung der Bindungswirkung für andere Behörden (OVG Bremen, U.v. 2.3.2017- 1 B 331/16 – juris Rn. 11; Kirchhoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 1. Aufl. 2014, Stand 20.11.2017, § 42f Rn. 4.1 ff.). Zum anderen ist die Entscheidung des Jugendamts nicht bestandskräftig. Im Übrigen ist der Antragsgegner nicht die Regierung von, sondern der, der wiederum die Fach- und Rechtsaufsicht über das im übertragenen Wirkungskreis handelnde Jugendamt der Landeshauptstadt … ausübt. Widersprechende Entscheidungen der Ausländerbehörde, der Regierungen und des Jugendamtes können daher verwaltungsorganisatorisch, verwaltungsintern oder auch im konkreten Fall durch ein Abwarten des Ergebnisses des gerichtlichen Verfahrens zur vorläufigen Inobhutnahme vermieden werden.
e) Zweifel an der Volljährigkeit des Antragstellers bestehen im vorliegenden Fall schon deshalb, weil der Antragsteller in Kopie eine nigerianische Geburtsurkunde abgegeben hat, die ihn als Minderjährigen ausweist. Dass die Geburtsurkunde erst im Oktober 2017 ausgestellt wurde und als Geburtstermin der … 2002 anstatt wie beim Jugendamt vermerkt der … 2002 angegeben ist, mindert den Beweiswert noch nicht derart, dass die Kopie der Geburtsurkunde gänzlich unbeachtlich wäre und keine Zweifel an der Volljährigkeit des Antragstellers mehr bestünden. Hinzu kommt, dass auch die Mutter des Antragstellers eine dementsprechende eidesstattliche Versicherung abgegeben hat. In einem derartigen Fall sind die zuständigen Behörden verpflichtet, die Vorlage der Geburtsurkunde im Original zu verlangen, diese ggf. auf ihre Echtheit hin zu überprüfen und die Geburtsurkunde bei der Prüfung der Volljährigkeit als wesentlicher Anhaltspunkt zu berücksichtigen. Dass die Regierung von … Urkunden nicht auf ihre Echtheit hin überprüfen kann, ist hierbei nicht entscheidungserheblich. Der Antragsgegner – der … – muss verwaltungsintern regeln, welche Behörde Urkunden auf ihre Echtheit überprüft und wie die Ergebnisse der zuständigen Behörde übermittelt werden. Auch die qualifizierte Inaugenscheinnahme durch das Jugendamt ist – unabhängig von der fehlenden Bindungswirkung der Entscheidung des Jugendamtes – nicht geeignet, Zweifel an der Volljährigkeit zu beseitigen. Eine qualifizierte Inaugenscheinnahme durch das Jugendamt ist nur dann als geeignet anzusehen, wenn es darum geht, für jedermann ohne Weiteres erkennbare (offensichtliche), gleichsam auf der Hand liegende, über jeden vernünftigen Zweifel erhabene Fälle eindeutiger Volljährigkeit auszuscheiden oder evidenter Minderjährigkeit festzustellen. In allen anderen Fällen – namentlich im Grenzbereich zwischen Volljährigkeit und Minderjährigkeit – ist hingegen regelmäßig vom Vorliegen eines Zweifelsfalls auszugehen, der zur Veranlassung einer ärztlichen Untersuchung gemäß § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII durch das Jugendamt zwingt (BayVGH, B.v. 5.4.2017 – 12 BV 17.185 – juris Rn. 39). Eine evidente Minderjährigkeit oder Volljährigkeit ist vorliegend nicht ersichtlich, vielmehr ist der Antragsteller nach eigenen Angaben 16 Jahre alt und liegt damit in einem Grenzbereich zur Volljährigkeit. Zudem ist die Inaugenscheinnahme durch das zuständige Jugendamt nur äußerst knapp und wenig konkret dokumentiert, was den Beweiswert weiter mindert. Insbesondere eine ärztliche Untersuchung, die möglicherweise Zweifel an der Minderjährigkeit auszuschließen imstande wäre, ist bisher durch die zuständigen Behörden nicht erfolgt.
Im Ergebnis ist vorläufig aufgrund der Zweifel und des Unterbleibens einer ärztlichen Untersuchung von der Minderjährigkeit des Antragstellers auszugehen.
f) Der Antragsteller ist derzeit auch unbegleitet. Nach Art. 2 Buchstabe e) der Richtlinie 2013/33/EU vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Neufassung) ist ein unter 18-Jähriger unbegleitet, wenn er ohne Begleitung eines für ihn nach dem einzelstaatlichen Recht oder den Gepflogenheiten des betreffenden Mitgliedstaats verantwortlichen Erwachsenen in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreist, solange er sich nicht tatsächlich in der Obhut eines solchen Erwachsenen befindet. Da die zuständigen Behörden derzeit eine Wohnsitznahme bei der Mutter des Antragstellers durch die Zuweisung in einen anderen Regierungsbezirk verhindern und der Antragsteller auch derzeit unter einer anderen Adresse als seine Mutter in … wohnt, befindet er sich nicht tatsächlich in deren Obhut und ist daher unbegleitet. Damit ist das Verfahren nach § 42a SGB VIII vorrangig.
5. Selbst wenn – wie nicht – der Antragsteller wegen des tatsächlichen Aufenthalts der Mutter in derselben Stadt wie der Antragsteller derzeit als begleiteter Minderjähriger anzusehen wäre, so wäre die Zuweisung nach § 50 Abs. 4 Satz 5 AsylG gleichwohl rechtswidrig, weil sie in diesem Fall die Haushaltsgemeinschaft von Familienangehörigen nicht berücksichtigt.
6. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei, § 83b AsylG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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