Verwaltungsrecht

Krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot

Aktenzeichen  B 7 K 18.31605

Datum:
23.12.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 43686
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
EMRK Art. 3
AufenthG wurde auf 30 § 11 Abs. 1, § 60 Abs. 5, Abs. 7
AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 1

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Beklagte wird – unter Aufhebung der Nummern 4 bis 6 des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 17.09.2018 – verpflichtet festzustellen, dass bei dem Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegen.
2. Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens trägt der Kläger zu 3/4 und die Beklagte zu 1/4.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 v.H. des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 v.H. des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Gründe

I.
Das Gericht kann ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 101 Abs. 2 VwGO). Das Bundesamt hat mit allgemeiner Prozesserklärung vom 27.06.2017 sein Einverständnis erklärt, die Klägerseite mit Schriftsatz vom 19.12.2019.
II.
Der Entscheidung ist der von der Klägerbevollmächtigten im Schriftsatz vom 19.12.2019 gestellte Klageantrag zugrunde zu legen. Soweit an den im Klageschriftsatz vom 21.09.2018 gestellten Anträgen (Verpflichtung der Beklagten auf Anerkennung des Klägers als Asylberechtigten und Zuerkennung internationalen Schutzes) nicht mehr festgehalten wird, handelt es sich um eine ohne Weiteres zulässige Klageänderung (Beschränkung des Klageantrags) nach § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 264 Nr. 2 ZPO, die jedoch kostenrechtlich als Klagerücknahme zu behandeln ist (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 24. Aufl. 2018, § 92 Rn. 5). Nachdem im Schriftsatz vom 19.12.2019 nur mehr die Verpflichtung begehrt wird, die Beklagte zur Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten zu verpflichten, legt das Gericht den in Nr. I des Schriftsatzes formulierten Aufhebungsantrag dahin aus, dass der Bescheid vom 17.09.2018 aufgehoben werden soll, soweit er der begehrten Feststellung entgegensteht.
III.
Die auf die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten beschränkte Klage ist zulässig und begründet. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO). Der streitgegenständliche Bescheid erweist sich in seinen Nummern 4 bis 6 als rechtswidrig und ist insoweit durch das Gericht aufzuheben.
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.
Nach der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist für die Prognose der bei einer Rückkehr drohenden Gefahren bei realitätsnaher Betrachtung der Rückkehrsituation im Regelfall davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie (Eltern und minderjährige Kinder) im Familienverband in ihr Herkunftsland zurückkehrt. Von einer gemeinsamen Rückkehr im Familienverband ist für die Rückkehrprognose im Regelfall auch dann auszugehen, wenn einzelnen Familienmitgliedern bereits bestandskräftig ein Schutzstatus zuerkannt oder für sie ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt worden ist (U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris). Die neue Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann sich je nach Konstellation im Einzelfall dahin auswirken, dass in extremen Mangelsituationen zugunsten aller Mitglieder einer Kernfamilie ein Abschiebungsverbot festzustellen ist oder auch dahin, dass die Gefährdung etwa alleinstehender Frauen (mit oder ohne Kleinkindern) durch das Hinzutreten einer weiteren Person so weit herabgesenkt wird, dass die Schwelle einer (drohenden) Verletzung des Art. 3 EMRK/Art. 4 EGrC nicht erreicht wird (vgl. Berlit, jurisPR-BVerwG 24/2019 Anm. 5). Der Kläger lebt mit seiner Frau/Lebensgefährtin und der gemeinsamen Tochter in … in familiärer Gemeinschaft. Es ist für die Entscheidung in der vorliegenden Sache mithin hypothetisch davon auszugehen, dass nicht nur der Kläger (und sein Frau) nach Äthiopien zurückkehren, sondern mit diesen auch ihre Tochter. Wie ausgeführt gilt dies ungeachtet des Umstands, dass das Bundesamt zugunsten der Tochter des Klägers ein krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot festgestellt hat.
Zwar können der Kläger und seine Frau im hypothetischen Falle der Rückkehr nach Äthiopien im Familienverbund auf den Einsatz ihrer Arbeitskraft und die Inanspruchnahme von verwandtschaftlicher Unterstützung (vgl. S. 3 der Anhörungsniederschriften, auch im Verfahren …) verwiesen werden, doch sind diese Erwägungen hier nicht geeignet, einen Anspruch nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu verneinen.
Die Tochter des Klägers leidet an Mukoviszidose. Dabei handelt es sich um eine autosomal-rezessiv vererbte Stoffwechselerkrankung. Sie wird durch eine Veränderung des Erbguts verursacht und ist somit nicht heilbar. Lebenserwartung und Lebensqualität sind meist deutlich reduziert. Mit einer rechtzeitigen und konsequenten Therapie kann der Krankheitsverlauf erheblich verlangsamt werden. Inzwischen leben die Patienten deutlich länger als noch vor einigen Jahren. Die mittlere Lebenserwartung bei zystischer Fibrose liegt derzeit bei etwa 40 Jahren. Viele leben aber auch 50 Jahre mit der Erkrankung und mehr. Ohne Therapie verschlechtert sich der Gesundheitszustand rapide und die Betroffenen leben meist nicht lange (vgl. hierzu das Schreiben des Gerichts vom …2019 m.w.N.).
Behandlungsmöglichkeiten einer Mukoviszidose-Erkrankung stehen in Äthiopien nicht zur Verfügung; davon geht auch das Bundesamt aus (Schriftsatz vom 30.10.2019 mit Verweis auf das Verfahren der Tochter des Klägers).
Legt man aber dies zugrunde und wird die Tochter des Klägers mit in die Rückkehrprognose einbezogen, so würde deren zu erwartender Krankheitsverlauf in der Aus- bzw. Rückwirkung auf den Kläger dazu führen, dass in der Person des Klägers die von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorausgesetzte Erheblichkeitsschwelle erreicht wird (vgl. hierzu HK-EMRK/ Meyer-Ladewig/Lehnert, EMRK, Art. 3, Rn. 77, 84).
IV.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und – nachdem das Fallenlassen einzelner Ansprüche kostenrechtlich als Klagerücknahme zu werten ist (siehe oben, Nr. II.) – auf § 155 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben