Verwaltungsrecht

Nutzungsuntersagung einer Balkonanlage im besonderen öffentlichen Interesse

Aktenzeichen  15 CS 20.1746

Datum:
13.8.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 20555
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5, § 122 Abs. 2 S. 3, § 146 Abs. 4 S. 1, § 152 Abs. 1
BayBO Art. 54 S. 4
GG Art. 2 Abs. 2

 

Leitsatz

Angesichts des hohen Stellenwerts der Rechtsgüter Leben und Gesundheit sind im Anwendungsbereich des Art. 54 Abs. 4 BayBO an die Feststellungen der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sowie an den Maßstab der Erheblichkeit der Gefahr keine übermäßig hohen Anforderungen zu stellen. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 5 S 20.917 2020-06-29 Bes VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragsteller haben die Kosten des Beschwerdeverfahrens als Gesamtschuldner zu tragen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragsteller wenden sich im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (§ 80 Abs. 5 VwGO) gegen eine von der Antragsgegnerin mit der Anordnung der sofortigen Vollziehung verbundene baurechtliche Nutzungsuntersagung einer „Balkonanlage“ (jeweiliger Bescheid vom 27. Mai 2020) bzw. „des zu ihrer Wohnung gehörenden“ Balkons (jeweiliger Änderungsbescheid vom 22. Juni 2020).
Das Bayerische Verwaltungsgericht Augsburg hat mit Beschluss vom 29. Juni 2020 zwar die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 27. Mai 2020, in der Form, die er durch den Änderungsbescheid vom 22. Juni 2020 erhalten hat, in Bezug auf „Ziffer 3 des Bescheides“ angeordnet (wegen Unbestimmtheit der dort geregelten Zwangsgeldandrohung), im Übrigen jedoch den Antrag der Antragsteller auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage abgelehnt. Wegen der Einzelheiten wird auf die Gründe des Beschlusses Bezug genommen.
Mit der Beschwerde verfolgen die Antragsteller ihr Rechtsschutzziel weiter. Der Änderungsbescheid vom 22. Juni 2020 sei rechtswidrig und habe den – wegen seiner Bezogenheit auf die „Balkonanlage“ (des Mehrfamilienhauses) und wegen darin liegender Unbestimmtheit – ebenfalls rechtswidrigen Bescheid vom 27. Mai 2020 nicht „heilen“ können. Die Antragsteller hätten im Übrigen im gerichtlichen Verfahren bereits erklärt, dass sie den (eigenen) Balkon nicht nutzen und auch den Zugang zum Balkon durch Dritte nicht erlauben würden. Die Anordnung des Sofortvollzuges sei lediglich aufgrund „Nichtaufklärung des Sachverhalts und unter Verletzung des rechtlichen Gehörs der Antragsteller“ erfolgt. Das von den Antragstellern vorgelegte Gutachten eines öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen sei „weder ansatzweise erwähnt noch berücksichtigt“ worden. Damit liege bei der Antragsgegnerin ein „offenkundiges defizitäres Ermessen“ vor. Wegen der Einzelheiten wird auf den Schriftsatz des Bevollmächtigten der Antragsteller vom 6. August 2020 verwiesen.
Mit Schriftsatz vom 11. August 2020 – und damit nach Ablauf der Monatsfrist zur Begründung der Beschwerde gegen den dem Bevollmächtigten der Antragsteller am 6. Juli 2020 zugestellten Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 29. Juni 2020 (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO) – haben die Antragsteller eine „vorläufige Stellungnahme“ eines Ingenieurbüros vom 7. August 2020 vorgelegt.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vorgelegten Behördenakte Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg.
1. Das Vorbringen der Antragsteller im Beschwerdeverfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (§ 146 Abs. 4 Satz 6, § 80 Abs. 5 VwGO) rechtfertigt keine vom angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts abweichende Entscheidung. Der Senat folgt den ausführlichen Gründen jenes Beschlusses (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Im Hinblick auf das Beschwerdevorbringen ist ergänzend zu bemerken:
Die vom Verwaltungsgericht im gerichtlichen Eilverfahren vorgenommene Interessenabwägung ist nicht zu beanstanden. Das Verwaltungsgericht hat ausführlich begründet, dass wegen erheblicher Gefahren für Gesundheit und Leben die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit der – nach Maßgabe des Art. 54 Abs. 4 BayBO gerechtfertigten – Nutzungsuntersagung im besonderen öffentlichen Interesse liegt. Es hat sich bei seiner Gefahrenbeurteilung auf eine „Gesamtschau“ der in Bezug auf die Tragfähigkeit der Balkonkonstruktion vorliegenden fachlichen Gutachten und Stellungnahmen gestützt und in diesem Zusammenhang gerade auch mit dem von den Antragstellern vorgelegten Gutachten eines öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen auseinandergesetzt. Das nicht näher substantiierte Beschwerdevorbringen ist demgegenüber nicht geeignet, die diesbezügliche Bewertung und daraufhin vorgenommene Interessenabwägung des Verwaltungsgerichts in Zweifel zu ziehen. Das Verwaltungsgericht geht auch zu Recht davon aus, dass jedenfalls durch den Änderungsbescheid vom 22. Juni 2020 klargestellt ist, dass sich die gegenüber den Antragstellern ausgesprochene Nutzungsuntersagung (selbstverständlich) nur auf deren eigenen Balkon bezieht und Ermessensfehler bei Erlass der streitgegenständlichen Nutzungsuntersagung unter Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht zu erkennen sind. Im Übrigen gibt es auch schon deshalb keinen Anlass für eine von der Entscheidung des Verwaltungsgerichts abweichende Beurteilung der betroffenen Interessen, wenn die Antragsteller erklären, den (eigenen) Balkon ohnehin nicht nutzen und auch den Zugang durch Dritte nicht erlauben zu wollen. Der Senat weist ferner darauf hin, dass bei Anwendung des Art. 54 Abs. 4 BayBO das Handlungsermessen regelmäßig auf null reduziert ist, d.h. dass die Behörde in der Regel tätig werden muss, soweit Anordnungen zur Abwehr von erheblichen Gefahren für Leben oder Gesundheit notwendig sind (vgl. BayVGH, B.v. 25.3.2019 – 15 C 18.2324 – BayVBl 2019, 673 = juris Rn. 38 m.w.N.). Von der Befugnisnorm des Art. 54 Abs. 4 BayBO ist als Eingriffsmaßnahme auch eine Nutzungsuntersagung gedeckt (BayVGH, B.v. 3.4.2020 – 15 ZB 19.1024 – juris Rn. 28).
Eine abweichende Beurteilung ergibt sich auch nicht aus der mit Schriftsatz vom 11. August 2020 vorgelegten „vorläufigen Stellungnahme“ eines Ingenieurbüros vom 7. August 2020. Es ist bereits fraglich, ob der Senat den Schriftsatz und die gutachterliche Stellungnahme mit Blick auf die zeitlichen Grenzen für die Beschwerdebegründung (§ 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO i.V. mit § 146 Abs. 4 Satz 3 und Satz 6 VwGO) überhaupt berücksichtigen darf. Unabhängig hiervon vermag die gutachterliche Kurzstellungnahme vom 7. August 2020 das Vorliegen der Eingriffsvoraussetzungen des § 54 Abs. 4 BauGB nicht zu erschüttern. Bei der nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls zu beurteilenden Frage, ob die Eingriffsschwelle des Art. 54 Abs. 4 BayBO (erhebliche Gefahr für Leben und Gesundheit) erreicht ist, ist eine konkrete Gefahr in dem Sinne zu fordern, dass bei einer Betrachtungsweise ex ante bei ungehindertem Geschehensablauf mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden droht. Dabei ist der allgemeine sicherheitsrechtliche Grundsatz anzuwenden, dass an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Angesichts des hohen Stellenwerts der Rechtsgüter Leben und Gesundheit sind daher im Anwendungsbereich des Art. 54 Abs. 4 BayBO an die Feststellungen der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sowie an den Maßstab der Erheblichkeit der Gefahr keine übermäßig hohen Anforderungen zu stellen. Es genügt grundsätzlich, wenn ein Schadenseintritt zu Lasten der durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG unter dem besonderen Schutz der Rechtsordnung stehenden Schutzgüter aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls nicht ganz unwahrscheinlich ist (BayVGH, B.v. 3.4.2020 – 15 ZB 19.1024 – juris Rn. 14 mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Dass diese Voraussetzungen vorliegen, ergibt sich aus der von der Antragsgegnerin zugrunde gelegten fachlichen Stellungnahme eines Ingenieurbüros für Tragwerksplanung vom 28. August 2019 und den weiteren vom Verwaltungsgericht herangezogenen Umständen (vgl. Rn. 44 des Beschlusses vom 29. Juni 2020). Dem hat die von der Antragstellerseite nunmehr vorgelegte „vorläufige Stellungnahme“ eines Ingenieurbüros vom 7. August 2020 nichts Substantielles entgegenzusetzen. In dieser Stellungnahme wird beschrieben, wie der sachbearbeitende Ingenieur mit Hilfe eines Malergerüsts die Balkonunterseite in Augenschein genommen hat. Das Ingenieurbüro führt aus, dass aufgrund der Inaugenscheinnahme und erster rechnerischer Untersuchungen anzunehmen sei, dass die Standsicherheit des untersuchten Balkons derzeit gegeben sei. Konkrete Berechnungen oder Ergebnisse von Beprobungsversuchen und damit eine empirisch gesicherte Prognose zur tatsächlichen Tragfähigkeit liefert die Stellungnahme hingegen nicht. Stattdessen werden Sanierungsalternativen zum Abbruch der Balkonanlage thematisiert, deren Realisierbarkeit ausdrücklich von weiteren Untersuchungen der Bausubstanz abhängig gemacht werden. Auf dieser Basis vermögen die Antragsteller der Annahme eines hinreichenden Wahrscheinlichkeitsmaßstabs und damit der Annahme einer erheblichen Gefahr für Leben und Gesundheit nicht entgegenzutreten.
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 159 Satz 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 und 2 GKG i.V. mit Nr. 1.5 und 9.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der 2013 aktualisierten Fassung (abgedruckt in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, Anhang) und entspricht der Streitwertfestsetzung im erstinstanzlichen Verfahren.
3. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben