Verwaltungsrecht

Kostenheranziehung zur Heimunterbringung Jugendlicher

Aktenzeichen  Au 3 K 17.855

Datum:
20.12.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 37296
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VIII § 36 Abs. 2, § 65 Abs. 1 S. 1, § 72 Abs. 1, § 89f Abs. 1, §§ 91 f.
SGB X § 24, § 42
VwGO § 44a, § 113 Abs. 1 S. 1, § 154, § 161 Abs. 2, § 167, § 188

 

Leitsatz

Die Heranziehung zu Kostenbeiträgen für Jugendhilfemaßnahmen (hier: Heimunterbringung) setzt die Rechtmäßigkeit der Hilfegewährung voraus. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Soweit die Klage auf Einsicht in die Jugendhilfeakten betreffend … gerichtet war, wird das Verfahren eingestellt.
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
IV. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Das Verfahren ist analog § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen, soweit der Kläger und die Beklagte den Rechtsstreit im Hinblick auf die Einsicht in die Verfahrensakten betreffend die Hilfe für … übereinstimmend für erledigt erklärt haben. Im Übrigen bleibt die Klage erfolglos, weil der Kostenbeitragsbescheid vom 4. Mai 2017 rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Rechtsgrundlage für die Erhebung zu einem Kostenbeitrag für die stationäre Unterbringung des Hilfeempfängers sind §§ 91 Abs. 1 Nr. 5 Buchst. b, 92 Abs. 1 Nr. 5 SGB VIII.
2. Formelle Fehler sind nicht ersichtlich. Insbesondere wurde der Kläger gemäß § 24 SGB X vor Erlass des Kostenbeitragsbescheids ordnungsgemäß angehört. Ein formeller Fehler im Hinblick auf die nicht gewährte Akteneinsicht wäre jedenfalls wegen der Gebundenheit der Entscheidung gemäß § 42 SGB X unbeachtlich. Insbesondere ist der Ausnahmetatbestand des § 42 Satz 2 SGB X einer ausdehnenden Auslegung auch auf die Verweigerung der Akteneinsicht nicht zugänglich (vgl. LSG NRW, U.v. 30.11.2005 – L 10 KA 29/05 – juris Rn. 48).
3. Der Kostenbeitragsbescheid ist materiell rechtmäßig. Zwar ist grundsätzlich auch die Rechtmäßigkeit der Hilfegewährung Voraussetzung der Kostenbeitragserhebung. Der Kläger kann vorliegend jedoch insoweit keine Rechtsverletzung geltend machen.
a) aa) Die Rechtmäßigkeit der Hilfemaßname ist ungeschriebene Voraussetzung für den Anspruch des Jugendhilfeträgers auf Kostenbeiträge. Dies ergibt sich aus dem rechtsstaatlichen Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung sowie dem in § 89f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII für Fälle der Kostenerstattung festgeschriebenen Grundsatz, dass eine Erstattung die Rechtmäßigkeit der Hilfegewährung voraussetzt. Eine Heranziehung z.B. von Elternteilen zu Kostenbeiträgen kann daher grundsätzlich nur dann erfolgen, wenn die Hilfegewährung rechtmäßig war (vgl. zum Ganzen: OVG NW, B.v. 28.8.2014 – 12 A 1034/14 – juris Rn. 8; NdsOVG, B.v. 17.9.2013 – 4 LA 50/12 – juris Rn. 5; VG Augsburg, U.v. 4.10.2011 – Au 3 K 10.347 – juris Rn. 28; offengelassen in: BayVGH, B.v. 25.10.2012 – 12 ZB 11.501 – juris Rn. 6; U.v. 24.6.2010 – 12 BV 09.2527 – juris Rn. 27; VGH BW, U.v. 17.3.2011 – 12 S 2823/08 – juris Rn. 36).
Eine inzidente Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Jugendhilfemaßnahme ist daher im Rahmen von Streitigkeiten über eine Kostenbeitragspflicht jedenfalls dann angezeigt, wenn der zu einem Kostenbeitrag Herangezogene am vorherigen Verwaltungsverfahren der Jugendhilfemaßnahme – etwa aufgrund fehlender Sorgeberechtigung – nicht beteiligt war und hier keine Einwendungen vorbringen konnte (VGH BW, U.v. 17.3.2011 – 12 S 2823/08 – juris Rn. 37; VG Münster, U.v. 29.4.2014 – 6 K 1702/13 – juris Rn. 41-45; VG Freiburg, U.v. 19.4.2012 – 4 K 2209/11 – juris Rn. 40 f.; VG München, U.v. 13.10.2010 – M 18 K 08.1595 – juris Rn. 31).
bb) Dabei sind Verfahrensfehler bei der zugrundeliegenden Hilfegewährung unerheblich, wenn sie die Entscheidung in der Sache offensichtlich nicht beeinflusst haben. Insofern hat das Bundesverwaltungsgericht sogar die Aufstellung eines Hilfeplans insgesamt als keine unverzichtbare Voraussetzung der Gewährung von Jugendhilfe angesehen und für die inzidente Beurteilung der Rechtmäßigkeit im Rahmen eines Kostenerstattungsstreits als entscheidend erachtet, ob die Notwendigkeit und Geeignetheit der Hilfe auch ohne schriftliche Fixierung festgestellt werden könne (BVerwG, U.v. 24.6.1999 – 5 C 24/98 – juris Rn. 38 f.). Nach Ansicht der Kammer muss dies im Hinblick auf den Rechtsgedanken des § 42 SGB X bei sämtlichen Verfahrensfehlern gelten. Zwar ist diese Bestimmung nicht unmittelbar anwendbar, weil es nicht um die Aufhebung des zugrundeliegenden Leistungsbescheids für die stationäre Unterbringung geht und § 42 SGB X dogmatisch dessen Rechtswidrigkeit unberührt lässt. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass ein sorgeberechtigter Elternteil, das am vorherigen Verwaltungsverfahren der Jugendhilfemaßnahme beteiligt war, Einwendungen gegen die zugrundeliegende Hilfegewährung ausschließlich durch Anfechtung des Leistungsbescheids geltend machen könnte und dabei zweifelsohne § 42 SGB X zu berücksichtigen wäre. Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb für einen nicht am Hilfeverfahren Beteiligten etwas Anderes gelten sollte. Im Übrigen gilt auch für das zwischen Jugendhilfeträgern in § 89f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ausdrücklich normierte Gebot der Gesetzeskonformität, dass formelle Fehler kostenerstattungsrechtlich unbeachtlich sind, soweit auch bei deren Vermeidung inhaltlich dieselbe Hilfe zu gewähren wäre (so auch Kunkel/Pattar in LPK-SGB VIII, 7. Auflage 2018, § 89 f Rn. 11). Das allgemeine, aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Gebot der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung soll den Kostenbeitragsschuldner nämlich nur davor bewahren, keine Aufwendungen für solche Leistungen zu erstatten, die bei ordnungsgemäßer Leistungsgewährung so nicht hätten erbracht werden müssen (so für die Kostenerstattung zwischen Jugendhilfeträgern BVerwG, U.v. 29.6.2006 – 5 C 24/05 – juris Rn. 16).
b) Unter Berücksichtigung obiger Grundsätze bestehen seitens des Gerichts hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der gegenständlichen Jugendhilfemaßnahme keine durchgreifenden Bedenken. Die vorgelegten Akten sind nach Ansicht der Kammer ausreichend, um die inhaltliche Richtigkeit der stationären Unterbringung für den streitgegenständlichen Zeitraum zu überprüfen. Nach Ansicht des Gerichts bestehen keine Zweifel daran, dass die weitere stationäre Unterbringung in … die einzig vertretbare Hilfe darstellte. Der Hilfeempfänger befand sich seit 12. Februar 2011 und damit fast 6 Jahre im Kinderheim in … Im familiengerichtlichen Verfahren 2015 wurde die Notwendigkeit des Verbleibs des Hilfeempfängers im Heim ausführlich inzident geprüft und gebilligt. Der gerichtlich bestellte Sachverständige Dipl. Psychologe Dr. … hat dabei ausdrücklich festgestellt, dass der Aufenthalt der Kinder nicht verändert werden solle, da das Konfliktniveau der Eltern sehr hoch sei und die Konflikte zu einer Kindeswohlschädigung führen würden, wenn der Lebensmittelpunkt bei einem Elternteil wäre. Auch der Kindsvater hat sich in der mündlichen Verhandlung des Oberlandesgerichts … vom 30. September 2015 entsprechend dem Wunsch der Kinder mit dem Verbleib im Heim einverstanden erklärt, weil der Hilfeempfänger dort erstmals seit langer Zeit einen festen Platz, Freunde und soziale Kontakte hatte. Die weitere positive Entwicklung seit Ende 2015 wurde durch den Entwicklungsbericht des Heims vom 12. Oktober 2016 und durch die in der mündlichen Verhandlung klägerseits selbst vorgelegten Zeugnisse bestätigt. Im maßgeblichen Jahr der Hilfeplanung 2016 erzielte der Hilfeempfänger ausschließlich sehr gute und gute Noten. Am 7. Juli 2017 erreichte er die Fachschulreife mit fast ausnahmslos sehr guten und guten Noten und konnte in der Folge auf dem beruflichen Gymnasium befriedigende, in Mathematik sogar gute Zensuren erzielen. Der nach der Volljährigkeit vom Kläger geltend gemachte Leistungsabfall könnte – neben den höheren Anforderungen auf einem beruflichen Gymnasium – allenfalls darauf schließen lassen, dass die Unterstützung durch die stationäre Unterbringung gegebenenfalls sogar noch länger zu gewähren gewesen wäre. Bei der Aufstellung des Hilfeplans kam angesichts des Alters des Hilfeempfängers von 16 Jahren ein vorzeitiger Abbruch der Hilfe und eine Rückführung zur sorgeberechtigten Kindsmutter nicht mehr in Betracht. Ziel der Hilfe musste vielmehr entsprechend dem Reifegrad des Hilfeempfängers mehr und mehr die Verselbstständigung sein (zu diesem in der Regel bereits vor der Volljährigkeit vorzunehmenden “Richtungswechsel” Kunkel/Kepert in LPK-SGB VIII, 7. Auflage 2018, § 41 Rn. 32 f.). Diesem Wunsch des Hilfeempfängers nach Autonomie wurde in den Hilfeplangesprächen seit 2017 ausreichend Rechnung getragen, so dass der Hilfeempfänger bereits am 1. August 2018 kurz nach Volljährigkeit eine eigene Wohnung beziehen konnte.
c) Der Kläger kann daher keine Fehler im Hilfeplanverfahren geltend machen, da diese das Ergebnis offensichtlich nicht hätten beeinflussen können (vgl. zur Prüfungsdichte oben). Unabhängig davon ist die Hilfeplanung nicht zu beanstanden.
aa) Ein Verstoß gegen § 36 Abs. 2 Satz 1, Satz 2 Halbs. 2 SGB VIII liegt nicht vor. Nach dieser Vorschrift soll bei einer längerfristigen Hilfe die im Einzelfall angezeigte Hilfeart im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte getroffen werden. Sie sollen regelmäßig prüfen, ob die gewählte Hilfeart weiterhin geeignet und notwendig ist. Zwar sind Fachkräfte im Sinne von § 36 Abs. 2 SGB VIII nach der Legaldefinition des § 72 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII nur bei den Jugendhilfeträgern beschäftigte Personen, so dass sonstige Personen – insbesondere Mitarbeiter des Leistungsträgers – nur beratend mitwirken können (so auch NdsOVG U.v. – 4 ME 306/09 – JAmt 2011, 102, 105). Zu Recht weist der Kläger insofern auf einen Interessenskonflikt hin. Auch systematisch spricht die eigenständige Regelung für Leistungserbringer in § 36 Abs. 2 Satz 3 SGB VIII gegen eine Einbeziehung solcher Fachkräfte in die den Jugendhilfeträgern obliegende Entscheidung über die Hilfeart. Allerdings enthält § 36 Abs. 2 Satz 1, Satz 2 Halbs. 2 SGB VIII kein zwingendes Erfordernis. Die Soll-Regelung lässt vielmehr Ausnahmen bei atypischen Umständen im Einzelfall zu (Kunkel/Kepert in LPK-SGB VIII, 7. Auflage 2018, § 36 Rn. 32 und 36). Eine solche Ausnahmekonstellation ist für die stationäre Unterbringung während des streitigen Zeitraums vom 1. Januar 2017 bis zum 9. Juli 2018 gegeben. Zu Recht weist die Beklagte nämlich darauf hin, dass die Frage des Verbleibs des Hilfeempfängers im Heim in … inzident bereits im familiengerichtlichen Verfahren unter Einbeziehung eines psychologischen Gutachtens und sämtlicher Beteiligter geprüft wurde. In einem solchen Fall ist die Notwendigkeit der weiteren stationären Unterbringung im Heim – auch unter Berücksichtigung des Alters und Wunsches des Hilfeempfängers – so eindeutig zu bejahen, dass die Entscheidung für die Fortsetzung der Hilfe ausnahmsweise nur von einer Fachkraft getroffen werden kann.
bb) Der der Kostenbeitragsfestsetzung zugrundeliegende Hilfeplan vom 15. November 2016 ist auch ansonsten nicht zu beanstanden. Als notwendigen Inhalt bestimmt § 36 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII Feststellungen über den Bedarf, die zu gewährende Art der Hilfe sowie die notwendigen Leistungen. Jedenfalls angesichts des allen Beteiligten bekannten Verfahrens vor dem Oberlandesgerichts, des bereits mehrjährigen Hilfeprozesses und des Einverständnisses der am Hilfeplan beteiligten Personen zur Fortsetzung der Hilfe genügte insoweit eine stichpunktartige Dokumentation der im Hilfeplangespräch ermittelten Probleme und Ziele der Hilfe.
Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, folgt die Kostenentscheidung aus § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO. Billigem Ermessen entspricht es, insoweit dem Kläger die Kosten aufzuerlegen, weil die Gewährung von Akteneinsicht, die bei einem Kostenbeitragsverfahren wegen der Konnexität grundsätzlich auch Aktenbestandteile des zugrundliegenden Jugendhilfeverfahrens umfassen kann, im Zusammenhang mit einem anhängigen Verwaltungsverfahren eine nicht selbstständig angreifbare Verfahrenshandlung im Sinn des § 44a Satz 1 VwGO darstellt (vgl. zur Unzulässigkeit im Hinblick auf § 44a VwGO bspw. BVerwG, U.v. 22.9.2016 – 2 C 16.15 – juris Rn. 15). Bezüglich des nicht erledigt erklärten Teils des Verfahrens ergibt sich die Kostenentscheidung aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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