Verwaltungsrecht

Kostenübernahme für die künstliche Befruchtung einer Soldatin

Aktenzeichen  M 21 K 15.902

Datum:
20.2.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwVfG VwVfG § 48 Abs. 1, § 49 Abs. 1, § 51
VwGO VwGO § 113 Abs. 5
SG SG § 30 Abs. 1 S. 2
BBesG BBesG § 69 Abs. 2

 

Leitsatz

1 Die homologe In-Vitro-Fertilisation ist als medizinische Behandlung einer Erkrankung grundsätzlich notwendig (im Sinne des derzeitigen Rechts der truppenärztlichen Versorgung), wenn damit der regelwidrige Körperzustand einer organisch bedingten Sterilität überwunden und der oder dem Betroffenen zu einem genetisch eigenen Kind verholfen werden soll (Anschluss an BVerwG BeckRS 2014, 45319). (redaktioneller Leitsatz)
2 Entscheidet sich der Dienstherr ermessensfehlerfrei gegen eine erneute Sachentscheidung, so stellt dies weder eine Verletzung der Fürsorgepflicht noch einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz dar. (redaktioneller Leitsatz)
3 Selbst für nicht antragsgebundene Besoldungsansprüche ist anerkannt, dass eine Korrektur einer für verfassungswidrig erklärten Regelung nur für das Haushaltsjahr gefordert ist, in dem die Verfassungswidrigkeit festgestellt worden ist.  (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Ablehnungsbescheid vom 5. März 2014 und der Beschwerdebescheid vom 6. Februar 2015 sind rechtmäßig. Die Klägerin hat weder einen Anspruch auf Erstattung der von ihr geltend gemachten Kosten noch auf erneute Sachentscheidung über ihren Antrag auf nachträgliche Kostenerstattung hinsichtlich der bei ihr durchgeführten Behandlungsmaßnahmen zur künstlichen Befruchtung (§ 113 Abs. 5 VwGO).
Anspruchsgrundlage für die unentgeltliche truppenärztliche Versorgung ist § 30 Abs. 1 Satz 2 SG i.V.m. § 69 Abs. 2 Satz 1 BBesG in der Fassung vom 30. Juli 2004 (BGBl 2004 I S. 2027) und § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 1 Sätze 2 und 3 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 69 Abs. 2 BBesG in der maßgeblichen Fassung vom 14. Februar 2007 (VMBl 2007, 54 – im Folgenden: VwV 2007). Maßgeblich für das Bestehen des Anspruchs auf Übernahme von Kosten im Rahmen der unentgeltlichen truppenärztlichen Versorgung ist – wie beim beihilferechtlichen Kostenerstattungsanspruch – die Sach- und Rechtslage des Entstehens der Aufwendungen. Abzustellen ist also auf den Zeitraum der Rechnungsstellung (BVerwG, U.v. 10.10.2013 – 5 C 29/12 – juris – Rn. 10).
Die homologe In-Vitro-Fertilisation ist als medizinische Behandlung einer Erkrankung grundsätzlich notwendig (im Sinne des derzeitigen Rechts der truppenärztlichen Versorgung), wenn damit der regelwidrige Körperzustand einer organisch bedingten Sterilität überwunden und der oder dem Betroffenen zu einem genetisch eigenen Kind verholfen werden soll (BVerwG, U.v. 10.10.2013 a.a.O. – juris Leitsatz 3, Rn. 42). Die in § 2 Abs. 1 und 3 VwV 2007 enthaltenen Leistungsbeschränkungen, die den Zweck der truppenärztlichen Versorgung auf die Erhaltung oder Wiederherstellung der Dienst- und Einsatzfähigkeit der Soldatinnen und Soldaten begrenzen und Maßnahmen der künstlichen Befruchtung von der Versorgung ausnehmen, sind nicht und – anders als die Verwaltungsvorschriften im Übrigen – auch nicht übergangsweise anzuwenden.
Die Beklagte konnte den Antrag der Klägerin dennoch ohne weitere Sachprüfung ablehnen, da hierüber durch den Bescheid vom 22. Mai 2007 bereits bestandskräftig entschieden worden war. Die Bestandskraft wird durch die Verfassungswidrigkeit der zugrunde gelegten Rechtslage nicht berührt (vgl. im Falle der Nichtigkeit formeller Gesetze § 79 Abs. 2 BVerfGG).
Ein Wiederaufgreifensgrund liegt nicht vor und ergibt sich insbesondere auch nicht aus der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Oktober 2013. Höchstrichterliche Entscheidungen legen das geltende Recht aus und führen nicht zu einer nachträglichen Änderung der Sach- oder Rechtslage i.S.v. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG.
Die Entscheidung, ob und in welchem Umfang ein Wiederaufgreifen eines rechtsbeständig abgeschlossenen Verfahrens erfolgen soll, steht außerhalb der von § 51 Abs. 1 VwVfG erfassten Sonderfälle im Ermessen der Behörde. Die Klägerin hat insofern lediglich einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über den erneuten Eintritt in eine Sachbehandlung. Die Rechtswidrigkeit eines bestandskräftigen Bescheids allein gibt keinen Anspruch auf ein Wiederaufgreifen des Verfahrens. Sie ist lediglich Voraussetzung für eine Ermessensentscheidung der Behörde. Das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung in Gestalt des Vorrangs des Gesetzes und dasjenige der Rechtssicherheit im Sinne der Bestandskraft von Verwaltungsakten sind grundsätzlich gleichwertig, sofern dem anzuwenden Fachrecht keine andere gesetzliche Wertung zu entnehmen ist. Dieser bereits vor Inkrafttreten des Verwaltungsverfahrensgesetzes anerkannte Verfahrensgrundsatz (BVerwG, U.v. 30.1.1974 – VIII C 20.72 – juris Rn. 25) findet seinen gesetzlichen Niederschlag in § 51 Abs. 5 VwVfG, wonach außerhalb des Anwendungsbereich des § 51 VwVfG die Vorschriften des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG und des § 49 Abs. 1 VwVfG unberührt bleiben.
Entscheidet sich der Dienstherr ermessensfehlerfrei gegen eine erneute Sachentscheidung, so stellt dies weder eine Verletzung der Fürsorgepflicht noch einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz dar.
Die von der Beklagten getroffene Ermessensentscheidung erweist sich als rechtsfehlerfrei. Bei der Überprüfung einer Ermessensentscheidung beschränkt sich die gerichtliche Prüfung gemäß § 114 Satz 1 VwGO darauf, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind, von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist oder die Behörde verkannt hat, dass ihr ein Ermessen zusteht.
Eine Reduzierung des Ermessens auf Null dahin, dass ausschließlich eine erneute Sachentscheidung rechtsfehlerfrei wäre, liegt nicht vor. Ist der in Bestandskraft erwachsene Bescheid nicht nur rechtsfehlerhaft, sondern würde ein Beharren auf der Unanfechtbarkeit gegen Treu und Glauben oder gegen die guten Sitten verstoßen bzw. wäre Aufrechterhaltung schlechthin unerträglich, so kann sich das Ermessen ausnahmsweise zu einem Anspruch auf Wiederaufgreifen des abgeschlossenen Verfahrens verdichten. Das Festhalten an dem Verwaltungsakt ist insbesondere dann schlechthin unerträglich, wenn die Behörde gegen den allgemeinen Gleichheitssatz dadurch verstößt, dass sie in gleichen oder ähnlich gelagerten Fällen in der Regel von ihrer Befugnis zur Rücknahme Gebrauch macht, hiervon jedoch in anderen Fällen ohne rechtfertigenden Grund absieht. Auch eine offensichtliche Rechtswidrigkeit einer bestandskräftigen Entscheidung kann dazu führen, dass die Aufrechterhaltung schlechthin unerträglich ist.
Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Die Beklagte weist in diesem Zusammenhang zutreffend darauf hin, dass die Rechtslage bis zu der Grundsatzentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Oktober 2013 umstritten war. Die von der Klägerseite in Bezug genommene Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. Juni 2004 zur Erforderlichkeit einer gesetzlichen Regelung im Beihilferecht für Beamte betrifft weder die unentgeltliche truppenärztliche Versorgung von Soldaten noch die hier im Mittelpunkt stehende Frage der Erstattungsfähigkeit von Maßnahmen der künstlichen Befruchtung.
Es spricht im Gegenteil einiges dafür, dass eine Sachentscheidung im Hinblick auf das Gebot der zeitnahen Geltendmachung von Ansprüchen von vornherein ausgeschlossen ist. Selbst nach Maßgabe der – als Geldleistungsanspruch gegenüber der truppenärztlichen Versorgung weit flexibleren – Beihilfevorschriften wäre eine nachträgliche Kostenerstattung mehr als ein Jahr nach Rechnungsdatum ausgeschlossen (§ 54 Abs. 1 Bundesbeihilfeverordnung). Jedenfalls ist aber die Entscheidung, im Hinblick auf die ermessenslenkende und intendierende generelle Regelung im Zentralerlass B-1455/1 von einer erneuten Sachentscheidung über den Kostenerstattungsantrag der Klägerin abzusehen, nicht zu beanstanden.
Die im Zentralerlass B-1455/1 getroffene generelle Regelung, durch die eine nachträgliche Kostenerstattung für Maßnahmen der künstlichen Befruchtung vor der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Oktober 2013 auf bereits beantragte Kostenübernahmen beschränkt wird, über die noch nicht bestands- bzw. rechtskräftig entschieden ist, verstößt ihrerseits weder gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, Treu und Glauben, die guten Sitten oder die Fürsorgepflicht.
Ist seitens des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Regelung oder von einem obersten Bundesgericht eine mit dem Grundsatz des Gesetzesvorbehalts unvereinbare Rechtslage festgestellt worden, so ist im Beamtenrecht in der Regel eine Korrektur für die Vergangenheit nur hinsichtlich solcher Beamter veranlasst, die ihren Anspruch geltend gemacht haben und über deren Antrag noch nicht abschließend entschieden worden ist. Selbst für nicht antragsgebundene Besoldungsansprüche ist anerkannt, dass eine Korrektur einer für verfassungswidrig erklärten Regelung nur für das Haushaltsjahr gefordert ist, in dem die Verfassungswidrigkeit festgestellt worden ist. Für davor liegende Zeiträume kann sich die Korrektur dagegen auf diejenigen Beamten beschränken, die einen Anspruch zeitnah, also während des jeweils laufenden Haushaltsjahres, gerichtlich geltend gemacht haben, ohne dass über ihren Anspruch schon abschließend entschieden worden ist (vgl. BVerwG, U.v. 27.5.2010 – 2 C 33/09 – juris Rn. 9; U.v. 13.11.2008 – 2 C 16/07 – juris Rn. 11; U.v. 17.12.2008 – 2 C 42/08 – juris Rn. 13; BVerfG, B.v. 22.3.1990 – 2 BvL 1/86 – juris Leitsatz 2 und Rn. 68; B.v 24.11.1998 – 2 BvL 26/91 u.a. – juris Leitsatz 2 und Rn. 67). Das Erfordernis der rechtzeitigen Geltendmachung für Nachzahlungsansprüche für die Zeit vor der Feststellung der Verfassungswidrigkeit gilt selbst in den Fällen, in denen das Bundesverfassungsgericht bis zu einer gesetzlichen Regelung eine Interimsregelung durch eine Vollstreckungsanordnung erlässt (BVerwG, U.v. 27.5. 2010 a.a.O. – juris Leitsatz und Rn. 7 und 14).
Wie die Alimentation dient auch die unentgeltliche truppenärztliche Versorgung im Rahmen der Fürsorgepflicht der Deckung eines gegenwärtigen Bedarfs. Soldaten, die vor der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Oktober 2013 keinen Antrag auf Kostenübernahme für Maßnahmen der künstlichen Befruchtung gestellt haben oder einen Ablehnungsbescheid in Bestandskraft erwachsen haben lassen, können daher nicht erwarten, dass sie ohne eigenes Zutun in den Genuss der vom Gesetzgeber zu korrigierenden Rechtslage kommen.
Hinzu kommt, dass die unentgeltliche truppenärztliche Versorgung als Sachleistung gewährt wird (§ 1 Abs. 2 VwV 2007) und eine Kostenerstattung für Leistungen außerhalb des eigentlichen Leistungsangebots der Truppenärzte aus Gründen der Kostenkontrolle unter striktem Genehmigungsvorbehalt steht (vgl. § 4 Abs. 2, § 5 Abs. 2, §§ 7 und 8 VwV 2007). Die im Zentralerlass B-1455/1 getroffene Abgrenzung, die darauf abstellt, ob vor der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Oktober 2013 ein Kostenerstattungsantrag gestellt und hierüber noch nicht abschließend entschieden worden ist, erweist sich auch vor diesem Hintergrund als sachgerecht (ausschließlich auf das Antragserfordernis abstellend VG Köln, U.v. 10.8.2016 – 23 K 100/15 – juris Rn 25).
Die Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
Vollstreckung: § 167 Abs. 2 VwGO, §§ 708 ff. ZPO

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen