Verwaltungsrecht

Offener Ausgang der Hauptsache

Aktenzeichen  M 3 S 15.50614

Datum:
18.2.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 80 Abs. 5

 

Leitsatz

Sind im Rahmen eines Eilrechtschutzverfahrens die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens als offen anzusehen, überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das öffentliche Vollzugsinteresse.  (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom … Juli 2015 gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 27. April 2015 wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Der Antragsteller ist eigener Angabe zufolge am … 1990 geboren, syrischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit.
Mit Schreiben vom … November 2014 zeigte sein Bevollmächtigter beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) unter Vorlage der ihm erteilten Vollmacht die anwaltliche Vertretung des Antragstellers an und stellte in dessen Namen Asylantrag.
Am 8. Januar 2015 führte das Bundesamt mit dem Antragsteller ein persönliches Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zur Durchführung des Asylverfahrens.
Am 18. Februar 2015 stellte das Bundesamt aufgrund eines Eurodac-Treffers ein Wiederaufnahmeersuchen an Bulgarien, das sich am 17. April 2015 mit der Übernahme des Antragstellers einverstanden erklärte.
Mit Schreiben vom … Februar 2015 teilte der Bevollmächtigte dem Bundesamt mit, weder in Bulgarien noch in Ungarn würden die rechtsstaatlichen Grundsätze gewahrt. Daher sei ein Dublin-Verfahren nicht einzuleiten.
Mit Bescheid vom 27. April 2015 lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1 des Bescheids) und ordnete die Abschiebung des Antragstellers nach Bulgarien an (Nr. 2 des Bescheids). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Asylantrag sei gemäß § 27a AsylVfG unzulässig, da Bulgarien aufgrund der dortigen illegalen Einreise gemäß Art. 13 Abs. 1 Dublin III-Verordnung für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich.
Die Anordnung der Abschiebung nach Bulgarien beruhe auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG.
Eine Zustellung an den Antragsteller unter der im Bescheid genannten Anschrift („…“) war laut Vermerk auf der PZU vom 4. Mai 2015 nicht möglich, da der Antragsteller unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln war.
Am … Juli 2015 erhob der Bevollmächtigte des Antragstellers beim Bayerischen Verwaltungsgericht München Klage mit dem Antrag, den Bescheid des Bundesamts vom 27. April 2015, ihm zugegangen am 2. Juli 2015, aufzuheben. Er beantragte außerdem,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung trug der Bevollmächtigte im Wesentlichen vor, gemäß Schreiben der Ausländerbehörde vom 1. Juli 2015 sei der Bescheid dem Antragsteller am 5. Mai 2015 zugestellt worden. Der Antragsteller habe den Bescheid jedoch bis zum heutigen Tag nicht bekommen, der Bevollmächtigte habe den Bescheid erst am heutigen Tag im Wege der Akteneinsicht bei der Ausländerbehörde erhalten. Die vom Bundesamt angegebene Adresse sei falsch, der Antragsteller habe unter dieser Adresse nie gewohnt. Die ursprüngliche Adresse des Antragstellers habe gelautet: „…“. Der Bescheid sei daher nicht wirksam zugestellt worden.
Die Zustellungsvorschriften des § 10 AsylVfG, denen zufolge der Ausländer Zustellungen unter der letzten Anschrift, die der jeweiligen Stelle aufgrund seines Asylantrags oder seiner Mitteilung bekannt seien, gegen sich gelten lassen müsse, würden gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG dann nicht gelten, wenn der Ausländer für sein Asylverfahren einen Bevollmächtigten bestellt habe. Dies sei hier bereits mit Schreiben vom … November 2014 geschehen. Vorsorglich wurde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Klagefrist und der Antragsfrist beantragt.
Das Bundesamt legte mit Schreiben vom 3. Juli 2015 die Akte vor. Auf die Bitte des Gerichts an das Bundesamt, die erfolgte Zustellung des Bescheids an den Bevollmächtigten nachzuweisen, wurde die Postzustellungsurkunde über den Zustellversuch an den Antragsteller am 4. Mai 2015 vorgelegt. Der Bevollmächtigte des Antragstellers versicherte mit Schriftsatz vom … August 2015 anwaltlich, dass eine Zustellung des Bescheids an ihn nicht erfolgt sei.
Mit Schreiben vom … September 2015 übersandte der Bevollmächtigte eine tabellarische Übersicht, datiert auf den 21. August 2015, mit Namen und Amtsbezeichnung eines Mitarbeiters des Bundesamts sowie dem „Az. …“, und der Überschrift: „Verfahrensregelung zur Aussetzung des Dublin-Verfahrens für syrische Staatsangehörige“; in der linken Spalte wird der jeweilige „Verfahrensstand“ beschrieben, in der rechten Spalte die „Maßnahme“. Zum Verfahrensstand „Dublinverfahren ist bei VG anhängig“ heißt es in der rechten Spalte: „Durch Prozessbereich dem VG ein Vergleichsangebot unterbreiten: Dublinbescheid wird aufgehoben (das SER wird ausgeübt, der MS ist hierüber zu informieren), Kosten werden gegeneinander aufgehoben. Folgende Verfahrensweise ist zu beachten: …“
Der Bevollmächtigte bat, die Antragsgegnerin möge ein entsprechendes Vergleichsangebot unterbreiten. Das Schreiben des Bevollmächtigten wurde dem Bundesamt am 4. November 2015 mit der Bitte um Stellungnahme übersandt, eine Äußerung des Bundesamts erfolgte nicht.
Mit Schreiben vom … November 2015 teilte der Bevollmächtigte mit, die Antragsgegnerin habe entsprechend der vorgelegten Verfahrensregelung in einer Vielzahl von gerichtlich anhängigen Dublin-Verfahren syrischer Staatsangehöriger von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch gemacht. Aus den Medien sei zu erfahren gewesen, dass die o.g. Verfahrensregelung aufgrund einer Anweisung des Bundesinnenministeriums seit dem 21. Oktober 2015 nicht mehr angewandt werde, so dass syrische Flüchtlinge nunmehr weiter nach der Dublin III-VO in den zuständigen Mitgliedstaat abgeschoben werden sollten. Es könne allerdings nicht sein, dass die Antragsgegnerin in Dublin-Verfahren, die zwischen 21. August und 21. Oktober 2015 gerichtlich anhängig gewesen seien, in einer bestimmten, willkürlich gewählten Anzahl, ihr Selbsteintrittsrecht ausübe und in anderen Fällen nicht. Vielmehr habe sich die Antragsgegnerin durch die vorgelegte Verfahrensregelung festgelegt, diese Verfahren durch Ausübung des Selbsteintrittsrechts zu beenden. Das Ermessen der Antragsgegnerin hinsichtlich der Ausübung des Selbsteintrittsrechts sei deshalb hier auf null reduziert. Eine unterschiedliche Behandlung dieser Verfahren würde gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen.
Dieses Schreiben wurde ebenfalls dem Bundesamt übersandt, auch hierzu erfolgte keine Äußerung des Bundesamts.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der nach § 34a Abs. 2 AsylG i. V. m. § 80 Abs. 5 VwGO statthafte Antrag, der darauf gerichtet ist, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die in Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamts vom 27. April 2015 angeordnete Abschiebungsanordnung anzuordnen, ist zulässig.
Er ist insbesondere fristgerecht gestellt worden. Nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG sind Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die Abschiebungsanordnung innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Der Bescheid war vor dem Tag des Eingangs bei Gericht weder dem Antragsteller, noch seinem Bevollmächtigten bekannt gegeben worden. Der Antragsteller musste den erfolglosen Zustellversuch vom 4. Mai 2015 nicht gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 AsylG gegen sich gelten lassen. Denn der Bevollmächtigte des Antragstellers hatte seine Vertretung des Antragstellers unter Vorlage einer schriftlichen Vollmacht bereits im November 2014 beim Bundesamt angezeigt, so dass bereits die Benachrichtigung von der Anhörung vom 8. Januar 2015 an den Bevollmächtigten gesandt worden war.
Der Antrag ist auch begründet.
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Fall des hier einschlägigen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung, bei der es eine Abwägung trifft zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des ablehnenden Bescheids, wie es der Regelung des § 75 Abs. 1 AsylG zugrunde liegt, und dem Interesse des jeweiligen Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Wesentliches Element dieser Interessenabwägung ist die Erfolgsaussicht des Hauptsacheverfahrens. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO allein mögliche, aber auch ausreichende summarische Prüfung, dass die Klage voraussichtlich erfolglos bleiben wird, hat das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurückzutreten. Erweist sich der Bescheid bei dieser Prüfung dagegen als rechtswidrig, besteht kein Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens als offen zu beurteilen, verbleibt es bei einer allgemeinen Interessenabwägung.
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe geht die Interessenabwägung zugunsten des Antragstellers aus, da die Erfolgsaussichten der Klage gegen die Abschiebungsanordnung als offen zu beurteilen sind. Maßgebend für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage sind die Verhältnisse im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts, § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Nach § 27a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrags für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt, wenn ein Ausländer in einen sicheren Drittstaat oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
Im vorliegenden Fall sprechen nach derzeitigem Erkenntnisstand gute Gründe dafür, dass die Antragsgegnerin im weiteren Verfahrensverlauf das Übernahmeersuchen zurückziehen und das Asylverfahren in eigener Zuständigkeit behandeln wird. Der Bevollmächtigte des Antragstellers hat hierzu einen entsprechenden Vermerk, der die von ihm behauptete Weisungslage bestätigt vorgelegt. Die Antragsgegnerin hat das Bestehen dieser Weisungslage nicht in Abrede gestellt. Auch dem Gericht ist nichts Gegenteiliges bekannt. Nach dem Wortlaut des Vermerks erstreckt sich diese Weisungslage auch auf diejenigen syrischen Staatsangehörigen, die – wie der Antragsteller – nicht aus einem von Bürgerkriegshandlungen betroffenen Gebiet des syrischen Staates stammen. Sollte die Antragsgegnerin das Übernahmeersuchen nicht zurückziehen, wäre zu prüfen, inwieweit die behauptete Weisungslage tatsächlich bestanden hat und ggf., inwieweit deren Nichtanwendung im Fall des Antragstellers gegen das Grundrecht auf Gleichbehandlung verstößt.
Aus diesem Grund sind die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens derzeit jedenfalls als offen anzusehen, so dass das dem Aussetzungsinteresse des Antragstellers der Vorrang gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsanordnung einzuräumen ist. Sollte sich künftig hinsichtlich der bestandenen Weisungslage ein anderer Sachstand ergeben, bestehen die Möglichkeiten des § 80 Abs. 7 VwGO.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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